Von Ralph Rückert, Tierarzt
Gehen wir mal etwas näher darauf ein, was ein Notfall ist und ganz nebenbei auch darauf, wie man als Besitzer den Zustand seines Tieres halbwegs zutreffend einschätzen kann.
Dieses Thema hat durch die aktuelle tiermedizinische Notdienstkrise deutlich an Brisanz gewonnen, weshalb ich diesen eigentlich über sieben Jahre alten Artikel wieder ausgegraben und überarbeitet habe. Seit kurzem ist nämlich auch ein Info-Faltblatt der Bundestierärztekammer (BTK) mit dem Titel „Schnelle Hilfe für Hund, Katze & Co.“ erhältlich, in dem unter anderem ebenfalls erläutert wird, was einen echten Notfall darstellt.
Wie in mehreren anderen Artikeln erläutert, ist die tiermedizinische Notdienstversorgung aus verschiedenen Gründen je nach Region entweder gerade noch so halbwegs gewährleistet oder aber schon völlig in sich zusammengebrochen, so dass Tierbesitzer mit einem echten Notfall oft eine Stunde oder mehr fahren müssen, um Hilfe zu finden.
Nun berichten die Praxen und Kliniken, die sich verzweifelt bemühen, das Ganze irgendwie am Laufen zu halten, übereinstimmend, dass eine enorme personelle und zeitliche Belastung nicht zuletzt dadurch entsteht, dass der Notdienst zu einem hohen Prozentsatz (50 % und mehr?) für Probleme in Anspruch genommen wird, die man beim besten Willen nicht als Notfall bezeichnen kann. Also tut Aufklärung offenbar not.
Gehen wir es an! Zuerst ganz allgemein: In den meisten Fällen ist es für uns bei der Annahme eines Notrufes wichtig, den allgemeinen Zustand Ihres Tieres möglichst genau einschätzen zu können. Seien Sie deshalb bitte auf Rückfragen von uns gefasst, wie zum Beispiel: Was ist wann passiert? Ist Ihr Tier noch ansprechbar bzw. geh- und stehfähig? Wann war die letzte Futteraufnahme? Wie ist die Farbe des Zahnfleisches über den Eckzähnen? Rot, rosa, blassrosa, weißlich oder bläulich? Haben Sie Harn- und Kotabsatz beobachten können? Wie ist die Körpertemperatur (ja, Ihr Tier sollte gelernt haben, sich von Ihnen Fieber messen zu lassen!), die Atemfrequenz? Ist der Durchfall breiig oder wässrig? Welche Farbe hat der Kot, etc.. Diese Fragen helfen uns dabei, Ihren Notruf richtig einordnen und eventuell zeitsparende Vorbereitungen treffen zu können.
Lassen Sie uns doch zusammen eine lockere und nicht abschließende Auflistung der häufigsten Probleme durchgehen, die nach unserer Erfahrung zu Notrufen in der Nacht oder am Wochenende führen, und damit auch die Notfalldefinition des BTK-Flyers deutlich erweitern. Ich bin mir natürlich bewusst, dass man das Thema in einem Blog-Artikel bei weitem ausführlicher erörtern kann als in einem Info-Faltblatt. Trotzdem ist die Auflistung der BTK nach meiner Auffassung ganz klar zu kurz geraten, was bei Tierbesitzern im Fall der Fälle doch zu beträchtlicher Verunsicherung führen könnte.
Bewusstseinsverlust, plötzlicher Zusammenbruch:
Dabei handelt es sich natürlich immer um einen dringenden Notfall. Rufen Sie schleunigst an!
Verkehrsunfall:
Werden ein Hund oder eine Katze von einem Fahrzeug angefahren, ist das eigentlich immer ein Notfall. Nicht alle vorstellbaren inneren Verletzungen äußern sich sofort durch auch für Laien unmissverständliche Symptome. Deswegen will ich hier nicht differenzieren zwischen „leichten“ und „schweren“ Verkehrsunfällen, wie es die BTK macht. Rufen Sie auf jeden Fall an!
