Maligne Kunden und was sie anrichten (Teil 1): Another Shitstorm!

Von Ralph Rückert

Wenn mein Text Sinn machen soll, müssen Sie erst mal diesen Artikel in der Regionalzeitung „Nordkurier“ lesen. Weiterhin können Sie sich die Social-Media-Diskussion des Ereignisses auf Facebook geben, aus der ich vereinzelte Kommentare zitieren werde.

Fertig? Okay, dann hier gleich einleitend und ganz knapp meine Meinung: Dass der Hund auf dem Weg in eine Tierklinik letztendlich verstorben ist, tut jeder Tierärztin und jedem Tierarzt sehr leid, auch mir. Ansonsten: Eine einzige Sauerei! Eine Sauerei, wie die Tierbesitzer, die sich beileibe mehr als genug eigene Fehlleistungen vorwerfen lassen müssen, hier nun eine Rufmordaktion gegen die Kollegin gestartet haben. Eine Sauerei auch, wie sich eine Regionalzeitung diesbezüglich auf in meinen Augen fragwürdigste Art und Weise instrumentalisieren lässt. Und eine weitere Sauerei sind viele Kommentare, die man in der Diskussion auf Facebook finden kann.

Die Besitzerin des verstorbenen Hundes schreibt auf Facebook: „Niemand soll als Sündenbock bestraft werden oder herhalten“. Ach ja? Warum wendet man sich dann an einen willfährigen und verantwortungslosen Lokalreporter, wenn nicht, um die Kollegin mit maximaler Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen und damit seine niedrigsten Racheinstinkte zu befriedigen? Wie gesagt: Eine einzige Sauerei, wie hier auf der Existenzgrundlage und Psyche eines Mitmenschen rumgetrampelt wird, und zwar eigentlich anlasslos, wie noch auszuführen sein wird!

Fassen wir mal zusammen, was man sich aus dem Artikel und den Kommentaren der Besitzerin auf Facebook ableiten kann: Die dreijährige Hündin hat an einem Samstag, wohl um die Mittagszeit, einen anhaltenden Krampfanfall bekommen. Ab diesem Punkt wird es schon irgendwie undurchsichtig. In einem Kommentar schreibt die Besitzerin: „Es wurde innerhalb von Minuten reagiert“, andernorts aber: „Und da wir selbst im medizinischen Bereich tätig sind, haben wir natürlich alles Erdenkliche versucht. Irgendwann kommt man selbst nicht weiter und sucht sich Hilfe“. Irgendwann? Wie lang genau dauert das, bis man „irgendwann“ nicht mehr weiterkommt?

Nun gut, man hat dann wohl bei der Kollegin angerufen und wurde durch die Ansage auf dem Anrufbeantworter auf die notdiensthabende Praxis hingewiesen. Außerdem hat man noch erfolglos zwei weitere Praxen zu erreichen versucht. Nun hätte man zwei Möglichkeiten gehabt: Entweder vom Wohnort Meiersberg zur Notdienstpraxis nach Penkun (73 km, ca. 1 Stunde Fahrzeit) oder zur nächsten Tierklinik mit durchgehender Dienstbereitschaft in Neubrandenburg (nur 57 km und 55 Minuten Fahrzeit) fahren. Laut der Kommentare der Besitzerin auf FB hätte der notdiensthabende Kollege wegen anderweitiger Beanspruchung erst zwei Stunden später Zeit gehabt, so dass die einzige sinnvolle Entscheidung natürlich der sofortige Start zur Klinik in Neubrandenburg gewesen wäre.

Man hat sich aber – warum auch immer – dazu entschlossen, auf gut Glück die definitiv geschlossene Praxis der Kollegin in Liepgarten (immerhin auch 10 km und 10 Minuten Fahrzeit, und zwar in die genau falsche Richtung zur Klinik in Neubrandenburg) anzufahren und dort an der wohl im gleichen Gebäude befindlichen Privatwohnung zu klingeln. Die Kollegin hat geöffnet, aber – wie es im Artikel formuliert wurde – „lehnte es ab, Hündin Laika, die sich im Kofferraum quälte, zu helfen“. Es wird erwähnt, dass im Haus der Geburtstag des Kindes der Kollegin gefeiert wurde. Ich gehe davon aus, dass es zu einer mehr oder weniger langen Diskussion gekommen ist, die zusätzlich wertvolle Zeit verbraten hat. Und erst dann haben sich die Tierbesitzer (endlich!) auf den Weg zur Tierklinik in Neubrandenburg gemacht, von der sie aber inzwischen leider 70 Kilometer entfernt waren. Der Zeitverlust durch das Anfahren der geschlossenen Praxis der Kollegin hat nach meiner Einschätzung mindestens (mindestens!) eine halbe Stunde betragen. Wie wir gelesen haben, verstarb die Hündin dann leider vor Erreichen der Klinik.

Bis hierhin mag ich gar keine eindeutigen Schuldzuweisungen verteilen. Die Besitzer haben in meinen Augen nicht wirklich plan- und sinnvoll agiert, aber das dürfen sie. Rationales und kühles Handeln in einer Notsituation ist nun mal nicht jedem gegeben. Man sollte es nur hinterher, im Rückblick schaffen, die eigenen Fehler und die aus ihnen resultierenden Konsequenzen anzuerkennen, statt die Schuld bei anderen zu suchen.

