Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin
Der inzwischen annähernd verzweifelte Formen annehmende Fachkräftemangel, der Zusammenbruch der Notdienststrukturen und nicht zuletzt die Pandemie mit ihren Kontakteinschränkungen haben den Betonköpfen in der Politik und in unseren berufsständischen Verwaltungen auf schlagende Weise beigebracht, dass an der Nutzung moderner Kommunikationsmöglichkeiten auch in der Medizin und Tiermedizin wohl kaum ein Weg vorbei führen wird.
Wir sprechen von Tele(tier)medizin, dem Trend schlechthin, „the new kid on the block“, der aktuellsten Sau, die in letzter Zeit durch das tiermedizinische Dorf getrieben wird.
Noch vor wenigen Jahren wurde es mit mindestens heftigem Stirnrunzeln quittiert, wenn man als Tierärztin oder Tierarzt auch nur daran dachte, die medizinische Situation eines Patienten aus der Ferne und auf der Basis von mit Mitteln der Telekommunikation übertragenen Daten (Fotos, Videos, Röntgen- und Ultraschallbilder, Laborbefunde, etc.) beurteilen zu wollen. Wagte man es gar, ein entsprechendes Leistungsangebot auch nur öffentlich zu erwähnen, konnte es passieren, dass einem ein geharnischtes Schreiben des Regierungspräsidiums auf den Tisch flatterte, in dem man ultimativ aufgefordert wurde, dieses Angebot sofort zu streichen, weil es gegen das Heilmittelwerbegesetz verstoßen würde.
Jetzt aber fließen die berufsständischen Informationskanäle buchstäblich über vor dringenden Aufforderungen, mal endlich mit der Zeit zu gehen und schleunigst eben solche Angebote auf die Füße zu stellen. Wäre das in seiner verlogenen Scheinheiligkeit nicht so bitter, könnte man echt drüber lachen, zumal die diesbezügliche Rechtslage aufgrund schlampiger Gesetzesformulierungen nach wie vor keineswegs eindeutig ist.
Für Praxen wie unsere, die von einem nicht unerheblichen Anteil der Kund:innen über größere Entfernungen aufgesucht werden, war und ist Tele-Tiermedizin schon seit Jahren ein notwendiger Bestandteil ihrer Leistungen und eigentlich ein alter Hut. Natürlich kann – zum Beispiel bei der Kontrolluntersuchung nach einer OP – nichts den direkten und umfassenden Blick auf den Patienten ersetzen, aber einen Hund, der für einen Eingriff vielleicht über 250 Kilometer angereist war, kann ich nun mal schlecht zu so einer Nachuntersuchung einbestellen. Da müssen zwangsläufig die modernen Möglichkeiten der Telekommunikation zum Einsatz kommen, mit Fotos der Wunde beispielsweise, mit Videoclips, die einem ein Bild vom Allgemeinbefinden des Tieres verschaffen und mit gesundheitlichen Basiswerten (Puls, Atmung, Schleimhautfarbe, Temperatur), die die Besitzer:innen nach kurzer Anleitung zu Hause selber ermitteln können.
Nun reden wir in diesen Fällen allerdings von Patienten, die uns bereits vorgestellt wurden, die wir also (medizinisch gesehen) gut kennen und die wir auch schon behandelt haben. Ein ganz anderes Kapitel sind Bitten um Beratung, Tipps oder eine Zweitmeinung, per Mail, PN oder wie auch immer vorgetragen von Tierbesitzer:innen, die (und deren Tiere) wir noch nie gesehen haben und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie zu sehen bekommen werden. Dieses Phänomen betrifft natürlich vorwiegend Praxen und Kliniken mit starken Netzauftritten und entsprechend großer öffentlicher Sichtbarkeit. Die meisten Leute machen sich keinen Begriff von der schieren Anzahl solcher Anfragen. Wenn ich in unserem Fall von ca. 1000 Nachrichten pro Jahr rede, ist das noch eine mehr als konservative Schätzung.
Wie soll man als Tierärztin / als Tierarzt damit umgehen? Nun, eine Möglichkeit ist natürlich, sowas rundweg abzulehnen und darauf zu bestehen, dass nur im direkten physischen Kontakt zum Patienten eine tiermedizinische Einschätzung überhaupt erst möglich wird. Ein Beispiel für diese Denkweise liefert uns Kollege Sebastian Jonigkeit in seinem YouTube-Video „Ferndiagnosen? Nein!“. Wir würden Ihnen empfehlen, sich den 10-minütigen Clip anzusehen, nicht zuletzt, um sich ein Bild davon zu machen, was für absurde Fragen uns Tag für Tag erreichen.
