Von Ralph Rückert, Tierarzt
Gestern war ich gerade dabei, einer Katze einen Venenkatheter für eine Narkose zu legen, als mir plötzlich auffiel, dass die zu diesem Zweck rasierte Stelle am Vorderbein für den Besitzer unschön oder sogar befremdlich wirken könnte. Vielleicht fragt sich ja so mancher, was das eigentlich soll. Früher war das doch auch nicht so, da hatten Hunde und Katzen nach einer Narkose keine rasierten Flecken an den Beinen. Deswegen hier eine kurze Erläuterung, warum eine Narkose, bei der Sie hinterher keine Rasurstelle an Ihrem Tier finden, nur veraltet und riskant gewesen sein kann.
Früher war es allgemein üblich – und auch ich habe es noch so gelernt – dass Hunde und Katzen mit intramuskulären Injektionen in Narkose gelegt wurden. Die Narkosemittel wurden also in einen Muskel gespritzt. Danach wartete man ab, bis das Tier einschlief, und begann dann mit dem geplanten Eingriff. Diese Vorgehensweise war einfach und kostengünstig, hatte aber ganz entscheidende Nachteile. Die Reaktion auf Narkosemittel ist individuell durchaus unterschiedlich. Wenn man ein Narkosemittel intramuskulär verabreicht, dauert es zehn bis zwanzig Minuten bis zum Wirkungseintritt. Erst dann kann man feststellen, ob die verabreichte Dosis zu wenig, zu viel oder genau richtig war. Eine eventuelle Korrektur braucht natürlich wieder die gleiche Zeit bis zum Wirkungseintritt. Es war zu diesen Zeiten durchaus üblich, dass Patienten während einer Operation anfingen aufzuwachen oder Schmerzäußerungen von sich zu geben. Genau so konnte es sein, dass es zu minutenlangen Atemstillständen kam, weil die verabreichte Dosis individuell zu hoch war.
Kurz gesagt: Eine Narkose, die intramuskulär verabreicht wird, ist nicht steuerbar und hochriskant! Im Gegensatz dazu wirken Narkosemittel, die über einen venösen Zugang (Venenkatheter) verabreicht werden, innerhalb von Sekunden. Das bedeutet, dass man jedem Patienten individuell und präzise so viel davon verabreichen kann, wie er benötigt, um die angestrebte Narkosetiefe zu erreichen. Nachdosierungen und Gegenmittel wirken natürlich ebenfalls innerhalb von Sekunden, so dass die Anästhesie vollständig steuerbar ist.
Regel Nummer 1: Ohne venösen Zugang (Venenkatheter) ist eine zeitgemäße und kunstgerechte Narkose bei Hund und Katze nicht mehr möglich.
Verstehen Sie also bitte den rasierten Fleck am Bein Ihres Tieres nicht als Ärgernis, sondern als Qualitätsmerkmal. Nur in wenigen Fällen, bei Tieren mit bestimmten Fellstrukturen, ist das Legen eines Zugangs ohne Rasur möglich. Sollte es aus persönlichen Gründen wie z.B. einer anstehenden Zuchtausstellung für Sie wichtig sein, dass wir möglichst nicht rasieren, sprechen Sie das bitte unbedingt an.
Zu allem Überfluss kann es sein, dass Ihnen nach einer Narkose in unserer Praxis bei Ihrem Tier noch etwas auffällt, nämlich ein für mehrere Stunden anhaltendes Hüsteln. Und auch dabei handelt es sich um ein Zeichen, dass eine weitere Anforderung zeitgemäßer Narkoseführung erfüllt worden ist: Ihr Tier war während der Anästhesie intubiert. Durch einen Luftröhrentubus werden die Atemwege optimal freigehalten, die Aspiration (Einatmung) von Flüssigkeiten wird effektiv unterbunden und die korrekte Zuführung von Sauerstoff und Narkosegasen ermöglicht. Bei Zahnsanierungen wird zudem verhindert, dass mit Bakterien aus den Zahnbelägen verseuchte Luft eingeatmet wird. Durch den Tubus wird die Schleimhaut der Luftröhre aber geringfügig gereizt, so dass das angesprochene Hüsteln als Nachwirkung auftreten kann.
Regel Nummer 2: Die Atemwege eines narkotisierten Patienten sollten unter allen Umständen durch einen Trachealtubus gesichert werden. Bei Hunderassen wie dem Mops und der Bulldogge ist das sogar absolut lebensnotwendig.
Abschließend können wir zusammenfassen, dass eine den Anforderungen der heutigen Zeit entsprechende Narkose bei Hund und Katze nur mit einem venösen Zugang und einem Trachealtubus möglich ist.
Es ist aber leider eine bedauerliche Tatsache, dass der von manchen Tierbesitzern auf die Tierärzte ausgeübte Preisdruck dafür sorgt, dass auch heute noch aus Kostengründen recht häufig intramuskuläre „Steinzeitnarkosen“ zur Anwendung kommen. Das ganz besonders leidtragende Tier ist dabei die Katze. Kein Eingriff wird so oft unter dem Motto „Geiz ist geil“ preislich bei mehreren Praxen abgefragt, bevor man sich für das billigste Angebot entscheidet, wie die Kastrationen von Kater und Kätzin. Hinterher ist man dann erstaunt, dass das Tier für mehrere Tage oder sogar für immer wesensverändert erscheint, was eine typische Auswirkung längerer Sauerstoffmangelzustände des Gehirns während einer nicht steuerbaren Narkose darstellt. Die Tiere erleiden also genau genommen einen Hirnschaden, weil die Operation unbedingt billiger als eine Tankfüllung für das Auto sein soll. Sie können sich darauf verlassen, dass wir uns auf diese Denkweise nicht einlassen. Auch bei kleinen Operationen wie der Katzenkastration werden die oben angeführten Grundregeln von uns eingehalten.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
©Ralph Rückert