Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin
So, nach einer kleinen Pause über die Feiertage nehmen wir als Einstieg in das neue Jahr gleich ein richtig schwieriges Thema auf die Hörner! Eine Warnung vorab: Bei der Diskussion des im Dezember gerade wieder aktualisierten Silvester-Artikels auf Facebook gab es einzelne Stimmen, die fragten, wer denn so lange „Romane“ (laut Textverarbeitung 20000 Zeichen) lesen würde. Dieser Artikel hier ist mit 27000 Zeichen sogar noch länger geworden, weil wir echt unser Herz ausschütten über ein auch und gerade für Sie als Tierbesitzer:innen extrem wichtiges Thema. Wir können also Menschen mit begrenzter Aufmerksamkeitsspanne nur von dem Versuch abraten, diesen intellektuell leider keineswegs barrierefreien Text durchlesen zu wollen!
Aber nun zur Sache: Wie schon in einem anderen Artikel vom April 2018 besprochen, gibt es seit 2016 die „Leitlinie Anästhesiologische Versorgung bei Hund und Katze“, herausgegeben durch die Fachgruppe Veterinärmedizinische Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie (VAINS) der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft (DVG). Diese Leitlinie möglichst weitgehend einzuhalten, ist (schon allein aus rechtlichen Gründen) für jede Praxis / Klinik ratsam, die Tiere in Narkose legt. Für Praxen wie unsere, die sich sogar ein Stück weit auf die Durchführung von Hochrisikonarkosen bei alten oder vorerkrankten Tieren kapriziert haben, ist die Leitlinie natürlich mehr oder weniger Gesetz.
Seit dem 22. November 2022 gilt nun auch noch die Neufassung der Gebührenordnung für Tierärztinnen und Tierärzte mit ihrer auffällig starken Differenzierung und Gewichtung all der Leistungen, die mit Narkosen und Narkoseüberwachung zu tun haben. Diese beiden „Züge“, die VAINS-Narkose-Leitlinie und die neue GOT, steuern aus Sicht von Ihnen, den deutschen Tierbesitzer:innen, unweigerlich auf eine frontale Kollision zu. Sie können sich eigentlich nur noch aussuchen, wo dieser Zusammenprall stattfindet: In Ihrem Geldbeutel oder auf dem Rücken Ihres Tieres!
Nach der alten Gebührenordnung war es noch möglich und üblich, unter einer selbst gewählten Bezeichnung gebündelte Leistungen in Rechnung zu stellen, ohne diese näher aufzuschlüsseln. Man hat sich also beispielsweise dazu entschlossen, ein Paket „Hochrisikonarkose“ oder „Ovarektomie (Kastration) Hündin, mittelgroß“ einzuführen, in dem alle entsprechenden Leistungen zusammengefasst waren. Solange man das im Zweifelsfall oder auf Verlangen aufdröseln konnte, wurde das so akzeptiert.
Damit gingen aber immer schon zwei Phänomene einher: Erstens hat man solche Pakete gern mal mit einem Schielen auf den Preis geschnürt, sozusagen als stillschweigende Sonderangebote, indem man halt einige Leistungen, die in der GOT gar nicht aufgeführt waren, zwar erbracht, aber nicht ausdrücklich berechnet hat. Zweitens haben sich über die Jahre durch ein Fortschreiten der Technik oder der fachlichen Maßstäbe Leistungen neu entwickelt, die dann stillschweigend und ohne Berechnung in solche Pakete Einzug gehalten haben, ohne dass sich dadurch der Preis drastisch verändert hätte. Ein Beispiel dafür wäre das Abstellen einer Tiermedizinischen Fachangestellten nur zur Überwachung der Narkose und das Führen eines Narkoseprotokolls als Dokumentation dieser Überwachung.
