Von Ralph Rückert, Tierarzt, Ulm, und Claus Meyer, Tierarzt, Mönchengladbach
Wurzelkanalbehandlungen bei Hunden und Katzen? Sicher irgendwie ein Nischenthema, das viele Besitzer:innen naturgemäß erst genau dann interessiert, wenn sich der Hund oder die Katze einen Zahn abgebrochen hat und sich die dringende Frage stellt: Zahnextraktion oder Wurzelbehandlung (evtl. kombiniert mit einer Überkronung)? Da aber solche Zahnfrakturen bei beiden Tierarten gar nicht so selten vorkommen, macht es wohl Sinn, sich mal vorab ein paar Gedanken zu machen.
Ich rate aus den in diesem Artikel zu erläuternden Gründen Tierbesitzer:innen schon seit vielen Jahren von Wurzelkanalbehandlungen ab und empfehle – von absoluten Ausnahmen abgesehen – viel eher die Extraktion des beschädigten Zahnes. Mit diesem Standpunkt habe ich mich immer recht alleine gefühlt, sozusagen als Vertreter einer mehr oder weniger exotischen und überpingeligen Denkweise.
Dann kam mein sehr geschätzter Kollege Claus Meyer und sein Posting zu diesem Thema in einer tiermedizinischen Fachgruppe. Claus praktiziert in seiner Praxis in Mönchengladbach Tierzahnmedizin auf höchstem Niveau, hat in Sachen Wurzelkanalbehandlung genau die gleiche Meinung wie ich und ist zu meiner großen Freude für diesen Artikel mein Co-Autor.
Das CT-Bild oben hat Claus Meyer angefertigt. Es zeigt eine so richtig grausig (und von Anfang an!) verkorkste Wurzelfüllung, die dem betroffenen Hund für lange Zeit sehr schlimme Beschwerden eingebrockt hat.
Claus schreibt dazu:
„Über Sinn und Unsinn endodontischer Behandlungen (Anmerkung: Wurzelbehandlungen)
So, wie versprochen: Ein Zahn-/HNO-Fall von gestern. Terrier, 7 Jahre, munteres Bürschchen, fasst sich immer wieder mit der Pfote an die Nase, Besitzerin vermutet ein Problem mit dem vor Jahren endodontisch behandelten (und NICHT nachkontrollierten) Caninus (204) (Anmerkung: Linker oberer Eckzahn). Dentales Röntgen zeigte zwar den völlig verbaselten Guttapercha (Anmerkung: Wurzelfüllmaterial), ließ aber keine Aussage über den apikalen Anteil (Anmerkung: Wurzelspitze) des Zahnes und dessen Umgebung zu. Das heißt, auch wenn nachkontrolliert worden wäre (was nicht geschah) -> dieses Problem wäre nicht erkannt worden! Der Hund ist damit laaange Zeit herumgelaufen, bis es den kleinen Krieger dann doch schmerztechnisch übermannte und er Frauchen endlich Symptome gezeigt hat…. ! Aus meiner Sicht wieder einer der Fälle, die uns klar aufzeigen: Wir dürfen keine endodontischen Behandlungen durchführen, denn wir sind meist nicht in der Lage, erstens die Indikation klar und sicher zu stellen und zweitens das Ergebnis sicher zu monitoren. Will man einem Patienten nicht fahrlässig dauerhaft Schmerz und Schaden zumuten, dann darf man das nicht tun…“
Wir stehen da vor einem ganz grundsätzlichen, in der Öffentlichkeit aber kaum bekannten Problem: Wurzelbehandlungen haben eine Misserfolgsquote, die man bei jedem anderen Routineeingriff irgendwo am Körper als völlig inakzeptabel einstufen würde. Selbst absolut von sich überzeugte und hochgradig auf Endodontie, also Wurzelbehandlungen, spezialisierte Humanzahnärzte reklamieren – wenn sie nicht schiefe Blicke ihrer Kolleg:innen ernten wollen – sicher keine Erfolgsquote von über 90 Prozent. Es gibt aber auch statistische Auswertungen und wissenschaftliche Veröffentlichungen, die eine ganz andere Sprache sprechen und viel niedrigere Erfolgsquoten bis runter zu gerade mal 60 Prozent beziffern.