Auch das Verhalten der Tierärztin ist selbst unter Kolleginnen und Kollegen nicht unumstritten, aber auf der Basis der zur Verfügung stehenden Informationen letztendlich nicht beurteilbar. Fakt ist: Sie hatte keinen Dienst, ihr Kind hatte Geburtstag (neben Weihnachten der wichtigste Tag in einem Kinderjahr) und sie ist niemandem eine Erklärung dafür schuldig, wie sie ihre Freizeit gestaltet und warum sie sich außerstande sah, den Fall anzunehmen.

Zwar sind wir TiermedizinerInnen von unserer Berufsordnung dazu verpflichtet, in einem Notfall jederzeit „Erste Hilfe“ zu leisten, was aber eine ziemlich aus der Zeit gefallene und aufgrund fehlender Begriffsdefinition absolut hohle Forderung darstellt. Zum Beispiel gibt es bei einem Dauerkrampfgeschehen (Status epilepticus? Oder was ganz anderes?) wie in diesem Fall eigentlich keine sinnvolle „Erste Hilfe“. So ein Patient braucht so schnell wie möglich stationäre Intensivbetreuung mit allen diagnostischen und therapeutischen Schikanen. Man nimmt ihn also, wenn man überhaupt entsprechend ausgestattet ist, entweder an und ist dann höchstwahrscheinlich für Stunden oder sogar das ganze Wochenende mit ihm beschäftigt, oder man lehnt ihn (aus welchen Gründen auch immer) konsequenterweise ganz ab, wenn das nicht machbar ist. Da irgendwie halbseiden ranzugehen, so von wegen „mal schnell einen Zugang legen, eine Spritze und stabilisieren“, bringt einen als Tierarzt sofort in gefährliche Nähe zu einem sogenannten Übernahmeverschulden.

Und ich betone nochmal: Wir sind keinem Besitzer Rechenschaft schuldig über die Gründe, warum wir unter bestimmten Umständen sein Tier nicht als Patient annehmen, wenn wir keinen Notdienst haben! Da mag der Geburtstag des Kindes schon im letzten Jahr wegen sowas geplatzt sein und man will eine Wiederholung unbedingt vermeiden – geht keinen was an! Da mögen (eben wegen Geburtstag) noch fünf Kinder anderer Familien im Haus sein, deren Beaufsichtigung nicht mehr gewährleistet wäre, wenn man den Fall annähme – geht keinen was an! Da mag es sein, dass man sich gerade ein Prosecco-Frühstück gegönnt und mindestens 0,8 Promille Alkohol im Blut hat – darf man in seiner Freizeit und geht keinen was an! Da mag es sein, dass man seit letzter Nacht Durchfall hat und alle paar Minuten auf die Toilette muss – geht verdammt nochmal keinen was an!

Nein, wie gesagt, bis hier keine Schuldzuweisungen! Aber jetzt geht es los: Wie in der Einleitung schon eindeutig formuliert, halte ich sowohl das Verhalten der Tierbesitzer als auch das des Lokalreporters und einiger DiskussionsteilnehmerInnen auf Facebook für unter aller Kanone! Die Besitzer ignorieren ihre eigenen und keineswegs unbeträchtlichen Fehlleistungen in der Bewältigung dieser Notlage und versuchen öffentlich, die gesamte Verantwortung für den unglücklichen und höchstwahrscheinlich einfach schicksalhaften Tod ihres Hundes zur Gänze auf die Schultern der Kollegin abzuladen.

Und das Lokalreporterchen sekundiert ihnen in offensichtlicher Verzückung über diese goldene Click-Baiting-Chance und schreibt einen tendenziösen, die Kollegin verdammenden Artikel, der mit den ethischen Grundsätzen des korrekten Journalismus rein gar nichts mehr zu tun hat. Sowohl für die Besitzer als auch den Reporter scheint der Gedankengang, dass sie damit die Existenzgrundlage einer ganzen Familie gefährden, nicht die geringste Rolle zu spielen.

Für so einige DiskussionsteilnehmerInnen auf Facebook scheint so eine Existenzvernichtung sogar erklärtes Ziel zu sein. Zitat: „Ich hoffe, diese Praxis geht den Bach runter“. Für andere fallen sogleich alle Schranken, soweit sie denn je vorhanden waren. Zitat: „Pfui Teufel….diese blöde F…. sollte sich schämen…ich weiß warum ich da nicht mehr hingehe…“. Manche (in diesem Fall sogar eine Frau) würden selbst vor Gewalt nicht zurückschrecken: „Mal ehrlich ich wäre ihr an die Gurgel gegangen“.

