Von Ralph Rückert, Tierarzt
Was ist eine Tierklinik? Eine Einrichtung, vielleicht in einem etwas kleineren Maßstab, wie ein Krankenhaus für Menschen? Ein Ort, an dem man Spezialisten für jedes denkbare Tierleid findet? Bei manchen Großbetrieben ist man geneigt, dieser Einschätzung zuzustimmen, aber für viele Tierkliniken gilt, dass sie letztendlich normale Tierarztpraxen auf Anabolika sind, die unter brutaler finanzieller Ausbeutung junger Kolleginnen und Kollegen mit Mühe und Not den geforderten 24/365-Dienst aufrecht erhalten können.
Sie erwarten in einer Tierklinik – insbesondere im Notfall – besonders kompetente Hilfe, die in ihrem Umfang weit über das hinausgeht, was Ihnen Ihre Haustierarztpraxis anbieten kann? In manchen Fällen mag das klappen, in anderen werden Sie zwangsläufig auf grausam unterbezahlte, entsprechend unmotivierte und reichlich unerfahrene Kolleginnen und Kollegen stoßen, so dass Sie sich hinterher wünschen, dass Sie doch besser Ihre gewohnte Praxis erreicht hätten.
Deutschland hat bekanntlich eine föderale Staatsform. Diese bezieht sich auch auf die Tiermedizin, denn jedes Bundesland hat eine eigene Tierärztekammer, eine eigene Berufs- und damit auch Klinikordnung, die festlegt, welche Voraussetzungen eine tiermedizinische Einrichtung zu erfüllen hat, damit sie sich Tierklinik nennen darf. Wie eine Tierklinik, die Sie als Kunde aufsuchen, räumlich, personell und maschinell ausgestattet zu sein hat, hängt also in erster Linie davon ab, von welchem Bundesland wir reden.
Dies gilt auch für die Regelungen zur geforderten ständigen Dienstbereitschaft einer Tierklinik. Haben Sie die aus dem Humanbereich entlehnte Vorstellung, dass in einer Tierklinik zu jedem Zeitpunkt diensthabende Tierärzte und andere Fachpersonen vorzufinden wären? Dann muss ich Sie für die meisten Bundesländer enttäuschen. Es kann durchaus passieren, dass Sie mit einem verunfallten Hund vor einem unbeleuchteten Klinikgebäude aufschlagen und erst mal über das Handy oder eine Sprechanlage den Diensthabenden heranpfeifen müssen. Wie schnell dieser dann zur Hilfestellung vor Ort einzutreffen hat, ist wohlweislich sehr dehnbar geregelt. Irgendwie schnell soll es schon gehen, aber wie schnell genau, ist meist nicht wirklich klar umrissen.
Geben Sie sich der Illusion hin, dass Ihr in einer Klinik stationär aufgenommenes Tier automatisch unter ständiger persönlicher Überwachung steht? Auch das ist in einigen Bundesländern keineswegs garantiert. Da sitzt also niemand die ganze Nacht vor dem Stationskäfig und hält Pfötchen, zumindest nicht rechtlich verpflichtend. Das mag vielleicht sogar die deutlichste Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Tierbesitzer und der Realität sein, was den Begriff „Tierklinik“ angeht. Man stelle sich eine Klinik für Menschen vor, wo bei Nacht kein Personal anwesend ist und die Patienten keine Klingel am Bett haben. Unguter Gedanke, oder?
Andererseits: Die wenigsten von Ihnen, den Tierbesitzern, wären wahrscheinlich bereit, die realen Kosten, die wirklich durchgehende Patientenüberwachung und -betreuung durch Fachpersonal verursacht, zu bezahlen. Schauen Sie mal bei Gelegenheit auf Ihre letzte Handwerkerrechnung, was eine Gesellenstunde kostet, denn das wäre mindestens (!) pro Stunde Nachtüberwachung Ihres Tieres fällig.