Für Sie als Tierhalter:innen war das gut und schlecht gleichermaßen. Gut natürlich aus finanzieller Sicht, weil sie eben gern mal Leistungen bekommen haben, für die Sie nicht oder nur sehr wenig bezahlen mussten. Schlecht deshalb, weil Sie (zumindest anhand der Rechnung) nie wirklich nachvollziehen konnten, was genau unternommen wurde, damit Ihr Tier seine Narkose unbeschadet übersteht. Damit räumt die neue GOT nun definitiv auf, weil wirklich JEDE erbrachte Leistung mit ihrer zugehörigen Ziffer auf der Rechnung einzeln aufgelistet werden muss. Leistungspakete sind nicht mehr gestattet. Die Neufassung berücksichtigt darüber hinaus nun auch eine ganze Reihe von Leistungen, die sich zwischenzeitlich sozusagen eingeschlichen hatten und in der alten Gebührenordnung gar nicht aufgeführt waren. Damit kann und darf man sie jetzt aber auch nicht mehr einfach unter den Tisch fallen lassen, sondern MUSS sie verpflichtend ausweisen und berechnen, wenn man nicht gegen die GOT verstoßen und dafür sanktioniert werden will.
Auch das hat für Sie logischerweise wieder eine gute und eine schlechte Seite. Gut und in unseren Augen sehr begrüßenswert ist die Tatsache, dass alle Praxen und Kliniken in Sachen Narkose und Überwachung sozusagen die Hosen runterlassen müssen. Für den Laien oftmals recht kryptisch klingende Paket-Leistungen, bei denen man als Tierbesitzer:in letztendlich nie wirklich wusste, was sich dahinter verbarg, sind Geschichte. Wenn Sie nicht schon zuvor kluge Fragen gestellt haben, können Sie nun spätestens aus der Rechnung für einen Eingriff an Ihrem Tier lückenlos nachvollziehen, welche Leistungen erbracht wurden oder nicht. Schlecht für Sie: Diese Rechnung wird dadurch natürlich absolut nicht billiger!
Nun werden viele sagen, dass ihnen das nicht unbedingt weiter hilft, weil sie ja als medizinische Laien nicht wissen können, was in Sachen Narkose und Überwachung unbedingt gegeben sein sollte. Diesem Umstand kann aber abgeholfen werden. Zum einen können Sie sich natürlich die offen zugängliche VAINS-Leitlinie selber durchlesen, aber das ist für Laien echt hartes Brot. Zum anderen können wir Ihnen ja hier – in aller Kürze und ohne den Rahmen des Artikels zu sprengen – aufführen, welche Leistungsziffern in der Rechnung auftauchen sollten, damit Sie im Nachhinein zufrieden sein können mit dem, was für die Narkosesicherheit Ihres Hundes oder Ihrer Katze unternommen wurde. Also, ran an den Speck!
Ziffer 16 „Allgemeine Untersuchung mit Beratung“ oder Ziffer 21 „Allgemeine Untersuchung ohne Beratung“ oder (mindestens!) Ziffer 643 „Eingehende Untersuchung einzelner Organe, klinisch“ (in diesem Fall des Herz-Kreislauf-Systems).
Zitat aus der Leitlinie: „Grundlage der präanästhetischen Untersuchung ist eine strukturierte, zielgerichtete Anamnese. (…) Der zweite Schritt der Risikoeinschätzung ist eine Allgemeinuntersuchung mit Fokussierung auf Herz-Kreislauf-System und Atmung. Erfasst werden Herzfrequenz, Pulsfrequenz bzw. Vorhandensein eines Pulsdefizites, Pulsqualität, Schleimhautfarbe, kapilläre Rückfüllzeit, Atemfrequenz, innere Körpertemperatur. Außerdem erfolgt eine Auskultation von Herz und Lunge. Zusätzlich wird das aktuelle Körpergewicht und der Ernährungszustand bzw. Body Condition Score ermittelt.“
Anmerkung von uns: Wurde Ihr Tier vor der Narkoseeinleitung nicht untersucht, bringt das in unseren Augen eine wirklich sagenhafte Wurstigkeit zum Ausdruck!