Nun gut, das ist nicht wirklich berauschend, aber beim Menschen kann man es ja trotzdem drauf ankommen lassen, weil der halt sofort wieder auf der Matte steht, wenn der Misserfolg der Maßnahme durch anhaltende Beschwerden klar zum Ausdruck kommt. Der Sprache mächtige Patienten berichten einzeln oder in Kombination von unspezifischen Schmerzen, von Aufbissschmerz, von Druckgefühl im Bereich der Zahnwurzel oder von Problemen beim Kontakt mit kalten oder warmen Speisen oder Getränken. Auch kommt es vor, dass Patienten das Gefühl haben, der betroffene Zahn wäre verlängert oder würde ein kleines Stück aus dem Zahnfach hervorstehen, dann oft mit Aufbissschmerz. Aber entdecken Sie mal solche chronischen und eher diskreten Beschwerden bei Ihrem Hund oder gar bei Ihrer Katze! Bis Tiere wirkliche Zeichen des Unwohlseins erkennen lassen wie der Terrier aus obigem Beispielfall, müssen schon ziemlich hochgradige Schmerzen vorliegen, die wir Menschen ohne starke Schmerzmittel nicht einen Tag tolerieren könnten.
Mit einer Wahrscheinlichkeit irgendwo zwischen beträchtlich und bestürzend besteht also die Gefahr, dass eine Wurzelbehandlung krachend misslingt und anhaltende oder gar neue Beschwerden auslöst. Darauf, dass das Tier uns diese Beschwerden irgendwann und irgendwie anzeigt, können wir uns absolut nicht verlassen. Wie können wir den Erfolg oder Misserfolg einer Wurzelbehandlung aber sonst absichern? Offizielle Antwort, wie sie in jedem Lehrbuch der Tierzahnmedizin steht: Durch mehrfaches Nachröntgen in bestimmten Zeitabständen! Damit erhofft man sich, anhaltende oder neu entstehende entzündliche Reaktionen um den behandelten Zahn herum als Zeichen des Misserfolgs erkennen zu können.
Also alles gut? Mitnichten! Auch wenn wir diese fachlich korrekten Handlungsanweisungen peinlich genau befolgen wollen, haben wir es gleich wieder mit einer ganzen Latte annähernd unüberwindlicher Probleme zu tun. Erstens fehlt es bezüglich dieser Röntgenkontrollen gern mal an der Compliance der Besitzer:innen. Man kann es ja selbst als Tierarzt ein Stück weit nachvollziehen: Da hat man echt ordentlich Geld (alles in allem sicher im vierstelligen Bereich!) auf den Tisch gelegt, um den beschädigten Fang- oder Reißzahn seines Hundes per Wurzelbehandlung zu erhalten, und jetzt soll das noch x-mal nachgeröntgt werden, natürlich jedes mal in Narkose und für nochmal Hunderte von Euro mehr! Da kann man schon mal ins Prokrastinieren verfallen und es am Ende ganz vergessen! Ganz schlechte Nachrichten für den Hund, der deshalb über Monate und Jahre schwer leiden muss!
Zweitens stellen sich – ähnlich wie bei den technisch durchaus möglichen Zahnimplantaten für Tiere – ethische bzw. tierschutzrechtliche Fragen: Ist es angemessen, einem Hund oder einer Katze drei, vier, fünf zusätzliche Narkosen (im Vergleich zur sofortigen Extraktion) zuzumuten, um einen Zahn zu erhalten, dessen Verlust für das Tier eigentlich locker zu verkraften wäre? Man muss dazu wissen, dass beim Tier im Gegensatz zum Menschen nicht gleich das halbe Gebiss wegen eines fehlenden Zahns in Schieflage gerät.
