Von Ralph Rückert, Tierarzt
Nicht mehr so häufig wie in früheren Jahren, aber immer noch viel zu oft bekommt man als Tierarzt Patienten vorgestellt, angesichts deren Zustands einen entweder die blinde Wut packt oder einem vor Mitleid mit dem Tier schier die Tränen kommen.
Die Bilder zeigen die Schneidezähne eines Kaninchens, die sich durch eine Malokklusion (Fehlstellung) nicht mehr korrekt abnützen konnten und sozusagen aneinander vorbei gewachsen sind. Die oberen Schneidezähne haben eine sicherlich extrem schmerzhafte, tiefe und eiternde Wunde in den Unterkiefer gegraben Unter solchen Umständen ist eine auch nur halbwegs ausreichende Futteraufnahme natürlich schlicht nicht mehr möglich. Dementsprechend war das Tier auch bis auf die Knochen abgemagert und allenfalls noch Tage vom Hungertod entfernt. An einigen Körperteilen war das Fell aufgrund der Unterernährung schon komplett ausgefallen. Die Besitzer des Kaninchens gaben aber an, diesen Zustand erst gerade aktuell bemerkt zu haben.
Dieser Fall ist nur ein Beispiel. Wir sehen auch Tiere aller in einer Kleintierpraxis behandelten Arten mit geradezu monströsen Tumoren, mit vergammelten Wunden, in denen sich schon die Maden tummeln, oder mit Zahnerkrankungen, die jeder Beschreibung spotten, alles Krankheitsbilder, die die Besitzer bei Beachtung der absoluten Mindestanforderungen an eine artgerechte Tierhaltung viel früher hätten bemerken und behandeln lassen müssen.
Der Artikel soll in erster Linie darlegen, was in solchen Situationen in meinem Kopf vorgeht. Zuerst – und zwar nach außen nicht erkennbar – überkommt mich das blanke Entsetzen, die oben schon erwähnte blinde Wut. Es ist natürlich in der Realität undenkbar, aber am liebsten würde ich die Besitzer solcher Tiere am Kragen packen, so richtig durchschütteln und dabei die Frage schreien, warum sie sich denn statt eines Steiff-Stofftieres unbedingt eine lebende, fühlende und leidensfähige Kreatur anschaffen mussten, wenn sie nicht bereit oder nicht in der Lage sind, auch nur das geringste Engagement und ein Mindestmaß an Empathie aufzubringen.
Aber das ist nur der erste und gleich wieder sauber unterdrückte Impuls. Als Tierarzt mit jahrzehntelanger Erfahrung hat man natürlich schon lange kapiert, dass damit niemandem geholfen wäre, schon gar nicht dem leidenden Tier. Also reißt man sich am Riemen und versucht eine gangbare Lösung zu finden, um die Situation des Patienten zu verbessern.
Wie es dann weiter geht, hängt für mich schon sehr von den Reaktionen der Besitzer ab. Auf der einen Seite erlebt man Leute, die ehrlich schockiert sind, sofort ihr eigenes Versagen erkennen und entsprechende Schuldgefühle an den Tag legen. Das kann ich gut akzeptieren und unternehme dann auch alle Anstrengungen, vorhandene Informationsdefizite zu beheben und das Leiden des Patienten entweder zu lindern oder zu beenden.
Andererseits gibt es eine Art von Tierhaltern – uneinsichtig, von sich selbst in ihrer grenzenlosen Ahnungslosigkeit völlig überzeugt, rechthaberisch, geizig – bei denen es dann doch noch passieren kann, dass mir am Ende so richtig der Gaul durchgeht. Da werde ich barsch, da werde ich laut, da fällt dann auch der Ratschlag, die Tierhaltung in Zukunft auf Stofftiere zu beschränken, und da kommt es bei mir zu dem Gedanken, die ganze Sache dem Veterinäramt oder der Staatsanwaltschaft zu melden und damit eine Haltungsüberprüfung bzw. strafrechtliche Ermittlungen anzustoßen.
Damit kommen wir an einen heiklen Punkt, der nicht nur unter Tierärzten, sondern auch unter Rechtsgelehrten immer wieder für heiße Diskussionen sorgt: Was wiegt schwerer? Die Schweigepflicht (in § 203 StGB „Verletzung von Privatgeheimnissen“ genannt) oder ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz durch krasse Vernachlässigung? Wirklich endgültig ist diese Frage meines Wissens noch nie beantwortet worden.
§ 203, Satz 1 beginnt so: „Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als…“. Die Tendenz geht dahin, dass der Schlüssel zur Klärung des angesprochenen Konflikts in dem Wörtchen „unbefugt“ zu sehen ist. Ein Tierarzt, der einen Verstoß gegen das Tierschutzgesetz erkennt und aufgrund der Uneinsichtigkeit des jeweiligen Tierbesitzers zu der Auffassung kommt, dass dieser Gesetzesverstoß unter Gefahr für Gesundheit und Leben des Tieres sich auch in Zukunft fortsetzen wird, der handelt bei einer Anzeige eben nicht unbefugt.
Nun, dass es so weit kommt, wird sicher eine absolute Seltenheit bleiben. Die meisten Tierbesitzer, selbst die, die ganz klar gegen tierschutzrechtliche Mindestforderungen verstoßen haben, sind nach meiner Erfahrung ja durchaus einsichtig und korrigieren ihr Verhalten entsprechend. Immerhin haben sie am Ende den Tierarzt aufgesucht. Wir machen uns da gar keine Illusionen: Auf jedes in dieser Form vernachlässigte Kaninchen, wie es auf den Fotos zu sehen ist, kommen wahrscheinlich zehn andere, die auch in diesem Zustand nie einem Tierarzt vorgestellt werden und demzufolge einfach verhungern.
Abschließend wieder mal unsere dringende Bitte: Wenn Sie sich ein lebendes Tier anschaffen wollen, dann bedenken Sie bitte im Vorfeld sehr, sehr gründlich, ob sie zeitlich, finanziell und emotional für die Hobbytierhaltung gut aufgestellt sind. Informieren Sie sich bitte gründlichst über die Anforderungen der ins Auge gefassten Spezies. Gehen Sie in sich, ob Sie diese Anforderungen auch nach dem Abklingen der ersten Begeisterung erfüllen können und wollen.
Um bei diesem beispielhaften Fall zu bleiben: Zu einer verantwortungsvollen Kaninchenhaltung gehören natürlich eine regelmäßige und mindestens wöchentliche Gewichtskontrolle und eine möglichst tägliche optische und palpatorische (Medizinsprech für Befummeln) Überprüfung des Tieres auf irgendwelche Besonderheiten. Bei dieser Vorgehensweise wäre es niemals so weit gekommen, ohne dass die Besitzer das bemerkt hätten.
Aber auch bei anderen Tierarten wie Hund und Katze gehören Gewichtskontrolle, regelmäßiges Betasten, sowie der Blick in Mundhöhle, Augen und Ohren einfach dazu. Und wenn sich Hund oder Katz nicht in die Goschn schauen lassen wollen, dann übernehmen wir das gerne.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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