Ziffern 225 und 226 „Venenkatheter, peripher einlegen“ und „Venenkatheter, entfernen“
Die Leitlinie sagt dazu: „Ein peripherer Venenverweilkatheter ist heute verpflichtend, wenn eine Allgemeinanästhesie oder eine tiefe Sedation bei Hund und Katze durchgeführt werden. Auf ihn kann nur bei diagnostischen oder therapeutischen Routineeingriffen von wenigen Minuten Dauer (< 10 min) mit geringem anästhesiologischem und operativem Risiko bei gesunden Patienten verzichtet werden, z.B. bei der Kastration eines gesunden Katers. Jedoch muss auch in diesen Fällen alles Notwendige patienten- und zeitnah zur Verfügung stehen, um im Notfall unverzüglich einen Venenkatheter legen zu können. Im Falle eines Zwischenfalls oder einer Narkosekomplikation verschenkt man wertvolle Zeit und riskiert das Leben des Patienten, wenn kein Venenzugang vorhanden ist und dieser erst noch gelegt werden muss. Bei einer Herz-Kreislauf-Insuffizienz oder einem Herzstillstand gelingt dies oft nicht mehr. Die Chance des Patienten zu überleben reduziert sich damit dramatisch.“
Anmerkung von uns: Auch zu kastrierende Kater bekommen bei uns einen Venenkatheter gelegt, weil es eben so ist, wie es die Leitlinie in den letzten drei Sätzen des Zitats erläutert. Passiert doch irgendwas, ist es fast immer zu spät, noch einen Zugang zu legen.
Ziffer 344 „Intubation, endotracheale“ oder/und 345 „Intubationsnarkose, endotracheale mit Spontanatmung“
Was die Leitlinie dazu sagt: „Ein Endotrachealtubus sichert den Atemweg, verhindert eine Aspiration, ist Voraussetzung für eine sichere Inhalationsanästhesie und ermöglicht die Beatmung des Patienten. Alle Patienten, bei denen der Atemweg möglicherweise eingeengt ist (brachyzephale Tiere) oder eine Aspiration droht (Zahnbehandlung, Eingriffe in der Mundhöhle, Oesophagus-, Magen-Darm-Erkrankungen, nicht nüchterne Tiere), müssen intubiert werden, unabhängig davon, ob eine Inhalations- oder Injektionsanästhesie durchgeführt wird. Auch für andere Risikopatienten wird eine Intubation dringend empfohlen.“
Anmerkung von uns: Alle Hunde und Katzen, die bei uns in Narkose gelegt werden, werden auch intubiert! Da wir so gut wie alle Eingriffe unter Gasnarkose durchführen, ist das sowieso zwingend erforderlich. Und wir haben schon viel zu oft erlebt, dass Tiere, die uns als futternüchtern für eine Narkose übergeben wurden, alles andere als nüchtern waren, und wenn es da in der Narkose zu einem Reflux / zum Erbrechen kommt, dann rettet nun mal nur der Tubus den Patienten vor schwersten und lebensbedrohenden Komplikationen.
