Von Ralph Rückert, Tierarzt
Neulich wurde mir in einer Internet-Bewertung vorgeworfen, eine Fehldiagnose gestellt zu haben. Davon abgesehen, dass das eine Tatsachenbehauptung ist, die die bewertende Person beweisen können muss und deren Richtigkeit gerade auf meinen Antrag hin von dem Bewertungsportal überprüft wird: Glaubt denn wirklich irgend jemand, ich würde niemals eine Fehldiagnose stellen, eine falsche Therapie einleiten oder irgendeinen anderen Fehler machen? Nicht wirklich, oder? Denn wenn das so wäre, dann wäre ich ein Gott.
Wir Tierärzte sind die letzten echten Allrounder der Medizin im Ganzen, also einschließlich der Humanmedizin. Die meisten von uns haben Kenntnisse und Fähigkeiten in einer Menge und Breite, von der sogar Human-Allgemeinmediziner nur träumen können. Überlegen Sie mal, welche Vielzahl von gesundheitlichen Beschwerden wir allein in unserer vergleichsweise kleinen Praxis ohne die Hilfe von Spezialisten lösen können. Sie kommen zu uns mit Haut- und Augenproblemen, mit kaputten Zähnen, mit Herz-, Lungen- und Magen-Darmerkrankungen, mit arthrotischen Gelenken und entzündeten Ohren, mit allen möglichen Infektionen, von banal bis lebensbedrohlich. Wir behandeln sozusagen alles von Schnupfen bis Krebs, wir geben Rat in Verhaltens- und Erziehungsfragen, wir operieren in fast allen Organsystemen, fischen mit unseren Endoskopen Gewebeproben und Fremdkörper aus Nasen, Ohren, Hälsen, Lungen, Mägen und Därmen, wir diagnostizieren mit Röntgen, Ultraschall und EKG und bringen Nachwuchs auf die Welt.
Und das alles nicht wie in der Humanmedizin bei nur einer, sondern bei einer ganzen Anzahl von Spezies. Grundsätzlich macht diese enorme Vielfalt einen großen Teil der Attraktivität unseres Berufes aus. Langweilig wird es einem als Tierarzt eigentlich nie. Ich sehe auch nach über einem Vierteljahrhundert in diesem Geschäft immer noch Dinge, die mir nie zuvor untergekommen sind. Genau dieser Punkt kann aber auch zum Problem werden. Es müsste eigentlich jedem realistisch denkenden Menschen klar sein, dass man ein so großes Tätigkeitsgebiet nicht bearbeiten kann, ohne dass irgendwo Defizite auftreten. Also, um es klipp und klar zu sagen: Natürlich bin ich nicht in jedem speziellen Teilbereich der Tiermedizin völlig up to date, natürlich mache auch ich immer wieder mal einen Fehler.
Das Schlimmste, was einem Allrounder passieren kann, ist der Glaube, bei einem bestimmten Problem voll durchzublicken, obwohl das, was man da im Kopf hat, schon lange kalter Kaffee ist, weil man vom medizinischen Fortschritt rechts überholt worden ist, ohne es überhaupt zu bemerken. In diesen Fällen kann es durchaus sein, dass man einen kapitalen Bock schießt. Und um es gleich vorwegzunehmen: Ja, auch das ist mir in den letzten 25 Jahren das eine oder andere Mal passiert. Wir gehen zu zeitraubenden und oftmals rabiat teuren Fortbildungen, wir lesen ständig die aktuelle Fachliteratur, geben im Jahr Tausende von Euro für neue Fachbücher aus und beteiligen uns an berufsbezogenen Internetforen, und trotzdem: Bei der Breite unserer Tätigkeit kann es passieren, dass man in irgendeinem Teilbereich einfach abgehängt wird, ohne es wahrzunehmen.