Nun hat sich der Kollege natürlich für sein Video relativ krasse Fälle ausgesucht. Er stellt auch völlig zutreffend dar, dass man gelegentlich in grenzenloser Unverschämtheit sogar unflätig beleidigt wird, wenn man nicht oder nicht so antwortet, wie es sich die Fragesteller:innen vorstellen. Manche Leute leben in der völlig absurden Vorstellung, dass eine öffentlich gut sichtbare Praxis irgendwie als eine Art tiermedizinische Tourist-Info für jedermann zu fungieren hätte. Aber zumindest aus unserem Leserkreis kommen in der Mehrzahl Anfragen, an deren Formulierung und Höflichkeit nichts auszusetzen ist und deren Anliegen man auch ein Stück weit nachvollziehen kann. Und da gibt es sehr wohl Fälle, in denen man helfen möchte und könnte, und zwar ohne, dass man dabei eine Ferndiagnose stellen müsste. Vielen ist ja schon geholfen, wenn man ihnen einen Fingerzeig in die richtige Richtung gibt, also zum Beispiel eine bestimmte Praxis oder Klinik empfiehlt oder aufzeigt, welche diagnostischen Verfahren angesichts einer bestimmten Problemstellung noch durchgeführt werden sollten. Solche Hilfestellungen sind meilenweit entfernt von der medizinethischen Grauzone „Ferndiagnose“!
Um ein weiteres Beispiel anzuführen: Man kann natürlich – mit entsprechendem Vorbericht durch die Besitzer – auch Fremdlaborwerte durchsehen und beurteilen. Von den uns Praktiker beratenden Kolleginnen und Kollegen in den Großlaboren erwarten wir das ja auch, ohne dass sie je den Patienten, um den es geht, gesehen hätten. Man wird über Laborwerte nur selten eine definitive (Fern-)Diagnose stellen können, aber auch hier kann man den Tierhalter:innen oft wertvolle Hinweise für das weitere Vorgehen geben, ohne sich ethisch irgendwie fragwürdig zu verhalten.
Und dann gibt es noch die Fälle, in denen man eben schon valide Verdachtsdiagnosen oder gar echte und definitive Ferndiagnosen stellen kann. Ein gutes Foto eines Hundegebisses zum Beispiel mag sehr wohl die Diagnose „Komplizierte Zahnfraktur“ ermöglichen, kombiniert mit dem Ratschlag, da so schnell wie möglich was zu unternehmen. Oder die Schilderung der Symptome einer Hündin in mittleren Jahren, die vor sechs Wochen läufig war, nun lustlos ist, einen dicken Bauch hat und sehr viel trinkt und pinkelt: Da drängt sich natürlich die höchstwahrscheinlich zutreffende Verdachtsdiagnose „Pyometra“ geradezu auf, wieder gekoppelt mit dem Ratschlag, sich unverzüglich darum zu kümmern.
Ein Zweig der Telemedizin, die Tele-Triage, wird in den nächsten Jahren angesichts der gnadenlosen Überforderung der tiermedizinischen Notdienststrukturen eine zunehmende und keinesfalls zu unterschätzende Bedeutung erlangen, eventuell durch die schon angedachte Einrichtung von Notruf-Leitstellen. Sehr viele (und durchaus sinnvolle!) Anfragen drehen sich eigentlich nur um eines: Mein Tier zeigt diese oder jene Symptome! Ist das eine Notfallsituation? Muss ich zum Notdienst? Oder kann das bis Montag warten? Wer darauf pauschal antwortet, dass man das aus der Ferne nicht beurteilen könne, macht es sich definitiv zu einfach! Schließlich ist das seit Jahrzehnten unser ganz normaler Alltag: Wir hören uns die telefonischen Schilderungen der Tierbesitzer:innen an und entscheiden dann, ob wir das Tier sofort, am Nachmittag, morgen oder gar erst nächste Woche sehen müssen. Tele(fon)-Triage halt! Ein ganz normaler Vorgang, der umso wichtiger wird, je überlasteter tiermedizinische Einrichtungen sind bzw. werden.
Wenn eine Kollegin – wie neulich erst geschehen – ein „Notdienst-Bullshit-Bingo“ veröffentlicht, in dem sie den ganzen Unsinn schildert, der als vermeintlicher Notfall am Wochenende in einer überlasteten Tierklinik aufschlägt, mit der berüchtigten Zecke an einem Hundekopf als Höhepunkt, dann ist das zwar erst mal amüsant, aber nur bis zu dem Moment, wo man sich fragt, wie es eigentlich dazu kommen kann, dass solche Fälle überhaupt angenommen werden, und ob die betreffende Klinik von Tele-Triage noch nie was gehört hat.
So weit, so gut! Wir halten fest: Dem Motto „Ferndiagnosen? Nein!“ des Kollegen Jonigkeit können und wollen wir in dieser harschen Ausschließlichkeit nicht folgen. Verlaufskontrollen, gute medizinische Ratschläge und in manchen Fällen sogar (Verdachts-)Diagnosen über Telekommunikationskanäle sind unter bestimmten Voraussetzungen durchaus möglich und wohl auch zunehmend notwendig.