Ziffer 234 „Infusion, per Schwerkraft“ oder 235 „Infusion, per Infusomat“
In der Leitlinie steht: „Während der Allgemeinanästhesie werden dem Patienten intravenös 3 (Katze) – 5 (Hund) ml/kg KM/h einer Vollelektrolytlösung appliziert. Prinzipiell muss die Infusionsrate an den hämodynamischen Zustand des Patienten angepasst werden (…). Liegen Veränderungen von Blutparametern oder spezielle Erkrankungen, wie z.B. eine Herzinsuffizienz, vor, wird eine individuelle an diesen Veränderungen ausgerichtete Infusionstherapie durchgeführt, ebenfalls bei einer prä- oder intraoperativen Hypovolämie. Während der OP-Vorbereitungen (Scheren, Säubern) oder in Transportphasen kann bei gesunden Patienten eine Infusionstherapie unterbleiben, wenn diese Zeiträume nur von kurzer Dauer sind, ebenso bei sehr kurzer Anästhesiedauer.“
Anmerkung von uns: Einen absinkenden Blutdruck sehen wir bei einer Mehrzahl der Narkosepatienten. Ein Unterschreiten von definierten Grenzwerten sollte man wohlweislich nicht tolerieren. Ein korrigierendes Eingreifen ist eigentlich nur über eine laufende Infusion mit eventuellen Medikamentenzusätzen schnell und einfach machbar.
Ziffer 349 „Monitoring mit bis zu zwei Parametern“ oder Ziffer 350 „Monitoring mit mehr als zwei Parametern“
Die Leitlinie: „Da viele Komplikationen mit klinischen Methoden nicht sicher erfasst werden können (z.B. Atemdepression, Rhythmusstörungen, Blutdruckabfall), ist eine Ergänzung durch apparative Verfahren sinnvoll. Jeder Patient soll mittels Pulsoximetrie überwacht werden, auch die Ableitung eines Elektrokardiogramms wird empfohlen. Ausnahmen können eine sehr kurze Dauer der Allgemeinanästhesie, Transportphasen oder diagnostischen Prozeduren, bei denen die Kabel stören, sein. Bei Narkosen über 30 Minuten Dauer und vor allem bei der Inhalationsanästhesie (blutdrucksenkende Wirkung der Inhalationsanästhetika) muss der Blutdruck gemessen werden. Da nahezu alle Anästhetika atemdepressiv wirken, ist die Pulsoximetrie als einfach anwendbares, nicht-invasives Verfahren zur Überwachung der arteriellen Sauerstoffsättigung, der Pulsfrequenz und des Pulsrhythmus ein ausgesprochen sinnvolles Verfahren. In der Humanmedizin wird der Pulsoximetrie, ebenso wie der Kapnometrie/-graphie, großes Potenzial hinsichtlich der Vermeidung von Narkosezwischenfällen zugeschrieben (Tinker et al., 1989). Für die Pulsoximetrie konnte beim kranken Hund eine positive Tendenz berechnet werden (statistisch nicht gesichert). Bei kranken Katzen reduziert die Kombination von Pulsoximetrie und klinischer Überwachung des Pulses das Risiko zu Versterben um mehr als 50 % (Brodbelt, 2006).“
Anmerkung von uns: Ein Verzicht auf apparatives Monitoring müsste eigentlich heutzutage annähernd undenkbar sein. Wir könnten ohne das Dauergepiepse der Monitore gar nicht mehr beruhigt operieren!