Vielerorts im Netz kann man großes Gemaule und Gejammer lesen, wie teuer es doch wäre, diese oder jene Klinik aufzusuchen. Sehr häufig handelt es sich dabei um Fälle, in denen der Fachmann sich spontan fragt, warum man da jetzt eine Woche lang ungerührt bei der Entwicklung der Krankheitssymptome zugeschaut hat, um schließlich und endlich am Samstagnachmittag – nach Erledigung des Wochenendeinkaufs – in die Klinik zu stolpern. Und wenn dann eine Viertelstunde, die man nun mal für so gut wie jede Untersuchung mit Erhebung der Vorgeschichte braucht, mindestens einen Hunderter kostet, bekommt man spontan Schnappatmung. Einzig mögliche Schlussfolgerung: Viele Leute haben keine Ahnung bzw. möchten sich möglichst keine Gedanken darüber machen, was es kostet, so einen Laden am Wochenende ständig dienstbereit zu halten. Der Schlüsseldienst, der samstags die zugefallene Wohnungstür innerhalb von Sekunden öffnet, kann ruhig 300 Euro kassieren, denn das wird kurioserweise geschluckt. Eine Tierklinik mit einem manchmal in die Millionen gehenden Gerätepark und Dutzenden von Angestellten dagegen muss sich für jeden Euro rechtfertigen. Verkehrte Welt!
Der ständige von den Kunden ausgeübte Preisdruck ist natürlich auch für die (zu) vielen Kliniken zu spüren. Will man sich mit konkurrierenden Einrichtungen einen Preiskampf liefern, kann man in der Regel nur an einer Schraube so richtig ordentlich drehen, nämlich an den Gehältern des Personals. Das ist deshalb so einfach, weil trotz aller roten Warnlichter auf diversen Jobampeln nach wie vor viel zu viele junge Leute (inzwischen zu über 90 Prozent Frauen) in die tiermedizinischen Berufe drängen und nach Studium oder Ausbildung händeringend eine Anstellung suchen. Das ist für die Arbeitgeber, also die Klinikinhaber, eine traumhafte Situation, die absolute Hungerlöhne möglich macht.
Assistentinnen und Assistenten verdienen als frisch studierte Einsteiger oft (meist?) und selbst in renommierten Einrichtungen so wenig, dass Zweifel an der Einhaltung des Mindestlohngesetzes berechtigt sind. Erst neulich wurde nach meinen Informationen sogar der Uniklinik München dieser Tatbestand nachgewiesen. Aber auch in privaten Kliniken sind Nettogehälter unter 1500 Euro eher die Regel als die Ausnahme, und zwar nicht etwa für eine gewerkschaftlich garantierte 38,5-Stunden-Woche, sondern oft für mehr als 60 Stunden inklusive Nacht- und Wochenenddiensten.
Also, noch einmal: Was ist eine Tierklinik? Die Berufsordnung der Tierärztekammer Baden-Württemberg beantwortet die Frage so:
„Eine tierärztliche Klinik dient der stationären Behandlung von Tieren. Sie ergänzt die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der tierärztlichen Praxis.“
Der erste Satz stellt das Offensichtliche fest, der zweite etwas, das durchaus wünschenswert wäre, aber nicht immer gegeben ist. Die in manchen Kammerbereichen festgelegte Mindestausstattung an diagnostischen und therapeutischen Gerätschaften ist inzwischen ganz schön aus der Zeit gefallen. Röntgen, Ultraschall und Endoskopie sind heutzutage auch in vielen, wenn nicht den meisten Tierarztpraxen vorhanden. Die von der Berufsordnung erwähnte „Ergänzung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der tierärztlichen Praxis“ bedeutet also in meinen Augen mindestens das Vorhandensein eines Computertomographen (CT) und möglichst auch eines Magnetresonanztomographen (MRT).