Sonderfall „abgestürzte Katze“:
Auch Katzen, die geborenen Balancier-Künstler, stürzen gelegentlich von Balkonen oder Fenstersimsen in die Tiefe. Eine solche Sturz-Katze muss auf jeden Fall tierärztlich untersucht werden, auch wenn sie äußerlich unverletzt wirkt. Bei Abstürzen kommt es nicht selten zu schweren inneren Verletzungen, die dann mit Zeitverzögerung zu ernsten Konsequenzen führen können. Aber auch wenn die Katze Glück hatte und keine Organe oder Knochen beschädigt worden sind, so hat sie doch mehrfache Prellungen und Stauchungen, die wenigstens mit einem Schmerzmittel behandelt werden sollten. Rufen Sie bitte an!
Das Kippfenster-Syndrom:
Katzen sind hartnäckige und eigensinnige Tiere. Wenn der einzige Weg nach drinnen oder draußen ein gekipptes Fenster ist, versuchen Katzen gerne, ob man da nicht vielleicht durchkommt. Wenn das schief geht, rutscht die Katze in den sich nach unten verjüngenden Spalt des Fensters, und zwar um so tiefer, je mehr sie in Panik zappelt. Dabei werden speziell die Nieren und die die Beine versorgenden Nerven gequetscht, bis hin zum Nierenversagen oder zu schwersten Lähmungserscheinungen. Außerdem hat eine solcherart verunglückte Katze schreckliche Schmerzen. Das ist ein absoluter Notfall. Rufen Sie bitte an!
Lahmheit (Hinken):
Ihre Katze kommt von draußen rein und hinkt oder Ihr Hund hat wild mit einem Kumpel gespielt und hinkt ebenfalls: Als erstes stellt sich die Frage, wie stark das Hinken ist. Wenn die Pfote gar nicht mehr aufgesetzt wird oder nur noch minimal auftippt, ist das eine hochgradige Lahmheit, die in der Regel auf starke Schmerzen hindeutet. Je mehr das Bein belastet wird, desto weniger dramatisch ist die Verletzung in der Regel. Unabhängig davon gilt es natürlich, auf offene Wunden oder völlig abnorme Bein- und Pfotenstellungen zu achten. Diese stellen immer einen Notfall dar. Ansonsten kann man durchaus für ein, zwei Stunden abwarten und dabei beobachten, ob die Lahmheit sich in dieser Zeit bessert. Wenn ja, dann haben Sie es meist mit einer leichten Verletzung (Umknicker, Zerrung, Insektenstich) zu tun und können weiter abwarten, ob es innerhalb kurzer Zeit zur Selbstheilung kommt. Bessert sich die Lahmheit nicht oder wird gar schlimmer, müssen Sie davon ausgehen, dass Ihr Tier anhaltende Schmerzen hat, und da können und wollen wir helfen. Rufen Sie bitte an!
Offene, klaffende Wunden:
Wunden können auf vielfältigste Weise entstehen (Biss, Glasscherben, Äste, Stöckchen, etc.) und sind mit Ausnahme von oberflächlichen Kratzern und Abschürfungen fast immer ein Notfall. Das liegt unter anderem daran, dass Hautwunden möglichst frisch versorgt werden sollten. Oft befinden sich auch Fremdkörper (Haare, Holzsplitter, Steinchen und ähnliches) in der Wunde, die eine Infektion mit verstreichender Zeit immer wahrscheinlicher werden lassen. Bisswunden müssen grundsätzlich tiermedizinisch behandelt werden, da sich das wahre Ausmaß der Verletzung von außen gar nicht beurteilen lässt. Rufen Sie bitte an!
Offene oder geschlossene Abszesse:
Mit Abszessen (Definition: Eiteransammlungen in nicht präformierten Körperhöhlen, speziell bei Katzen meist in Folge einer schon Tage zuvor erlittenen Kampfverletzung) ist es ein bisschen schwierig mit dem Einstufen der Dringlichkeit. Einerseits könnte man rein medizinisch argumentieren, dass von einem (eventuell schon offenen) Abszess keine echte Lebensgefahr ausgeht. Andererseits gibt es halt auch sowas wie einen subjektiven Notfall: Es wäre von Tierbesitzern schon arg viel verlangt, einer riesigen Schwellung oder einem permanent Eiter absondernden Loch im Pelz ungerührt bis Montagmorgen zuzuschauen, ohne Notfallhilfe zu suchen. Rufen Sie also in so einem Fall an! Unser Verständnis haben Sie.