Ziffer 281 „Narkoseprotokoll, einfach, je angefangene 15 Minuten“ oder Ziffer 282 „Narkoseprotokoll, ausführlich, je angefangene 15 Minuten“
Das entsprechende Zitat aus der Leitlinie: „Die tierärztliche Pflicht zur Dokumentation (Berufsordnung) muss auch in Bezug auf die Anästhesie erfüllt werden. Eine schriftliche Dokumentation der im Anästhesieverlauf erhobenen Befunde, Medikationen und Maßnahmen kann bei weiteren Narkosen des Patienten als Entscheidungsgrundlage und in Streitfällen als Beweisgrundlage dienen. Vermerkt werden das Ergebnis der präanästhetischen Untersuchung (inkl. aktueller Körpermasse und Einschätzung des Gesundheitsstatus, z.B. ASA-Klassifizierung), sowie die Dosis, der Zeitpunkt und die Art der Applikation aller in der perianästhetischen Periode verabreichten Medikamente und Infusionen. Daneben werden alle Komplikationen, ungewöhnlichen Effekte/Nebenwirkungen, Vorkommnisse und Begleitumstände festgehalten. Durch die wünschenswerte Ausweitung der Dokumentation auf die überwachten Parameter werden die Erkennung ungewöhnlicher Werte und die Einschätzung von Veränderungen im Verlaufe der Narkose erleichtert. Zusätzlich ermöglicht dies die Beurteilung der Effekte von Interventionen, wie der Gabe von Medikamenten, der Beatmung oder der Korrektur von Fehleinstellungen. Ein solches Verlaufsprotokoll fördert das Erkennen von Zusammenhängen und ist so ein wichtiges Instrument zur Verbesserung der anästhesiologischen Fähigkeiten und der Qualitätskontrolle. (…) Überwachte Parameter sollen in einem Verlaufsprotokoll regelmäßig im Abstand von 5 bis 10 Minuten (abhängig von Risiko, Eingriff, Situation) aufgezeichnet werden. Dokumentiert werden zum Beispiel Herz- und Atemfrequenz, Oxygenierungsstatus (Schleimhautfarbe, pulsoximetrisch gemessene Sättigung), kapilläre Rückfüllzeit, Blutdruck, innere Körpertemperatur, Narkosetiefe und andere Ergebnisse der Überwachung.“
Anmerkung von uns: Taucht der Posten auf der Rechnung auf, kann man daraus fast hundertprozentig ableiten, dass da eine Person ausschließlich für die Narkoseüberwachung abgestellt war, ganz so, wie es eben sein sollte! Theoretisch geht das natürlich auch ohne Protokoll, aber es gilt nun mal der unter juristischen Gesichtspunkten sehr wichtige Grundsatz, dass nicht stattgefunden hat, was nicht dokumentiert worden ist. Wie oben schon erwähnt, ist das Führen eines Narkoseprotokolls ein Musterbeispiel für Leistungen, die im Zeitraum der Gültigkeit der alten Gebührenordnung in aller Stille entstanden sind. Für gute Praxen und Kliniken sind nicht protokollierte Narkosen inzwischen annähernd undenkbar und nur in Notfällen bei gleichzeitiger Personalknappheit akzeptabel. Beachten Sie, dass dieser Posten in der neuen GOT zeitabhängig formuliert worden ist, nämlich pro 15 Minuten. Bei einer Narkosedauer von zwei Stunden ist das Protokoll also achtmal zu berechnen.
Achtung! An dieser Stelle ein informativer Tipp, ein Einschub, der mit der Neufassung der Gebührenordnung rein gar nichts, aber mit Narkosesicherheit sehr viel zu tun hat: Wenn Sie Ihr Tier nach einer Narkose noch in Seitenlage zur Mitnahme nach Hause übergeben bekommen, sind Sie leider (oder durch vorheriges Rumtelefonieren nach dem billigsten Angebot) an eine Praxis oder Klinik geraten, die sich um die Leitlinien und die Sicherheit Ihres Tieres einen feuchten Kehricht schert. Wir sind immer wieder völlig entsetzt, wenn wir sowas hören oder gar wie erst neulich (siehe weiter unten) in irgendwelchen TV-Tierarzt-Formaten sehen. Es ist wirklich ganz einfach und für jede(n) zu verstehen: Mehr als die Hälfte (!) der narkosebedingten Todesfälle passieren in der Aufwachphase! Das Ende der Aufwachphase wird glasklar definiert durch das selbständige Aufrichten des Tieres in die Brust-Bauch-Lage! Das Entlassen eines Tieres, das sich noch nicht mal selbständig aufrichten kann, ist also völlig indiskutabel oder – grober ausgedrückt – unter aller Sau! Bei uns gilt die Anforderung, dass ein Tier nach einer Narkose frühestens dann die Praxis verlässt, wenn es das auf eigenen Füßen tun kann oder, im Fall von Tieren in Transportbehältern, könnte.