Die Erwartungshaltung mancher weniger Tierbesitzer ist atemberaubend: Da gibt es einerseits lange Gesichter, wenn man einen Fall zu einem Spezialisten überweisen möchte, weil damit vielleicht Fahrtstrecken verbunden sind, mit denen man so gar nicht gerechnet hatte, andererseits wird vom Allgemein-Tierarzt erwartet, dass er noch die allerexotischste Erkrankung, die mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 100000 auftritt, auf den ersten Blick und um Himmelswillen ohne teure Diagnostik erkennt und sofort richtig behandelt, das Ganze am besten auch nachts um halb drei. Es wird nicht weniger erwartet als gottgleiche Allwissenheit und Perfektion, und das, wenn man den Beiträgen in manchen Internetforen folgen mag, natürlich bloß nicht mit dem schändlichen Vorsatz, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern aus purer Tierliebe, am besten gleich so gut wie kostenlos.
Ich bin mir einerseits der Möglichkeit bewusst, mit meiner Argumentation bei manchen von Ihnen gehörige Verunsicherung auszulösen, aber andererseits der Meinung, dass in der Medizin noch immer ein Defizit an klaren Ansagen herrscht. Da wird nach wie vor zu viel rumgedruckst und schwadroniert. Was also können Sie als Kunde für Ihr gutes Geld erwarten, wenn Sie mich als Tierarzt aufsuchen? Unfehlbarkeit? Allwissenheit? Nein, tut mir aufrichtig leid, das können Sie nicht! In der kalten Sprache der Juristerei bin ich Ihnen gerade mal „die von einem durchschnittlichen Tierarzt zu erwartende Sorgfalt“ schuldig. Mit dieser Mindestanforderung wollte ich mich nie zufrieden geben. Sie können von mir, von uns, also durchaus weit überdurchschnittliche Sorgfalt erwarten. Sie können auch erwarten, dass wir uns für Ihr Tier so engagieren und es so behandeln, als ob es unser eigenes wäre. Sie können erwarten, dass wir uns sehr anstrengen, um bestmöglich am Ball zu bleiben. Aber Sie können nicht erwarten, dass wir nicht auch mal den einen oder anderen Fehler machen. Wir wissen aus Umfragen, dass das Konzept des fachlich breit aufgestellten Haustierarztes gerade als Kontrast zur überspezialisierten Humanmedizin nach wie vor von den Tierbesitzern sehr geschätzt wird. Dafür muss aber auch in Kauf genommen werden, dass wir Allrounder nun mal nicht in allen Bereichen perfekt sein können. Ganz davon abgesehen, dass das sogar für Spezialisten auf ihrem ureigensten Gebiet unmöglich ist. Und – wenn Sie ehrlich sind – natürlich auch für Sie alle in Ihren jeweiligen Berufen.
Bleiben Sie also bitte realistisch. Aus so manchem persönlichen Gespräch weiß ich, wie viele Tierbesitzer für sich selbst eine Facharzt-Odyssee ohnegleichen akzeptieren, bis eine Erkrankung endlich diagnostiziert oder behandelt ist. Gleichzeitig wird von uns Tierärzten das nachgerade Unmögliche verlangt: Wir sollen bei einem Patienten, der nicht mit uns spricht, immer gleich diagnostische und therapeutische Volltreffer landen, und das auf allen Gebieten gleichzeitig, für die die Humanmedizin sich locker zwei bis drei Dutzend verschiedene Fachärzte leistet. Das kann nicht funktionieren. Es klappt ja insgesamt verblüffend gut, wir Tiermediziner machen angesichts der enormen Probleme, die durch das Fehlen jeglicher Kommunikationsmöglichkeit mit unseren Patienten und das Abdecken dutzender Fachgebiete verursacht werden, meiner Meinung nach einen echt guten Job, aber buchstäblich jedes Mal voll die Zehn treffen können wir einfach nicht.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich will nicht jammern, absolut nicht. Ich finde meinen Beruf nach wie vor schön und spannend. Außerdem ist mir bewusst, dass die meisten von Ihnen durchaus die Schwierigkeiten und Probleme unserer breitgefächerten Tätigkeit zu würdigen wissen und mit vernünftigen Erwartungen an uns herantreten.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Ralph Rückert