Durchfall und Erbrechen:
Wenn Ihr Tier Durchfall hat, ist das meist kein Notfall, auch wenn sich Spuren von Blut im Kot finden. Letzteres ist beim Fleischfresser recht häufig und nicht so beunruhigend wie beim Menschen. Bei schwerem Durchfall, der auch in der Wohnung abgesetzt wird, müssen Sie zwar nicht nachts anrufen, aber auch nicht von Freitagabend bis Montagmorgen abwarten. Ganz anders sieht es bei wiederholtem (!) Erbrechen oder Brechdurchfall aus. In diesem Fall kann das Tier die entstehenden Flüssigkeitsverluste nicht mehr ausgleichen und kommt deshalb schnell in echte Schwierigkeiten. Wenn sofortige Nulldiät nicht zur Beendigung des Erbrechens führt und auch Wasser nicht bei sich behalten wird, so ist das ein echter Notfall. Rufen Sie bitte an!
Fremdkörper und beobachtete Giftaufnahme:
Fremdkörper können abgeschluckt werden, sich aber auch in den Augen, den Gehörgängen, der Nase, der Luftröhre und der Lunge befinden. Fremdkörper sind eigentlich fast ausnahmslos schmerzhaft und/oder gefährlich. Bei nachweisbarer Giftaufnahme pressiert es so richtig. Rufen Sie bitte an!
Verbrühungen und Verbrennungen:
Sind (schon aufgrund der dabei immer vorhandenen starken Schmerzen) grundsätzlich ein Notfall. Rufen Sie bitte an!
Sonderfall „abgebrochener Zahn“:
Für den Tierzahnarzt ist es wichtig, dass ein abgebrochener (frakturierter) Zahn baldmöglichst versorgt werden kann. So etwas ist sicher kein Nachtnotfall, ein Notruf am Samstag oder Sonntag (tagsüber!) ist aber durchaus berechtigt. Bei offen liegendem Wurzelkanal läuft einem die Zeit weg; oft kann der Zahn schon zwölf Stunden nach der Verletzung nicht mehr am Leben gehalten werden. Durch Gewalteinwirkung (Unfall, Beißerei) luxierte, also gelockerte oder gar ausgeschlagene Zähne stellen einen Sofort-Notfall dar. Bringen Sie ausgeschlagene Zähne in ein sauberes Tuch verpackt mit in die Praxis, denn unter bestimmten Voraussetzungen können sie erfolgreich wieder eingesetzt werden. Rufen Sie bitte an! Eine Einschränkung: Über diesen Punkt kann man trefflich streiten. Keineswegs jede Praxis ist zur Versorgung solcher Zahn-Notfälle in der Lage. Und oft ist es gerade am Wochenende oder bei Nacht sehr problematisch, irgendwelche Zahnspezialisten zu aktivieren. Da muss man also auch Glück haben.
Lähmungen und Koordinationsstörungen:
Wenn plötzlich Hinter- oder Vorderbeine nicht mehr richtig funktionieren, der Kopf nicht mehr gerade gehalten werden kann oder das Tier taumelt, ist ein Notruf ohne Zögern angebracht, denn diese Erscheinungen haben eigentlich immer ernste Ursachen. Die einzige Ausnahme von dieser Regel ist ein epileptischer Anfall. Selbstverständlich können und sollten Sie anrufen, wenn Ihr Tier einen Krampfanfall hat, in der Regel geht der Anfall aber noch während des Telefongesprächs vorüber. Aber egal, rufen Sie bitte an!
Futterverweigerung beim Pflanzenfresser:
Nachlassender Appetit oder gar Futterverweigerung ist beim Pflanzenfresser ein viel ernsteres Symptom als bei den Fleisch- oder Allesfressern. Pflanzenfresser haben keine Reserven und geraten bereits innerhalb von ein, zwei Tagen in echte Schwierigkeiten. Das ist kein Nachtnotfall, aber auch nichts, was man von Freitag bis Montag beobachten könnte. Rufen Sie bitte an!