Und gleich noch ein weiterer Einschub, ein kleiner Exkurs in die Tierzahnmedizin: Man kann schmerzhafte Zahnbehandlungen natürlich gut und gerne unter Allgemeinanästhesie durchführen. Es hat sich aber inzwischen als Standard of Care etabliert, zusätzlich Lokal- bzw. genauer: Leitungsanästhesien (GOT-Ziffer 285) einzusetzen, wie sie uns Menschen von unseren eigenen Zahneingriffen wohl vertraut sind. Man könnte argumentieren, dass das ja wohl nicht wirklich nötig wäre, wenn das Tier ja sowieso in einer gut schmerzunterdrückenden Narkose liegt. Es hat sich aber gezeigt, dass man bei Anwendung von Leitungsanästhesien die Allgemeinnarkose deutlich niedriger dosiert und damit natürlich patientenschonender und risikoärmer fahren kann und dass die postoperativen Schmerzen dadurch nochmal verringert werden. In der alten GOT war auch dieser Punkt gerne mal in Paketleistungen integriert. Nach der Neufassung müssen Leitungsanästhesien zwangsläufig auf der Rechnung auftauchen und können den Tierbesitzer:innen als Ausweis für Praxen und Kliniken gelten, die maximal um das Wohl ihrer Zahnpatienten bemüht sind.
Fazit und Take-Home-Message: Finden Sie in Zukunft die angesprochenen Punkte auf der Rechnung für die OP / Narkose Ihres Tieres, können Sie sich mit Fug und Recht in dem guten Gefühl sonnen, dass da eine leitliniengerechte Narkose und Narkoseüberwachung durchgezogen wurde. Finden Sie sie ganz oder teilweise nicht, wurden „Kompromisse“ gemacht, in der Regel mit der Intention, Ihnen als Tierhalter:in den durchgeführten Eingriff preislich schmackhafter zu machen, natürlich unter Akzeptanz der damit einhergehenden Risiken auf dem Rücken Ihres Tieres. Dann können Sie frustriert oder enttäuscht sein, weil Sie damit nicht gerechnet hatten. Oder Sie müssen sich an der eigenen Nase packen, weil Sie die den Eingriff durchführende Praxis auf der Basis des „günstigsten“ Angebots ausgesucht hatten. Sie können nun mal nicht nach der billigsten Kastration „shoppen“ gehen und naiverweise glauben, dass Sie beim billigsten Anbieter eine ganz tolle und der Leitlinie entsprechende Narkose bekommen. Isso!
Häufig wird ein mehr oder weniger krasses Abweichen von den Empfehlungen der Leitlinie damit gerechtfertigt, dass es doch immer schon auch weniger aufwendig funktioniert hätte und kaum mal ein Tier durch die (Steinzeit-)Narkose gestorben wäre. Diese Argumentation ist meist auf Katzen bezogen, die tatsächlich eine relativ hohe Toleranz selbst für die krudesten Anästhesiemethoden zu haben scheinen. Die Statistik spricht aber eine andere und viel kältere Sprache: Alles in allem ist das Narkoserisiko in der Hunde- und Katzenmedizin auf einem Niveau, das dem der Humanmedizin etwa zur Zeit des Zweiten Weltkriegs entspricht. Da ist also wirklich jede Menge Luft nach oben, die wir aber nur dann ausnützen werden, wenn wir uns so weit wie möglich an die Anästhesieleitlinien halten.
