Wieder ein Schlachthofskandal und ein Berufsstand als Sündenbock

Wieder ein Schlachthofskandal und ein Berufsstand als Sündenbock

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Vor ein paar Tagen wurde von der Tierrechtsorganisation Aninova ein neuer Schlachthofskandal öffentlich gemacht. Videoaufnahmen aus dem Schlachthof Elsfleth bei Oldenburg (Niedersachsen) zeigen einem Kurzgutachten der „Tierärzte für verantwortbare Landwirtschaft e.V.“ zufolge absolut unhaltbare Zustände in allen Bereichen. Der Schlachthof wurde inzwischen geschlossen.

Viel besser als das nachträgliche Schließen eines Betriebes, der – nach dem Videomaterial zu schließen – wohl schon lange und gewohnheitsmäßig gegen alle möglichen Regelungen verstoßen hat, wären natürlich wirklich funktionierende Kontrollmechanismen, die zuverlässig verhindern würden, dass solche Zustände überhaupt entstehen können. Dass wir derartige Kontrollmechanismen schlicht nicht haben (oder nicht haben wollen?), kann man aus der reinen Zahl von Schlachtbetrieben ersehen, in denen Tierrechtsorganisationen immer wieder schlimme bis grauenhafte Zustände aufdecken. Man kann also mit Fug und Recht von einem kompletten Systemversagen reden.

Ein wichtiger Teil der existierenden und offenbar in vielen Fällen einfach nicht funktionierenden Kontrollmechanismen sind Tierärztinnen und Tierärzte. Der Reflex, mit dem Finger auf diese Kolleginnen und Kollegen zu zeigen und ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben, ist ein Stück weit nachvollziehbar, speziell bei Menschen, die außerhalb des Systems stehen, also im Prinzip keine Ahnung haben, was da intern abläuft. Trotzdem haben mich in den letzten Tagen zwei Einlassungen so weit getriggert, dass ich jetzt diesen Text schreibe. Zum einen ist das ein Zitat von der Website der „Soko Tierschutz“, über das ich eher zufällig gestolpert bin und das ich schon im letzten Artikel angesprochen habe, zum anderen die zentrale Aussage meines geschätzten Kollegen Dr. Karim Montasser (der Youtubetierarzt) zu dem neuen Schlachthofskandal.

Die Soko Tierschutz schreibt:

„Bei Ärzten für Menschen gibt es den hippokratischen Eid. Bei Tieren ist man davon weit entfernt. Tierärzte sind all zu oft willige Handlanger der Tierquälerei.“

Dieses Zitat finde ich gleich auf mehreren Ebenen ärgerlich. Wie schon erläutert, ist die Behauptung, dass Humanmediziner:innen einen Eid leisten würden, völlig falsch, schon gar nicht den aus der Antike stammenden und damit buchstäblich völlig aus der Zeit gefallenen Hippokratischen Eid. Wäre es aber so, müsste man sich doch sofort fragen, was so ein Eid denn besser gemacht hätte oder machen würde. Hätte er einen Josef Mengele, einen Viktor Brack, einen Karl Brandt, eine Herta Oberheuser verhindert? Oder solche Ärzte, die sich an sedierten oder narkotisierten Patientinnen vergehen? Oder die, die das Gesundheitssystem durch Kassenbetrug plündern? Wohl eher nicht! Fakt ist halt: Wo immer Menschen sind und arbeiten, gibt es unter ihnen auch graue, schwarze und rabenschwarze Schafe, irgendwelche Eide, Gesetze oder Vorschriften hin oder her. Und dann steht da noch „willige Handlanger“. Wie willig diese zweifellos immer wieder nachweisbaren Handlangungen zugunsten der Fleischindustrie wirklich sind, ist eine entscheidende Frage, die ich weiter unten diskutieren werde.

Dr. Montasser, dessen Arbeit als tiermedizinischer Social-Media-Content-Creator ich zu großen Teilen sehr schätze, hat sich zu der Aufdeckung der Zustände am Schlachthof Elsfleth natürlich ebenfalls geäußert. Er sagt unter anderem:

„Warum muss Aninova das machen? Das kann doch nicht sein! Ich habe mich da gestern schon zu geäußert, dass es unser Job als Tierärztin und Tierärzte sein sollte, genau diese Rolle zu übernehmen, wenn etwas schief läuft. Wenn Tierschutzfälle ganz massiv auftreten in Schlachthöfen, dann ist es unser Job (Anmerkung: Er zeigt dabei auf seine Brust), da einzugreifen und als Erstinstanz für die Tiere einzustehen.“

Karim Montasser ist Tierarzt. Er hat also wie wir alle im Rahmen des verpflichtenden Praktikums schon mal einen Schlachthof von innen gesehen. Genau das beschreibt er auch in einem anderen Video. Dort erwähnt er, dass er den Aufenthalt ganz vorne an den Treibgängen des Schlachthofes nur einen Tag lang ertragen und nach den drei Wochen des Praktikums eine psychotherapeutische Behandlung gebraucht hat, um seine Erlebnisse verarbeiten zu können. Ich kann das auf der Basis meiner eigenen Erfahrungen durchaus nachvollziehen. Ich habe aber ein Problem damit, wenn der Kollege nun so pauschal und im Stil so vieler anderer Sofa-Helden raushaut, was „unser“ Job sein soll. Sorry, aber das kommt mir halt so vor, wie wenn ein Soldat, der beim ersten Platzpatronen-Manöver ein Posttraumatisches Stresssyndrom erleidet, danach seine Kameraden an der echten und blutigen Front streng zu mehr Tapferkeit ermahnt.