Eine weitere entscheidende Möglichkeit, die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der Haustierarztpraxis zu ergänzen, ist natürlich spezialisierte Kompetenz. Als überweisender Haustierarzt möchte ich in Kliniken auf Gesprächspartner stoßen, die sich in dem von mir identifizierten Problembereich des Patienten aufgrund von Spezialisierung besser auskennen als ich selbst. Aber auch diese Anforderung wird leider oft nicht erfüllt, weil man es in der Alltagsrealität halt dann doch mit Kolleginnen und Kollegen zu tun hat, die gerade mal zwei, drei Jahre praktische Erfahrung als Assistenten auf dem Buckel haben.
Fassen wir also zusammen, was eine Tierklinik ist, indem wir einfach mal den besten und den schlimmsten Fall definieren:
Im besten Fall ist eine Tierklinik eine in adäquaten Räumlichkeiten untergebrachte und sowohl personell als auch technisch (CT, MRT!) großzügig ausgestattete Einrichtung mit einem möglichst breiten Spektrum tiermedizinischer Spezialisten, die in der Lage sind, auch mit ungewöhnlichen Problemstellungen sachkundig fertig zu werden. Durch ihren überregional guten fachlichen Ruf bekommt so eine Klinik von den Haustierärzten viele Fälle überwiesen, so dass sie finanziell auf gesunden Füßen steht, ihre Angestellten korrekt entlohnen und auch eine durchgehende Präsenz mindestens einer Tierärztin / eines Tierarztes plus Unterstützungspersonal gewährleisten kann. Eine solche „Idealklinik“ konzentriert sich auf ihre aus Überweisungen und Notfällen erwachsenden und finanziell durchaus lukrativen Spezialaufgaben, nämlich die oben angesprochene Ergänzung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der Haustierarztpraxen, und hat es dementsprechend nicht nötig, eben diesen Praxen durch das Abgreifen von Routinetätigkeiten Konkurrenz zu machen.
Im schlimmsten Fall ist eine Tierklinik eine (geringfügig) bessere Tierarztpraxis, die die von den Kammern aufgestellten Anforderungen mit Mühe und Not gerade so erfüllt, um sich mit dem Etikett „Klinik“ im lokalen Umfeld einen Konkurrenzvorteil gegenüber den Haustierarztpraxen zu verschaffen. Die technische Ausstattung lässt keinen Unterschied zu gut bestückten Praxen erkennen und man findet auch keine Ansammlung hochspezialisierter Fachkompetenz vor. Da die umliegenden Praxen dieses ihnen zum Nachteil gereichende Geschäftsmodell sehr wohl durchschauen, bekommt so eine Pseudo-Klinik eher wenig Überweisungen und hat dementsprechend oft finanziell ganz schön zu kämpfen. Dies meist auf Kosten des Personals, was sich nach außen durch unmotivierte und häufig wechselnde Angestellte zeigt. In letzter Zeit zeichnet sich eine Tendenz ab, dass solche konzeptionell auf Kante genähten Kliniken ihren Status freiwillig auf den einer Praxis runterstufen, um nicht mehr durchgehend erreichbar sein zu müssen. Dieser Trend macht auch vor eigentlich renommierten Kliniken nicht halt. Als Begründung wird oft ein eigentlich nicht vorhandener „Fachkräftemangel“ angeführt. In der Realität sieht es so aus, dass man durchaus gute Leute finden könnte, wenn man bereit wäre, sie anständig zu bezahlen.
Inzwischen sollte Ihnen sonnenklar sein, dass Tierklinik nicht gleich Tierklinik ist. Man muss schon einen scharfen Blick hinter die Kulissen werfen. Wer weiß am besten Bescheid über die Stärken und Schwächen der verschiedenen Kliniken? Na klar, die Haustierärzte! Wundern Sie sich also nicht, wenn Ihr Tierarzt Sie im Fall der Fälle mit seiner Überweisung zig Kilometer durch die Gegend fahren lässt, obwohl drei andere Kliniken viel näher wären. Das hat schon seine Gründe, die man aber unter Berücksichtigung der erforderlichen kollegialen Umgangsformen ungern lang und breit erläutert.