Auf der anderen Seite der Medaille steht die Tatsache, dass Sie als Tierhalter:innen die Erbringung der aufgezählten Leistungen nach der neuen Gebührenordnung reichlich teuer bezahlen müssen. Leitliniengerechte Narkosen sind nun mal sehr personal- und zeitaufwendig. Ein Kollege hat es neulich bei einer berufsinternen Diskussion (natürlich überspitzt!) so ausgedrückt: „Alles, was unter Beachtung der Leitlinien länger als eine halbe Stunde in Narkose liegt, kostet gleich mal einen Tausender!“. In Bezug auf Narkosen – und damit auch so gut wie alle operativen Eingriffe – ist eine neue Ära angebrochen. Die bisherigen preislichen Maßstäbe kann man gleich mal in die Tonne treten. Das mit der alten Gebührenordnung über viele Jahre entstandene Preis-Leistungs-Gefühl funktioniert nicht mehr, weder bei Ihnen noch bei uns. Auch wir sind momentan immer wieder verdutzt über die resultierenden Endbeträge von Rechnungen für Eingriffe und Maßnahmen unter Narkose. Hilft aber alles nix! Wird eine Leistung erbracht, die in der GOT aufgeführt ist, muss sie auch verpflichtend berechnet werden. Alles andere wäre halt ein Verstoß gegen geltendes Recht.
Alles in allem hegen wir aber die begründete Hoffnung, dass die beschriebene Entwicklung den – wie erläutert – nach wie vor deprimierenden Narkosestandard in der deutschen Tiermedizin deutlich verbessern sollte, und das wäre natürlich eine feine Sache für alle Beteiligten! Wir können sicher alle dieses Zitat von Sir Robert Reynolds McIntosh, des ersten Lehrstuhlinhabers für Anästhesiologie in Europa, unterschreiben: „There should be no deaths due to anaesthesia!“ („Es sollte keine Todesfälle durch eine Narkose geben!“). Trotzdem passiert es immer wieder mal. Es ist auch bei uns schon passiert, und wir können sagen, dass uns wirklich niemand so leid tut wie die Besitzerinnen und Besitzer von Tieren, die durch einen schicksalshaften Narkosezwischenfall unerwartet verstorben sind, und dass es für uns Tiermediziner:innen eigentlich keine belastendere Situation in unserem Berufsleben gibt, als jemand so eine schreckliche Nachricht mitteilen zu müssen. Alles, was wir tun können, um solche Ereignisse zu vermeiden, müssen wir auch tun! Die VAINS-Leitlinie stellt in diesem Zusammenhang keineswegs überspannte Forderungen auf, wie leider selbst berufsintern manchmal behauptet wird, sondern formuliert absolute Basics, deren Nichtbeachtung mal mindestens fahrlässig ist. Wirklich schicksalshaft ist ein Narkosezwischenfall nur dann, wenn alle fachlich gut begründeten Maßnahmen zu seiner Vermeidung auch wirklich getroffen wurden.
Einen bösen Schlag unter die Gürtellinie stellen in diesem Zusammenhang TV-Doku-Soaps wie „Die Tierärzte – Retter mit Herz“ (ARD) dar, die bei manchen dargestellten Fällen den Eindruck in die Öffentlichkeit tragen, dass Narkosen nach indiskutablen Standards der Normalfall und völlig okay wären. Da liegt beispielsweise ein Hund wegen der Versorgung einer Hautwunde geschlagene zwei Stunden auf dem OP-Tisch, und zwar OHNE Endotrachealtubus und OHNE jedes Monitoring. Besonders bitter stößt einem auf, dass im Hintergrund ein Gasnarkosegerät und ein durchaus brauchbar wirkender Überwachungsmonitor zu sehen sind, diese guten und von der Leitlinie dringend geforderten Dinge dem Tier auf dem Tisch aber vorenthalten werden, aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer. Nach der mit zwei Stunden sehr bzw. zu lang dauernden Wundversorgung (ja, es gibt einen statistischen Zusammenhang zwischen der Narkosedauer und dem Narkoserisiko!) entschließt man sich, „noch schnell“ ein bisschen am Zahnstein des Hundes rumzukratzen und damit