Von Ralph Rückert, Tierarzt
In den letzten beiden Artikeln über die wirklichen Kosten der Betreuung von Intensivpatienten und über die Notwendigkeit von Tierkrankenversicherungen habe ich schon angedeutet, dass unser Berufsfeld aktuell gewaltige, noch nie dagewesene Umwälzungen erfährt. Da die Auswirkungen dieser Veränderungen die Tierbesitzer volle Breitseite treffen werden, hier jetzt – wie versprochen – der Versuch einer Ursachenforschung.
Schauen wir uns den Status quo ante an, den Zustand vor Beginn der Umwälzungen, dann sehen wir eine für die Tierbesitzer annähernd ideale Situation: Jedes Jahr prügelten sich ungefähr 5000 Abiturientinnen und Abiturienten um etwa 1000 Plätze im begehrtesten (und vielleicht schwersten) Studienfach Deutschlands. Diejenigen, die das Studium erfolgreich absolviert hatten, mussten sich dann wieder prügeln, diesmal um Arbeitsplätze, und waren dementsprechend bereit, für echte Hungerlöhne unter meist brutalsten Bedingungen zu arbeiten. Gehälter weit unter dem aktuellen Mindestlohnniveau, 60 bis 80 Stunden pro Woche und annähernd permanente Nacht- und Wochenenddienste waren der Normalfall.
Es war ein sogenannter Arbeitgebermarkt. Die Praxis- und Klinikinhaber, die Herren über die (zu) wenigen Arbeitsstellen, hatten nicht das geringste Problem, für ein Spottgeld extrem willige Bewerberinnen und Bewerber zu finden. Das galt nicht nur für Assistentinnen und Assistenten, sondern auch für Tiermedizinische Fachangestellte. Schrieb man einen Ausbildungsplatz aus, waren Dutzende von Bewerbungen nichts Ungewöhnliches, und das trotz eines im Vergleich mit anderen Branchen auffällig niedrigen Lohnniveaus.
Sehr niedrige Personalkosten ermöglichten ein künstliches Niedrighalten der den Tierbesitzern in Rechnung gestellten Gebühren. Entgegen des lautstarken und allgegenwärtigen Gejammers über die Höhe von Tierarztrechnungen war und ist Deutschland ein tiermedizinisches Billigland. Zu viele Praxen und Kliniken trugen ihre Konkurrenzkämpfe durch gegenseitiges Unterbieten, durch Gebührendumping aus.
Wie oben schon angemerkt: Das war eine für Tierbesitzer annähernd ideale Situation. Selbst um Pseudo-Notfälle wurde sich – zu völlig unrealistisch niedrigen Gebühren – allzeit gerne bemüht, allerdings immer und grundsätzlich auf Kosten der Angestellten. In diesen Zeiten habe ich einmal einen Klinikchef zum anderen sagen gehört: „Mir doch egal, ob da jemand mitten in der Nacht zum Krallenschneiden kommt. Meine Assistentinnen muss ich so oder so bezahlen, dann sollen sie ruhig auch arbeiten.“ Nachtdienste mit einem daran direkt anschließenden vollen Sprechstundentag waren für die angestellten Tierärzte völlig normal, und das für ein Gehalt von teilweise unter 2000 Euro brutto.
An diesen Grundbedingungen hatte sich über so lange Zeiträume nichts geändert, dass wir alle – Praxis- und Klinikinhaber, Angestellte und Tierbesitzer – uns völlig daran gewöhnt hatten. Und jetzt auf einmal ist alles anders, die ganze Chose fliegt uns um die Ohren! Warum? Was ist denn plötzlich los?
Mehrere Faktoren treffen aktuell zusammen und verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Der Berufsstand wird seit vielen Jahren zunehmend feminisiert. Der von den Universitäten ins Berufsleben entlassene Nachwuchs ist zu fast 90 Prozent weiblich. TiermedizinerInnen dieser vorwiegend weiblichen Nachwuchsgeneration lassen den Trend erkennen, dass sie größtenteils nicht mehr bereit sind, zu den oben geschilderten Bedingungen zu arbeiten, dass sie Teilzeitarbeitsmodelle präferieren (auch Tierärztinnen möchten Kinder bekommen!) und dass sie zum anderen (leider) die unternehmerische Verantwortung und die Arbeitsbelastung der Selbständigkeit scheuen, letzteres der wichtigste Punkt bezüglich der andernorts schon besprochenen Ausbreitung von Kettenkliniken und -praxen. Um es ganz einfach auszudrücken: Hatten wir früher 1000 Absolventen frisch von der Uni, die bereit waren, 60 Stunden (und mehr) pro Woche zu arbeiten, konnten wir damit 60000 Wochenarbeitsstunden abdecken. Unter diesen Grundvoraussetzungen haben die Universitäten eigentlich zu viele Tiermediziner ausgebildet. Haben wir aber nun 1000 AbsolventInnen, die beispielsweise nur noch 35 Stunden pro Woche arbeiten wollen, können wir damit logischerweise nur noch 35000 Stunden abdecken, und damit stehen wir ziemlich plötzlich vor einem Arbeitskräftemangel.