Was würde ich mir als Haustierarzt in Bezug auf Tierkliniken wünschen? Wir brauchen deutschlandweit in erreichbarer Nähe (maximal 100 km) Klinik-Schwergewichte, die annähernd Maximalversorgung anbieten können. Zusätzlich besteht immer Bedarf an Kliniken, die sich auf höchstem Niveau auf bestimmte Fragestellungen oder Organsysteme spezialisiert haben. Wünschenswert wäre es nicht nur in Ihren Augen als Tierbesitzer, sondern auch nach meiner Auffassung, dass Kliniken personell zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Intensivtherapie und -betreuung der Patienten in der Lage sind. Kein Bedarf besteht dagegen an rein lokal agierenden, wirtschaftlich schlecht aufgestellten und ihr Personal gnadenlos ausbeutenden Pseudo-Kliniken, in denen Sie als Kunden außer einer durchgehenden Erreichbarkeit auch nicht mehr – eventuell sogar weniger – erwarten können als in Ihrer Haustierarztpraxis.
In Bezug auf Sie als Patientenbesitzer halte ich aber auch den einen oder anderen Umdenkvorgang für dringend erforderlich. Große Kliniken mit Spezialisten für viele oder gar alle Fachgebiete, einem gewaltigen Maschinenpark und einer ausreichend dicken Personaldecke sind ein richtig teures Unterfangen. Wer so eine Einrichtung aufsuchen muss, sollte sich gleich mal zügig von Begriffen wie „preisgünstig“ oder gar „billig“ verabschieden. Wird eine Klinik von der Kundschaft als billig empfunden, ist da schon wieder was faul, meistens in Bezug auf die Entlohnung der Angestellten. Diese unterbezahlten Angestellten sind dann die, auf die Sie (ja Sie, der Geizkragen da vorne!) mit Ihrem nächtlichen Notfall treffen, und über deren mangelnde Motivation und Kompetenz Sie sich dann lauthals beschweren, ohne auch nur ansatzweise zu verstehen, dass Sie mit Ihrer Geiz-ist-geil-Mentalität die Wurzel des Übels sind.
Außerdem sollten Sie nicht vergessen, wofür Tierkliniken da sind, nämlich als „Ergänzung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten“ der Haustierarztpraxen, also eigentlich nicht als Notnagel für Patientenbesitzer, die es superbequem finden, mit ihrem Patienten grundsätzlich am Wochenende zum Tierarzt zu gehen, und auch nicht für die, die meinen, es hätte irgendeine Statusaussage, wenn man sogar zum Impfen in „die Klinik“ geht. Eine wirklich gute Klinik im weiter oben erläuterten Sinne impft nämlich erst gar nicht, weil sie es sich wegen der paar Kröten, die damit zu verdienen sind, ganz sicher nicht mit den umliegenden Praxen verderben will.
Bei allem Bedarf an hochspezialisierten Einrichtungen: Das Rückgrat der tiermedizinischen Versorgung in Deutschland sind und bleiben die Haustierarztpraxen, die jeden ihrer Patienten in- und auswändig kennen, in denen auch mal Zeit für ein persönliches Gespräch bleibt und in denen sich niemand als anonyme „Nummer“ vorkommen muss. Erhalten Sie als Patientenbesitzer dieses System und rennen Sie nicht mit jedem querhängenden Furz in eine Klinik um die Ecke, weil Sie denken, dass die das Problemchen dort irgendwie besser lösen könnten. Können Sie nämlich meist nicht! In Ihrer Haustierarztpraxis „kocht der Chef“, in einer Pseudo-Klinik treffen Sie dagegen gern mal bei jedem Besuch auf ein neues, oft sehr junges und meist zutiefst erschöpftes Gesicht.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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