Man kann aus dieser Ermahnung eines YouTube-Tierarztes ziemlich schnell die Luft rauslassen, wenn man sich diesen Kommentar einer Amtstierärztin durchliest:

„Ich möchte aber noch etwas erläutern, was die meisten Tierschützer, die hier lauthals pöbeln und selbst noch nie einen Schlachthof von innen gesehen haben, nicht unbedingt wissen. Das Arbeitsklima in den meisten Schlachthöfen ist gelinde gesagt grob. Die Arbeit ist nichts für feine Gemüter und dementsprechend abgestumpft muss man als Mitarbeiter in einem Schlachthof sein, um Blut, Gestank, Angst der Tiere, etc. tagtäglich verkraften zu können. Jetzt stellen Sie sich bitte vor, Sie wären die einzige Frau unter all diesen Männern. Stellen Sie sich vor, Sie bekommen täglich Drohungen, dass Ihnen was zustoßen kann, wenn Sie als amtlicher Tierarzt die Schlachtlinie anhalten. Da fallen ganz zufällig schwere Metallhaken neben Ihnen von der Decke. Da werden Sie in einer dunklen Ecke gewürgt oder begrapscht. Sie sind eine gegen viele. Die vielen sind stärker als Sie.“

Ich war noch nie in so einer Lage, wie sie die Kollegin schildert. Ich kann sie mir aber sehr lebhaft vorstellen. Sehr viele von uns sind im Praktikum gleich am ersten Tag, sozusagen zur Einstimmung, von hinten mit Schlachtabfällen beworfen worden. Es wurde einem ganz schnell klar gemacht, dass man als Tierarzt der natürliche Feind der Schlachter ist. Eine im Akkord arbeitende, minimal bezahlte und aus Osteuropa importierte Schlachterkolonne dürfte für eine Kollegin so ziemlich das sexistischste und brutalste Umfeld darstellen, wenn es darum geht, etwas zu bemängeln und sich durchzusetzen.

Was fällt einem da noch ein? Vielleicht unser belgischer Kollege und Amtstierarzt Karel van Noppen, der wegen seiner Ermittlungen gegen die belgische Fleischmafia 1995 von Auftragskillern erschossen wurde? Seine Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls reihenweise Morddrohungen erhielten? Oder die komplette berufliche Demontage von Kollege Dr. Hermann Focke, der seinerzeit als Leiter des Veterinäramts Cloppenburg (nur 60 km von Elsfleth entfernt) durch Verfolgung von Tiertransporten in seiner Freizeit unsägliche Grausamkeiten aufdeckte? Oder eine nordrhein-westfälische Statistik von 2010, die 127 dokumentierte Bedrohungen (von Verbalattacken über Morddrohungen bis hin zu echten Körperverletzungen) gegen Veterinäramtsmitarbeiter:innen auflistete? Oder die banale Tatsache, dass die allermeisten Veterinärämter die ihnen übertragenen Aufgaben aufgrund eines (politisch gewollt?) viel zu geringen Personalbestandes beim besten Willen gar nicht mehr erfüllen können?

Selbst wenn wir sofort zugestehen, dass jeder Berufsstand auch seine Faulenzer, seine Drückeberger, seine Bestechlichen und seine Verbrecher hat, finde ich es doch extrem kurz gesprungen und gedacht, die Kolleginnen und Kollegen, die an Schlachthöfen ihren wirklich harten Job machen, einfach zu mehr Engagement und Mut aufzurufen, ohne selbst je in der Lage gewesen zu sein, seine Gesundheit oder seine Existenz für ein hehres Ideal aufs Spiel setzen zu müssen.

Wenn man in Bezug auf die Fleischindustrie von Systemversagen spricht, dann sollte man auch anerkennen, dass das System genau darauf ausgelegt ist, den dort tätigen Kolleginnen und Kollegen jeglichen Eingriff zugunsten der Tiere so schwer wie möglich zu machen. Meiner Meinung nach ist das so gewollt. Die (wahlberechtigten!) Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen schließlich dringend weiterhin jeden Sommer tonnenweise ihre vormarinierten Gammelnackensteaks für unter zehn Euro das Kilo auf dem Grill. Dr. Focke wurde damals von Vorgesetzten bis rauf zur Ministeriumsebene mundtot gemacht, weil diese unsäglichen Langstrecken-Tiertransporte von der Politik für dringend nötig erachtet wurden. Enorm häufig gibt es bei Fleischbetrieben oder -konzernen, die ja auch große Steuerzahler und Arbeitgeber sind, intensive Verflechtungen zur Politik auf verschiedenen Ebenen. Wird man da als Veterinäramtsmitarbeiter:in durch zu großen Tierschutzeifer auffällig, riskiert man wohl ganz schnell mal seine gesamte Karriere oder auch – ganz banal – seine Versetzung, was durchaus auch auf eine persönliche Katastrophe rauslaufen kann.

Es gefällt mir genau so wenig wie Kollege Montasser, aber im Gegensatz zu ihm kann ich es durchaus verstehen, wenn man da dann halt doch irgendwann den Kopf einzieht und sich mit dem System irgendwie arrangiert. Darüber zu urteilen oder von „willigen Handlangern“ zu reden, steht aber Leuten, die sich noch nie in so einer Situation befunden haben, nicht mal ansatzweise zu Gesicht. Wenn man dieses grausige System der industriellen Fleischerzeugung wirklich ändern wollte, dann müsste man da ganz anders ansetzen als durch kollektives Einprügeln auf die Kolleginnen und Kollegen vom Amt als Sündenböcke.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

 

© Ralph Rückert

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