Bis vor Kurzem scheint das irgendwie niemandem so richtig aufgefallen zu sein. Aber dann kamen die Gewerbeaufsichtsämter, haben sich unsere Branche vorgeknöpft und links und rechts saftige Bußgeldbescheide wegen Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz verteilt. Damit waren dann auch die jungen Kolleginnen und Kollegen aus dem Spiel, die bis dahin immer noch bereit oder gezwungen waren, sich einen Wolf zu arbeiten, weil nun nicht mehr das Wollen oder das Müssen, sondern nur noch das Dürfen zählte. Und plötzlich wurde vielen Inhabern – sozusagen mit dem Holzhammer auf die Nuss – klar gemacht, was Angestellte mit auch nur halbwegs vernünftiger Entlohnung und gesetzeskonformen Arbeitszeiten wirklich kosten, nämlich eine ganze Menge mehr, als sie immer gedacht hatten. Und damit kam auch die kristallklare Erkenntnis, dass das zugunsten der Kunden buchstäblich auf Kante genähte Billig-Billig-Gebührenmodell der letzten Jahrzehnte sowas von gestern und mausetot ist.
Jetzt zeigt sich auch im realen Leben die offensichtliche Tatsache, dass die in den letzten Jahrzehnten vom Gesetzgeber gewährten Erhöhungen der Gebührenordnung für Tierärzte (GOT) nicht mal annähernd ausreichend waren. Wie Sie wahrscheinlich wissen, kann ein Tierarzt seine Leistungen im Rahmen der Gebührenordnung zwischen dem 1,0fachen Mindestsatz und dem 3,0fachen Höchstsatz abrechnen. Sie als Tierhalter sind Rechnungen gewöhnt, die (betriebswirtschaftlich leider völlig unsinnig, aber die meisten Tiermediziner sind in dieser Hinsicht nun mal ziemlich naiv) im Schnitt nach dem 1,3fachen Satz berechnet wurden, bei Nacht und am Wochenende schlimmstenfalls im 2,0fachen Satz. Nun rechnen uns unsere Betriebswirtschafts-Experten gerade vor, dass eine Tierklinik, die eine 24/365-Dienstbereitschaft anbieten will, außerhalb der Normalsprechzeiten eigentlich im 5,0fachen Satz abrechnen müsste.
So, jetzt haben wir den Salat! Die Gemengelage ist in meinen Augen ausgesprochen kompliziert. Wir erleben einen drastischen Umbruch. Selbst alte Hasen wie ich können nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie sich das letztendlich weiter entwickeln wird. Aber man kann doch recht klare Tendenzen erkennen, und die gehen für Sie als Tierbesitzer alle in eine Richtung: Von der so oft und lautstark geforderten guten UND billigen Tiermedizin können Sie sich ganz schnell verabschieden. Entweder…oder! Auch hier wird sich eine Schere öffnen, eine Schere zwischen zeit- und personalintensiver High-End-Versorgung in breit aufgestellten Haustierarztpraxen und (immer weniger) Tierkliniken auf der einen und so einer Art Schmalspur-Tiermedizin in kleinen, personalschwachen und technisch bescheiden ausgestatteten Praxen auf der anderen Seite.
Was einfache Routinetätigkeiten wie z.B. Impfen und Entwurmen angeht, wird man als Tierbesitzer mit eng begrenzten finanziellen Mitteln dieser Entwicklung noch auf unbestimmte Zeit durch Frequentierung von Kleinstpraxen aus dem Weg gehen können. Kommt es aber zu einem Notfall, ist der Gebührenschock vorprogrammiert. Diejenigen Praxen und Kliniken, die noch dazu bereit und in der Lage sind, bei Nacht oder am Wochenende zur Notfallversorgung anzutreten, werden aufgrund der erläuterten betriebswirtschaftlichen Voraussetzungen gar nicht mehr anders können, als den Rahmen der GOT bis zum Anschlag auszureizen. Über kurz oder lang rechne ich sogar damit, dass Tierhalter in Notsituationen Einwilligungserklärungen zur Überschreitung des GOT-Höchstsatzes zum Unterschreiben vorgelegt bekommen werden, was aus rechtlicher Sicht durchaus möglich wäre. Spätestens dann werden Ihnen Rechnungen von beispielsweise 2500 Euro für eine nächtliche Magendrehung wie traumhafte Sonderangebote vorkommen.