ABER, und jetzt kommen gleich zwei Haken, zumindest für Sie als Tierhalter:innen!
Erstens kann das ganze Konzept der Telemedizin natürlich nur funktionieren, wenn die entsprechenden Leistungen bzw. die dafür aufgewendete Zeit auch berechnet werden. Da mögen manche Tierhalter:innen von uns „enttäuscht“ sein, weil wir ja ihrer Meinung nach (wegen unserer Tierliebe natürlich!) sowieso alles mögliche umsonst machen müssten, oder aber sich davon „überrascht“ zeigen, dass eine OP-Nachkontrolle über Telekommunikation tatsächlich auch was kostet – Fakt ist: Die GOT (Gebührenordnung für Tierärzte) schreibt auch für Beratungen über Telekommunikationsmittel eine Gebühr vor. Davon abgesehen wäre es natürlich grober betriebswirtschaftlicher Unfug, aufgewendete Zeit nicht zu berechnen.
Wenn wir Ihnen also vorschlagen, Nach- bzw. Verlaufskontrollen und etwaige Medikationsumstellungen aufgrund bestimmter Umstände (Entfernung, Zeit, familiäre Zwänge, etc.) über Telekommunikationskanäle durchzuführen, dürfen Sie bitte nicht dem Irrtum unterliegen, dass diese Leistungen kostenlos wären. Jede(r) Einzelne mag für sich das Gefühl haben, dass es unangemessen wäre, für so eine „Kleinigkeit“, die ja vermeintlich nur ein paar Minuten Zeit in Anspruch nimmt, überhaupt etwas zu berechnen, aber das ist nun mal ein Denkfehler. Sie nehmen aus Ihrer Sicht nur wahr, dass Sie mal schnell eine Nachricht mit einem oder mehreren Fotos, mit Laborwerten und noch ein paar Zeilen Text an uns schicken oder mit uns telefonieren. Dann bekommen Sie Ihre Antwort, oft recht knapp gehalten. Das klingt aus Ihrer Sicht vielleicht nach wenig Aufwand. Ein bisschen über Ihren Tellerrand schauen müssen Sie aber dann doch: Ihre Nachricht bzw. Anfrage muss von einer meiner Mitarbeiterinnen zur Kenntnis genommen, überflogen und dann in die Arbeitsliste für die Tierärzt:innen aufgenommen werden. Diese arbeiten sich in freien Minuten durch die Liste und formulieren bzw. diktieren Antworten, die dann wiederum an Sie herausgehen. Danach muss der Vorgang entsprechend unserer gesetzlichen Dokumentationspflicht noch in die digitale Karteikarte Ihres Tieres eingepflegt werden. Für eine in diesem Sinne recht aktive Praxis wie die unsere reden wir von Hunderten solcher Vorgänge pro Jahr, deren Bearbeitungszeit sich nach unseren Berechnungen mindestens (!) zu je zwei vollen 40-Stunden-Wochen für eine Tierärztin / einen Tierarzt und für eine Tiermedizinische Fachangestellte summiert. Das geht natürlich nicht für lau!
Zweiter Haken: Wir haben – wie heutzutage die meisten Praxen – mit der Betreuung unserer echten, unserer Real-Life-Kunden, genug bis mehr als genug zu tun. Trotz unserer oben erläuterten Einstellung, dass man bei Bitten um Fernberatung durch Menschen, deren Tiere wir nie gesehen haben und auch nie zu sehen bekommen werden, in vielen Fällen (und gegen angemessene Bezahlung!) durchaus gern helfen könnte und auch möchte, klappt das vom Arbeits- und Zeitaufwand her einfach nicht. Wie schon erwähnt: Wir erhalten mindestens 1000 solcher Anfragen pro Jahr, oft mit seitenlangen Erläuterungen und jeder Menge Dateianhängen (Fotos, Röntgenbilder, Laborbefunde, etc.), müssten also bei korrekter und professioneller Bearbeitung mehr als einen Monat unserer Jahresarbeitszeit in diese Tätigkeit stecken. Sorry, das können wir leider nicht machen, weil es einfach nicht mehr in unseren sowieso schon übervollen Arbeitsalltag reinpasst.
Deshalb eine klare Ansage: Unsere eigenen, also Kundinnen und Kunden im echten Leben, können uns natürlich auf jedem möglichen Weg um Rat und Hilfe ersuchen und werden von uns – wenn es nötig und machbar ist – auch telemedizinisch betreut. Reine Fernberatungsanfragen zu Tieren, die wir gar nicht kennen, können wir – so leid uns das tut – beim besten Willen nicht beantworten. Es hat absolut nichts mit Unhöflichkeit zu tun, wenn Sie auf entsprechende Nachrichten keine Antwort erhalten. Es geht nur einfach nicht, weil wir unsere Arbeitskraft auf die von uns tatsächlich betreuten Patienten konzentrieren müssen.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,
Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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