Von Ralph Rückert, Tierarzt
Neulich in einer Facebook-Gruppe: „Waren gestern beim Tierarzt. Tobi war plötzlich ganz seltsam apathisch, hat sich übergeben und gezittert, ganz schnell geatmet. Der Tierarzt hat gesagt, dass es wahrscheinlich Rattengift war und hat ihm mehrere Spritzen gegeben. Heute geht es ihm Gott sei Dank wieder gut.“ Rattengift? Also ein Cumarinderivat, ein Gerinnungshemmer? Diagnostiziert so ganz ohne den Nachweis von Blutungen und ohne Gerinnungstest??? Nö, ganz sicher nicht, zumindest nicht, wenn es dem Hund nach einmaliger Behandlung wieder ganz prima geht. Bei einer Cumarinvergiftung muss man nämlich über einige Tage behandeln, um den Patienten zu retten. Also: Fehldiagnose! Dass es dem Patienten besser geht, ist allein seinen Selbstheilungskräften und/oder der zufälligen Anwendung des richtigen Medikaments zu verdanken.
Fragt man die Pathologen, sagen sie recht übereinstimmend, dass über 95 Prozent der Tiere, die von Tierärzten mit der entsprechenden Verdachtsdiagnose zur Untersuchung eingeschickt werden, nicht an einer Vergiftung gestorben sind. Das würde bedeuten, dass wir es hierbei mit der häufigsten Fehldiagnose der Tiermedizin zu tun haben.
Woran liegt das? Zum einen herrscht heutzutage – nicht zuletzt aufgrund der Vernetzung der Tierhalter über die sozialen Medien – eine ausgewachsene Giftköderhysterie. Man kann bei ausreichend langer Verweildauer auf Facebook tatsächlich das Gefühl bekommen, dass man vor lauter Giftködern gar nicht mehr angstfrei mit seinem Hund spazieren gehen kann. Als Tierarzt, der schon seit dreißig Jahren im Geschäft ist, habe ich aber im Gegensatz dazu den klaren Eindruck, dass es heute deutlich weniger Vergiftungsfälle gibt als früher. Das würde auch mit der Tatsache zusammen passen, dass es inzwischen deutlich schwieriger ist, auf legalem Weg an effektive Gifte heran zu kommen, als noch vor 25 Jahren.
Dessen ungeachtet kann es sich kein Tierarzt leisten, NICHT in diese Richtung zu denken, wenn der Tierhalter – und sei es auch noch so vage – die Möglichkeit der Aufnahme einer unbekannten Substanz in den Raum stellt. Und dann ist es nicht mehr weit zum Tunnelblick, zum Scheuklappendenken, das jede andere Erklärungsmöglichkeit für das schlechte Befinden des Patienten zu seinem eventuellen Schaden außer Acht lässt.
Das an sich ist – wenn auch irgendwie nachvollziehbar – schon bedenklich genug. Dazu gesellt sich aber leider auch noch eine gewisse Attraktivität der Diagnose „Vergiftung“ für uns Tierärzte. Es gibt eine Unzahl von Krankheiten, die einen sogenannten perakuten Verlauf nehmen und damit das Befinden des Tieres innerhalb kürzester Zeit drastisch verschlechtern können. Bei sehr vielen dieser Erkrankungen steht man als Tierarzt vor dem Kunden und vor sich selbst in der Pflicht, die Sache schleunigst in den Griff zu bekommen. Nicht so bei einer Vergiftung: Ist der Vergiftungsverdacht erst mal geäußert, ist man als Tierarzt irgendwie fein raus. Macht man – wegen der zugrunde liegenden Fehldiagnose natürlich rein zufällig – irgendetwas richtig und bekommt der Patient die Kurve, ist man der unbestrittene Held, der das Tier gerettet hat. Geht es aber schief, trifft einen keine Schuld, dann konnte man halt nichts mehr machen. War ja schließlich Gift, und schuld ist damit von vornherein der Drecksack von Giftköderleger.
Steht man also vor einem gewissen Krankheitsbild wie der Ochs vor dem Berg, mag es durchaus vorteilhaft sein, sich mit der wohlfeilen Diagnose „Vergiftung“ elegant aus der Affäre zu ziehen. Diese ungute Gemengelage führt zu der nur auf den ersten Blick paradox wirkenden Situation, dass Insider mit einer gewissen Berechtigung dazu neigen, die Anzahl von Vergiftungsdiagnosen aus einer bestimmten Praxis als umgekehrt proportional zur dortigen fachlichen Kompetenz zu betrachten.
Als Beispiel für ein extremes Krankheitsbild, das mit Sicherheit gern und mit verhängnisvollen Folgen als Vergiftung eingestuft wird, sei die – zwar seltene, aber in ihrer Häufigkeit eventuell auch unterschätzte – Addison-Krise genannt. Diese Patienten werden meist in einem bestürzend schlechten Zustand vorgestellt, haben Bauchweh, zittern, sind entkräftet, zeigen Untertemperatur, Schocksymptome, Erbrechen und oft blutigen Durchfall. Wenn man bei diesem Bild jetzt auf den Trichter kommt, es mit einer Vergiftung zu tun zu haben, wird das den Patienten fast mit Sicherheit das Leben kosten. Nur die Vermeidung des oben erwähnten Tunnelblicks und eine ebenso hartnäckig-gründliche wie ergebnisoffene Diagnostik kann einen da auf die richtige Spur und damit zur korrekten Therapie bringen.
Halten Sie uns deshalb bitte nicht für ignorant, wenn wir nicht gleich auf jeden Vergiftungsverdacht anspringen, selbst wenn Sie beobachtet haben sollten, dass Ihr Hund beim Spaziergang irgendwas gefressen hat und es ihm jetzt plötzlich so schlecht geht. Wir wollen nur nicht zum Nachteil Ihres Tieres in die Vergiftungs-Falle treten und dabei eventuell übersehen, was ihm wirklich fehlt.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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