Drittens haben wir selbst bei perfekter Compliance der Besitzer:innen ein ganz gravierendes Problem mit dem Monitoring, also mit der Erfolgskontrolle einer Wurzelfüllung durch dentales Röntgen. Wie aktuell gerade auf den Markt gekommene Verfahren wie das von Claus betriebene Cone-Beam-CT immer wieder beweisen, ist dentales Röntgen nicht wirklich geeignet, ein eventuell vorhandenes Problem mit einer Wurzelfüllung bei einem Patienten, der sich uns nicht mitteilen kann, sicher auszuschließen, sprich: Sehen wir im Röntgenbild bestimmte Veränderungen, können wir zwar sicher sagen, dass da ein Problem ist. Sehen wir aber keine dieser Veränderungen, beweist das beileibe NICHT, dass da kein Problem wäre. Nach so einer Röntgenkontrolle, bei der man keine auffälligen Befunde gesehen hat, freudig zum Besitzer zu sagen, das alles gut wäre, ist genau genommen ziemlich vermessen.
Diese Tatsachen, kombiniert mit der zumindest für die Humanzahnmedizin trotz hochgradiger Spezialisierung statistisch belegbaren Misserfolgsquote und der eigentlich ziemlich realistischen Befürchtung, dass diese Quote in der Tierzahnmedizin aufgrund des viel niedrigeren Spezialisierungsgrades noch wesentlich schlechter ausfallen dürfte, lassen zumindest bei uns beiden schwere Zweifel an der Sinnhaltigkeit und Tierschutzgerechtigkeit einer Zahnwurzelbehandlung bei Hund und Katze aufkommen. Ist es wirklich ethisch vertretbar, eine solche Behandlung durchzuführen, vielleicht nur auf Wunsch der Besitzer oder auf den eigenen, vielleicht ein bisschen eitlen Wunsch hin, eine solche Behandlung anbieten zu können, und das ohne funktionelle Notwendigkeit, denn zu einer Verschiebung der benachbarten Zähne wie bei Homo sapiens würde es ja nicht kommen? Wir meinen: Nein! Und wir raten deshalb beide – wie schon weiter oben erwähnt – in den allermeisten Fällen und von ganz eng begrenzten Ausnahmen abgesehen bei frakturierten bzw. schon infizierten Zähnen zur Extraktion und nicht zur Wurzelbehandlung.
Wir erwarten absolut nicht, dass alle zahnmedizinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen, die auch Endodontie anbieten, dieser unserer Meinung zustimmen. Was man aber nach unserer Auffassung sehr wohl erwarten kann, ist eine schonungslos realistische Aufklärung der Patientenbesitzer:innen, ohne jeden Zweckoptimismus bezüglich der Erfolgsquote und mit einer klaren Darstellung des Leidens, das durch einen Misserfolg leider verursacht werden kann, damit diese zu einer wirklich informierten Entscheidung finden können.
Wenn Ihr Hund oder Ihre Katze sich noch nie einen Zahn beschädigt hat, kann Ihnen dieser Artikel erst mal völlig egal sein. Sie sollten ihn sich aber irgendwie markieren oder abspeichern, damit Sie ihn bei Bedarf, wenn es halt doch irgendwann und irgendwie passiert ist, nochmal durchlesen können, bevor Sie entscheiden, was mit dem kaputten Zahn passieren soll.
Und wenn jemand in der Social-Media-Diskussion des Artikels kommentieren sollte, dass sein Hund schon vor Monaten oder Jahren eine Wurzelfüllung bekommen hätte und alles in Ordnung wäre, dann können wir nur gleich mal prophylaktisch anmerken: Das wissen Sie eben leider nicht, ob da wirklich alles in Ordnung ist! Und genau das ist das Problem!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,
Ihr Ralph Rückert, Ihr Claus Meyer
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm, und Tierärztliche Kleintierpraxis Claus Meyer, Reststrauch 187, 41199 Mönchengladbach
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