Ich habe ja diese Umwälzungen in letzter Zeit immer wieder zum Thema gemacht. Ich will Sie damit auch beileibe nicht nerven. Aber es geht halt nicht nur uns Tiermediziner berufsintern an. Sie als Tierbesitzer sind letztendlich diejenigen, die die Zeche zahlen werden, und darauf müssen Sie sich in jeder Hinsicht vorbereiten, Stichworte: Krankenversicherung, Reserven bilden, den dritten Hund oder die vierte Katze doch nicht anschaffen oder im schlimmsten Fall die Hobbytierhaltung an sich in Frage stellen.
Jetzt zur für uns Deutsche beliebtesten Frage: Wer ist schuld an dem Schlamassel? In meinen Augen alle und keiner! Der Gesetzgeber haut nach dem Motto „Gut gemeint ist nicht automatisch gut gemacht“ absolut unflexible und nicht an die Besonderheiten spezieller Berufsstände angepasste Regelungen raus, die erstmal alle ganz toll finden, bis sich dann rausstellt, auf wessen Kosten das tatsächlich geht. Sie, die Tierbesitzer, haben jahrzehntelang von einem im europaweiten Vergleich sensationell niedrigen Gebührenniveau profitiert, das letztendlich nur durch massive Personalausbeutung möglich war. Und die Tierärzte haben ganz klar Trends nicht richtig eingeschätzt oder gar ganz verpennt, was natürlich mit dazu beiträgt, dass es jetzt so richtig knirscht im Getriebe. Wir, die sogenannte Gründergeneration, haben jahrzehntelang ein künstlich auf niedrige Preise getrimmtes System am Laufen gehalten und die ganze Zeit konsequent die Augen davor verschlossen, auf wessen Kosten das ging, nämlich auf die unserer eigenen Gesundheit und auf die unserer Angestellten. Die neue Generation macht damit jetzt Schluss, und so richtig kann ich ihr das nicht verübeln.
Was gar nicht funktioniert sind unreflektierte Anschuldigungen in Richtung von uns vermeintlich geldgierigen und grundsätzlich abzockerischen Tierärzten. Versucht man aus verschiedenen Quellen heraus zu finden, wie viel Gewinn die durchschnittliche Kleintierpraxis in Deutschland erzielt, kommt man auf Zahlen irgendwo zwischen 50000 und 60000 Euro. Brutto! Da gehen noch Steuern, Krankenversicherung und Altersvorsorge weg, bevor wir von einem Nettoeinkommen reden können, wie es Angestellte im Kopf haben. Nehmen wir als recht hoch angesiedeltes Beispiel mal einen Jahresgewinn von 58000 Euro an, dann beträgt das Monatseinkommen, das Angestellte mit „Netto“ meinen, ungefähr 2300 Euro. Wie gut man davon leben oder ob man damit eine Familie ernähren kann, sei mal dahingestellt, aber das in vielen Tierbesitzer-Köpfen hartnäckig rumschwirrende Klischee vom „Großverdiener Tierarzt“ führen solche Beträge allemal ad absurdum.
Klein- und Kleinstpraxen, die teilweise noch niedrigere Gewinne generieren, werden mit den Jahren zwar immer weniger werden, weil die Nachfolger-Generation sie aus guten Gründen nicht übernehmen will. Bis dahin aber erfüllen sie immerhin noch die Funktion, eine Art von Basis-Versorgung für die Tierbesitzer anzubieten, die sehr auf den Preis achten wollen oder müssen. Von den damit erzielbaren Gewinnen kann man aber kaum leben. Für Investitionen in Personal, Fortbildung und technische Ausstattung bleibt da gar nichts übrig, was dazu führt, dass solche Praxen medizinisch mehr und mehr abgehängt werden. Und damit sind wir, so bedauerlich das auch sein mag, bei der oben schon angedeuteten Zwei-Klassen-Tiermedizin.
Wenn Sie bis hierher durchgehalten haben, scheint Sie das Thema zu interessieren. Vielleicht wollen Sie dann auch noch einen Artikel meiner geschätzten Kollegin Dr. Viola Hebeler lesen, den sie auf der Homepage der Tierärztekammer Nordrhein veröffentlicht hat. Wir haben übrigens nicht voneinander abgeschrieben!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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