Nebenwirkungen und unsere verkorkste Risikoeinschätzung (Nachtrag zum Librela-Artikel)

Von Ralph Rückert, Tierarzt

„Wenn behauptet wird, dass eine Substanz keine Nebenwirkung zeigt, so besteht der dringende Verdacht, dass sie auch keine Hauptwirkung hat.“

Gustav Kuschinsky, deutscher Pharmakologe (1904–1992)

Unter meinem letzten Artikel über das Medikament „Librela“ und seine eventuellen, unterstellten oder tatsächlichen Nebenwirkungen berichtete eine Leserin über ihre guten Erfahrungen mit dem Produkt. Eine andere Diskussionsteilnehmerin kommentierte das mit den Worten „Da hattet ihr bisher Glück.“

Ist das so? Ist die Einnahme oder Verabreichung eines Medikaments ohne das Auftreten von Nebenwirkungen wirklich ein Glück? Mit dieser Frage sollten wir uns nach meinem Gefühl mal kurz beschäftigen.

Basisinformationen zum Beipackzettel-Sprech bezüglich der Häufigkeit einer Nebenwirkung:

„Sehr häufig“ bedeutet mehr als 10 Prozent, kann also mehr als einen von zehn Behandelten betreffen.

„Häufig“ bedeutet 1 bis 10 Prozent, kann also bis zu einen von zehn Behandelten betreffen.

„Gelegentlich“ bedeutet 0,1 – 1 Prozent, kann also bis zu einen von 100 Behandelten betreffen.

„Selten“ bedeutet 0,01 – 0,1 Prozent, kann also bis zu einen von 1000 Behandelten betreffen.

„Sehr selten“ bedeutet weniger als 0,01 Prozent, kann also bis zu einen von 10.000 Behandelten betreffen.

„Nicht bekannt“ bedeutet, dass die Häufigkeit auf Grundlage der verfügbaren Daten nicht abschätzbar ist.

Wenn wir beim Beispiel „Librela“ bleiben, dann sind von rein lokalen Phänomenen an der Injektionsstelle abgesehen alle genannten unerwünschten Nebenwirkungen in die Kategorien „Selten“ und „Sehr selten“ eingeordnet, können also als absolutes Maximum einen von jeweils 1000 behandelten Hunden treffen. Ist es also wirklich Glück, wenn der eigene Hund mit Librela behandelt wurde und dabei keine Nebenwirkung aufgetreten ist?

Gegenfrage: Ist es ein Glück, dass wir alle, die wir diesen Text jetzt lesen, im Jahr 2023 nicht durch einen Unfall im eigenen Haushalt ums Leben gekommen sind? Würde man das so bezeichnen? Oder sagt man ganz im Gegenteil und völlig zu Recht, wenn man von jemand hört, der beim Glühbirnenwechsel vom Tritt gefallen ist und sich den Hals gebrochen hat, nicht eher: „Menschenskind, was für ein verteufeltes Pech!“?

Auf diesen Vergleich komme ich, weil 2023 etwa 16.000  Menschen in Deutschland durch Unfälle im eigenen Haushalt ums Leben gekommen sind. Das sind 0,02 Prozent der Gesamtbevölkerung. Tödliche Haushaltsunfälle würden also, wären sie als Nebenwirkung im Beipackzettel des Lebens aufgeführt, in die Kategorie „Selten“ eingeordnet. Es ist also absolut kein „Glück“, wenn ein Patient nicht von einer als selten definierten Nebenwirkung erwischt wird, sondern ausgemachtes Pech, wenn es doch passiert.

Nun wird wohl niemand auf die Idee kommen, sich im eigenen Haushalt nicht mehr zu betätigen oder gar zu bewegen, um dem seltenen Risiko des Todes im Haushalt zu entgehen. Genau so wenig sollte man bei entsprechender Indikation (die ist natürlich wichtig!) vor einem Medikament zurückzucken, bei dem selten oder sogar sehr selten eine schwerwiegende Nebenwirkung oder gar der Tod eintreten kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Hundehalter jeden Tag mehrfach ein höheres Risiko für den Tod unseres Tieres eingehen, wenn wir ihm die Leine abmachen und ihn sich frei bewegen lassen.

Es gibt mehrere wissenschaftliche Untersuchungen darüber, wie enorm falsch die Beipackzettelangaben zur Häufigkeit von Nebenwirkungen eingeschätzt werden, und zwar immer um ganze Größenordnungen zu hoch. Verblüffend ist, dass es bezüglich dieser wirklich krassen Fehleinschätzung wohl keinen oder kaum einen Unterschied zwischen der Normalbevölkerung und Ärzt:innen, Pharmazeut:innen oder Jurist:innen gibt. Das ergibt zumindest eine Untersuchung, die 2013 im Deutschen Ärzteblatt erschien (Verständnis von Nebenwirkungsrisiken im Beipackzettel, eine Umfrage unter Ärzten, Apothekern und Juristen, Dtsch Arztebl Int 2013; 110(40): 669-73; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0669). Zum Beispiel wurden für die Kategorie „Häufig“ (1 bis 10 Prozent) abenteuerlich hohe Zahlen bis 60 Prozent unterstellt.

Da kommt man natürlich schon ins Schlucken, denn das bedeutet, dass sowohl Laien als auch eigentlich als absolute Profis geltende Personen Medikamente um ein Vielfaches gefährlicher einstufen und darstellen, als sie tatsächlich sind. Das ist sehr dramatisch, weil dadurch höchstwahrscheinlich Patient:innen häufig von einer eigentlich sinnvollen Therapie abgehalten werden.

Dazu kommt dann noch der „Sicomatik-Effekt“ von Social-Media-Gruppen, die sich ausschließlich auf die tatsächlichen oder unterstellten Nebenwirkungen einzelner Präparate konzentrieren. Diesen Gruppen schließen sich natürlich vorwiegend Menschen an, die davon ausgehen, derartige Nebenwirkungen schon erfahren zu haben. Leute, die mit dem betreffenden Medikament nie ein Problem hatten, kommen logischerweise gar nicht erst auf den Gedanken, in eine solche Gruppe einzutreten. Tun sie es – aus welchen Gründen auch immer – doch, so ist ihre Verweildauer meist nur sehr kurz. Erfahrungsgemäß fliegt man aus derartigen Social-Media-Echokammern fast automatisch raus, wenn man postet, dass man selbst oder das Haustier das betreffende Medikament gut und ohne Nebenwirkungen vertragen hat. Dadurch entsteht natürlich ein maximal verzerrtes Bild, das aber perfekt zu den schon erläuterten Fehleinschätzungen passt.

Diese verkorkste Wahrnehmung von statistischen Wahrscheinlichkeiten beschränkt sich logischerweise nicht nur auf Medikamentennebenwirkungen, sondern zieht sich durch unser ganzes Leben und steht uns auch unglücklicherweise bei so mancher wichtigen Entscheidung brettlesbreit im Weg. Nebenbei bemerkt und als Tipp: Das Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Nobelpreisträger Daniel Kahnemann beschäftigt sich mit diesem Thema und mit Strategien zur Vermeidung von Fehlentscheidungen.

Bleiben Sie mir gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

 

© Ralph Rückert

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