für zahnmedizinischen Pfusch die Dauer der Narkose nochmal zu verlängern, um dann am Ende das noch nicht wieder erwachte Tier für die Heimreise ins Cabrio der Besitzerin zu legen. Kann man natürlich so machen, aber man nimmt dabei sehenden Auges und ohne stichhaltige Begründung ein etwa vier- bis fünffaches Narkoserisiko in Kauf. Liegt ein Hund nicht intubiert und unter Spontanatmung von Raumluft derartig lang in Narkose, können da zwischenzeitlich Sauerstoffsättigungswerte von unter 60 Prozent auftreten, was man ohne Pulsoximetrie nicht mal mitbekommt. Wacht das Tier aus so einer Laissez-Faire-Narkose erfolgreich wieder auf, ist es halt wegen hypoxischen Untergangs der einen oder anderen Hirnzelle ein gutes Stückchen blöder, was aber meist nicht weiter auffällt. Hauptsache, die ganze Affäre wird für die Besitzer:innen bloß nicht zu teuer! Sowas kann einen schon stinksauer machen, weil es einfach am Ruf aller kratzt, die sich unter Beachtung der Leitlinien ein Bein ausreißen, um Narkosen so sicher wie möglich zu gestalten. Jede und jeder mit entsprechender Sachkunde, nicht zuletzt Tausende von Humanmediziner:innen, sehen das und denken sich mit geringschätzigem Auflachen: „Na ja, Viehdoktor halt! Man stelle sich das mal bei einem Menschen vor!“. Und sie haben in so einem Fall leider Recht mit ihrer Geringschätzung, und das ist wirklich bedrückend! Wir können uns in das Ausmaß an Blauäugigkeit oder Arroganz, das nötig ist, um eine fachlich derartig insuffiziente Vorgehensweise zur bundesweiten Ausstrahlung zu präsentieren, nicht mal ansatzweise reinfühlen. Alle anderen Zuschauer, die vielen Tierbesitzer:innen ohne entsprechende Sachkunde, sehen das, hören dann, wie unter bedauerndem Hinweis darauf, dass „da schon was zusammenkommt“, gerade mal 350 Euro für diesen Vorgang berechnet werden, und fallen dann von einem Entsetzen ins nächste, wenn sie in einer Praxis oder Klinik, die leitliniengerechte Narkosen fährt, für eine annähernd dreistündige Narkose dicke im vierstelligen Bereich landen. An diesem Punkt wird es neben arrogant und ignorant auch noch unkollegial, weil die, die es eigentlich richtig machen, sich aufgrund solcher hanebüchener Fernsehbeiträge dann auch noch gegen den Vorwurf der Abzockerei verteidigen müssen.
Sie als Tierbesitzer:innen werden sich aber auch mal langsam bewusst machen müssen, dass Sie mit der allseits beliebten und vermeintlich so cleveren Suche nach dem billigsten Angebot für Standardeingriffe letztendlich auch nach der billigsten und am wenigsten leitliniengerechten Narkose für Ihr Tier suchen. Wenn man mit dieser Vorstellung leben kann oder aus finanziellen Gründen muss – okay! Ansonsten sollte glasklar sein, dass Narkosesicherheit von drei Faktoren abhängt, nämlich von Wissen, Personal und Technik, und diese Faktoren nun mal alle drei ordentlich Geld kosten. Speziell in der Anästhesie schließen sich „billig“ und „gut“ mit Sicherheit gegenseitig aus. Von Seiten der Old-School-Billig-Billig-Hardliner wird oft das Argument in den Raum geworfen, dass „die Narkose gut ist, mit der man sich auskennt“. Ist natürlich Bullshit! Wenn man sich nur mit einem einzigen (Steinzeit-)Narkoseverfahren auskennt, das ungeachtet von Alter und Vorerkrankungen bei jedem Patienten zur Anwendung kommt, die Technik zu ihrer Überwachung nie gekauft hat und sich ausreichend Personal gar nicht leisten kann, ist das halt einfach Kacke und erfüllt die Forderungen der Leitlinie nicht mal ansatzweise!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,
Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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