Unklare Störung des Allgemeinbefindens:
Sie haben das bestimmte Gefühl, dass es Ihrem Tier nicht gut geht, dass sein Allgemeinbefinden gestört ist, wie man im Fachjargon sagt. Diese Situation ist schwierig einzuschätzen, aber einige Voruntersuchungen können Sie trotzdem durchführen (lassen Sie sich die fachgerechte Durchführung bei Gelegenheit von uns zeigen). Inspizieren Sie als erstes das Zahnfleisch. Ist es blassrosa (Katzen) bis rosarot (Hunde), kann die Kreislaufsituation nicht sehr bedrohlich sein. Danach drücken Sie mit dem Finger kurz auf das Zahnfleisch über den oberen Eckzähnen, so dass ein weißer Fleck entsteht. Verschwindet dieser Fleck innerhalb von zwei Sekunden wieder, ist der Blutdruck Ihres Tieres annähernd in Ordnung. Zuletzt können Sie noch Fieber messen. Mit diesen Informationen gerüstet, macht es Sinn, die weitere Einschätzung des Falls uns zu überlassen. Rufen Sie bitte an!
Sonderfall „Akutes Abdomen“, zum Beispiel durch Magendrehung / Darmvolvulus:
Geht es Ihrem Tier (in der Regel Ihrem Hund) erkennbar beschissen, steht es mit hartem und eventuell aufgetriebenem Bauch rum, stöhnt und speichelt, dann ist das natürlich ein Notfall, und zwar mit der dringendste, den man sich vorstellen kann. Was dann zu tun ist, habe ich in einem eigenen Artikel beschrieben.
Wurm-, Floh- und Zeckenbefall:
Erstaunlich oft werden wir (sogar nachts!!!) angerufen, weil festgestellt wurde, dass das Haustier von Parasiten befallen worden ist. Um es ganz klar zu sagen: Das ist nicht gerechtfertigt! Wurm- und Flohbefall sollten durch regelmäßige antiparasitäre Vorsorge verhindert werden und stellen ganz sicher KEINEN Notfall dar. Eine Zecke sollten Sie selbst entfernen können; lassen Sie sich von uns zeigen, wie das geht. Wenn dabei ein Zeckenkopf in der Haut verbleibt, ist dies ebenfalls kein Nacht- oder Wochenendnotfall. Rufen Sie bitte erst am nächsten Arbeitstag an! Eine wichtige Ausnahme gibt es allerdings: Der Befall mit Fliegenmaden beim Kaninchen ist tatsächlich ein unmittelbarer Notfall!
Ganz allgemein machen Sie sich absolut keine Freunde und dürfen auch über unfreundliche Reaktionen nicht erstaunt sein, wenn Sie eine offensichtliche Erkrankung Ihres Tieres über Stunden oder Tage einfach laufen lassen und dann zu den Nachtstunden oder am Wochenende den Notdienst in Anspruch zu nehmen versuchen. Dieser Typ Tierbesitzer („unter der Woche habe ich keine Zeit bzw. was Besseres zu tun, also gehe ich halt am Samstag nach der Sportschau in die Klinik / zum Notdienst, weil die müssen sich ja kümmern“) ist in berufsinternen Diskussionen des Notdienstes die Reizfigur schlechthin. Solche Leute dürfen sich wirklich nicht wundern, wenn sie bei Präsentation der Rechnung das Opfer dessen werden, was eine befreundete Kollegin mal ganz treffend „unmittelbare finanzielle Lynchjustiz“ genannt hat.
Abschließend können wir das Thema natürlich auch humoristisch und ganz knapp angehen, wie es ein bekannter Cartoon aus der Humanmedizin tut:
Wann muss ich in die Notaufnahme?
1. Etwas ist ab, was dran sein sollte!
2. Etwas ist drin, was draußen sein sollte!
3. Etwas lässt sich bewegen, was fest sein sollte!
4. Es bewegt sich gar nichts mehr!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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