Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin
Persistierende Milchcanini, also Milcheckzähne, die im Rahmen des Zahnwechsels nicht von selber ausfallen, treten speziell bei kleinen Hunderassen häufig auf. Bei den „Esern“, also den Maltesern, Bolognesern und Havanesern, aber auch beim Yorkie, beim Zwergpinscher, beim Chihuahua und anderen Zwergrassen sollten Welpenkäufer die (oftmals nicht unbeträchtlichen) Kosten der chirurgischen Entfernung solcher hartnäckiger Milchzähne besser gleich mal auf den Kaufpreis draufrechnen.
Persistierende Milchcanini müssen früher oder (etwas) später, aber auf jeden Fall extrahiert werden. Eilig ist das dann, wenn sich die Milchzähne und die Nachrücker des Dauergebisses ins Gehege kommen und dadurch eine Malokklusion (Zahnfehlstellung) droht. Etwas mehr Zeit hat man, wenn das nicht der Fall ist, aber auch dann darf man nicht zu lange abwarten, weil sich zwischen dem persistierenden Milchzahn und dem ganz eng daneben stehenden Dauerzahn unweigerlich Detritus (Dreck) ansammelt, was eine schnell schlimmer werdende Entzündung verursacht, die im weiteren Verlauf auch das Parodont des Dauer-Eckzahnes irreparabel beschädigen kann.
Der größte Hemmschuh bezüglich der zeitlich korrekten Versorgung dieses Problems sind leider oft Züchterinnen und Züchter, die den Käufer:innen ihrer Welpen zu unverantwortlich langem Zuwarten raten. Die sich dahinter verbergende Motivation besteht natürlich darin, durchaus berechtigten Vorhaltungen bezüglich züchterischen Versagens und eventuellen Schadensersatzforderungen aus dem Weg zu gehen. Wir haben es bei persistierenden Milchcanini nun mal mit einer erblichen, also zuchtbedingten Störung des Zahnwechsels zu tun, die denkbar einfach zu vertuschen ist. Werden die nicht von selber ausfallenden Milcheckzähne rechtzeitig und korrekt entfernt, kann man das bei ansonsten normaler Zahnstellung später nicht mehr nachweisen. Solche Hunde bekommen also völlig problemlos ihre Zuchttauglichkeit bescheinigt und zeugen dann natürlich wieder Nachkommen, die ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit schon unter einem Jahr ihren ersten Eingriff in Narkose benötigen. Irgendwelche weit verbreiteten Gewissensbisse, die Kosten für diese Intervention den in der Regel nichtsahnenden Welpenkäufern aufzubürden, können wir aus unserer Erfahrung nicht feststellen. Annähernd alle frischgebackenen Besitzer:innen der betroffenen Rassen sind NICHT über dieses Problem aufgeklärt worden.
Gut, wie auch immer, diese persistierenden Zähne müssen also raus, und zwar komplett, mit ihrer ganzen Wurzel. Dabei kann überhaupt nicht die Rede sein von „Zähne ziehen“ in dem Sinne, dass man so einen Milcheckzahn einfach mal schnell mit der Zange packen und rausziehen könnte. Die Milchcanini des Hundes haben extrem lange, dünne und fragile Wurzeln, die bei jeder Form übermäßiger Kraftanwendung sofort abbrechen, was dann den Eingriff schlagartig ziemlich kompliziert und unangenehm machen kann.
Milcheckzähne können „geschlossen“ oder „offen“ extrahiert werden, siehe das unten verlinkte Video einer geschlossenen Extraktion unseres amerikanischen Kollegen Brett Beckman. Welches Verfahren gewählt wird, hängt von der durch dentales Röntgen ermittelten Situation im Wurzelbereich und nicht zuletzt auch von Vorlieben und Erfahrung der den Eingriff durchführenden Person ab. In der Regel wird man sich zur geschlossenen Technik entschließen, wenn man aufgrund der angefertigten Röntgenbilder von einer nicht zu langen und nicht zu zerbrechlichen Zahnwurzel ausgehen kann, oder auch bei Milcheckzähnen, die schon eine leichte Beweglichkeit aufweisen. Lassen die Röntgenbilder aber – wie in unserem Fall hier, siehe Fotos – eine sehr lange, fragile Wurzel erkennen und sitzt der Milchzahn wie festbetoniert im Kiefer, stellt die technisch anspruchsvollere offene Extraktionstechnik die bessere und sicherere Alternative dar. Bricht man beim Versuch einer geschlossenen Extraktion die Wurzel ab, muss man ebenfalls zur offenen Technik wechseln, um die Wurzelspitze zu bergen.
Frakturierte Wurzelspitzen dürfen nur dann belassen werden, wenn sie auf den Röntgenbildern klare Anzeichen für eine schon ablaufende Resorption erkennen lassen. In allen anderen Fällen besteht die Gefahr von schmerzhaften Komplikationen, die einen erneuten Eingriff nach sich ziehen können. Nach der Operation müssen erneut Röntgenaufnahmen angefertigt werden, um die komplette Entfernung aller Zahnanteile beweisen zu können. Diese Aufnahmen dienen auch zum Nachweis einer eventuellen Beschädigung des Dauer-Eckzahnes, zu der es bei zu robustem Vorgehen und speziell der geschlossenen Technik leider kommen kann.
Noch ein Hinweis an unsere Kolleginnen und Kollegen, denen sowas auffallen könnte: Der Hund, von dem unsere Bilder stammen, hatte beidseitig persistierende Milchcanini. Wir haben die besten Aufnahmen ohne Berücksichtigung der richtigen Seite rausgesucht. Zum Beispiel zeigt das Foto des extrahierten Zahnes den von der rechten Seite, obwohl die OP-Bilder von links aufgenommen wurden.
Fazit: Persistierende Milchcanini müssen raus! Bei den in erster Linie betroffenen Rassen sollte der Zahnwechsel sehr engmaschig überwacht werden. Wenn akut keine Fehlstellung droht, kann man mit der Extraktion ein paar Wochen zuwarten, aber nicht endlos, weil es sonst auf jeden Fall zu parodontalen Entzündungen und zu einer damit einhergehenden Gefährdung des Dauer-Eckzahnes kommen wird. Ihr Ansprechpartner für dieses Problem ist eine Tierärztin bzw. ein Tierarzt, die/der sich mit Zahnproblemen auskennt, nicht die Züchterin bzw. der Züchter Ihres Hundes, denn die /der hat es eigentlich verbockt und wird demzufolge alles tun, um das Problem klein zu reden oder möglichst von sich weg zu schieben. Viele der betroffenen Hunde werden nach unserer Erfahrung aufgrund fahrlässiger Züchter-Ratschläge viel zu spät korrekt behandelt, mit oftmals reichlich unangenehmen Konsequenzen.
Video einer geschlossenen Extraktion.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,
Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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