Nun, genug der unerfreulichen bis widerlichen Kommentare, die weitaus mehr über die VerfasserInnen aussagen als über das Ziel dieser Rufmordaktion. Erfreulich in meinen Augen: Bei genauer Beobachtung des Threads im Laufe der letzten Tage schält sich immer deutlicher heraus, dass mehr Menschen, als ich für möglich gehalten hätte, das Ganze in etwa so bewerten wie ich. Das gibt mir und sicher auch vielen Kolleginnen und Kollegen Hoffnung. Ebenfalls interessant, dass die Hundebesitzerin inzwischen offenbar ihre zahlreichen Kommentare entfernt hat, weil sie wohl (und mit Recht!) ein juristisches Nachspiel befürchtet. Ich kann nur hoffen, dass die betroffene Kollegin so ein Nachspiel anstrebt, viele schöne Screenshots gemacht hat, und dabei den Nordkurier gleich mit aufs Korn nimmt, denn auch der Lokalreporter-Nachwuchs muss an irgendeinem Punkt lernen, dass die Existenzgrundlage und der gute Ruf ihrer Mitbürger kein Freiwild sind!

Als Abschluss des ersten und auch als Überleitung zum zweiten Teil dieser Artikelserie über maligne bzw. toxische Kunden und ihre Auswirkungen auf das System der tiermedizinischen Versorgung zitiere ich einen Kommentar, der mich berührt hat, denn er stammt von einer Tiermedizinstudentin, einer künftigen Kollegin, die angesichts einer derartigen Berichterstattung und solcher Diskussionen inzwischen Angst vor ihrem gewählten Beruf bekommt, und genau das muss uns allen Angst machen:

Liebe Alle. Ich mische mich eigentlich nicht in Facebook-Diskussionen ein, ABER nachdem ich die Kommentare unter diesem Beitrag gelesen habe, möchte ich doch einige Dinge loswerden. Denn, wenn ich diese Kommentare lese, bekomme ich als Tiermedizinstudentin Angst vor meinem späteren Berufsalltag. Ich möchte diesen Beruf erlernen, weil ich Tieren so viel ich kann helfen möchte. Den gleichen Antrieb wird auch die besagte Tierärztin haben. Ohne diese Motivation schafft man es auch nicht durchs Studium. Einem Tierarzt vorzuwerfen, das Wohl der Tiere wäre ihm/ihr egal, ist somit absolut überflüssig. Auch der finanzielle Anreiz des tierärztlichen Berufes ist nicht besonders groß, denn ich könnte in der gleichen Studienzeit auch einen deutlich lukrativeren Beruf im verwandten Fachgebiet der Humanmedizin erlernen, andernfalls ein komplett anderes Studienfach wählen. Zudem beenden viele Medizinstudenten das Studium mit Schulden. Daher sind auch alle Argumente im Stil „die machen das nur des Geldes wegen“ für mich nicht nachvollziehbar. Niemand widmet sich der Tiermedizin, um reich zu werden. Und trotzdem frage ich mich, weshalb so viele Menschen gerne an der Berufsmotivation „Tierwohl“ zweifeln. Werden meine späteren Kunden daran zweifeln, ob ich das Beste für ihr Tier will? Werden sie mir vorwerfen, ich hätte mehr für ihren Hund/Katze/Pferd tun können, dass ich versagt habe? Ja, vermutlich werden sie das. Und um die Frage einiger hier zu beantworten: Ja, Tiermediziner wissen, worauf sie sich einlassen. Nämlich darauf, alles für Ihren Vierbeiner zu tun. Aber auch Tiermediziner sind Menschen. Menschen die Freizeit, Schlaf und Gesundheit brauchen. Unabhängig davon, ob es nun ein Kindergeburtstag ist oder ein Buch lesen. Es ist Freizeit. Und um im Berufsalltag das Beste für Ihr Tier geben zu können, ist diese zwangsweise notwendig. Wenn ich mit 30 mein erstes Burnout-Syndrom habe, nütze ich Ihrem Tier und Ihnen auch nichts. Dank stressigem Alltag und Situationen wie z.B. dieser haben Tiermediziner ein 2,5 mal so hohes Suizidrisiko wie die Durchschnittsbevölkerung, bei Tiermedizinerinnen liegt es sogar bei 3,1. Ja, auch wir Tiermedizinstudenten wissen, dass wir uns darauf einlassen. Das tun wir nur, weil uns Tiere so sehr am Herzen liegen. Ja, der Notdienst ist teilweise weit entfernt. Und wie auch hier bereits Einige verwiesen: wenn ich als Mensch einen Notfall habe fahre ich auch direkt ins Krankenhaus/rufe den Krankenwagen/Notdienst. ABER darüber sollten sich Besitzer Gedanken machen, bevor sie sich ein (Haus-)Tier anschaffen. Wie weit muss ich im Notfall bis in eine Klinik oder bis zum Notdienst fahren? Möchte ich das? Oder schaffe ich mir dann lieber kein Tier an, wenn mir das zu weit ist? Und ja, Wege zu Notdiensten und Kliniken sind in Deutschland teilweise (zu) weit. Das liegt am Tierärztemangel. Aber lässt der sich beheben, solange Aussagen, Nachrichten und Rufmord wie hier zum Berufsbild Tierarzt gehören? Ich für meinen Teil mache mir Sorgen um meinen zukünftigen Berufsalltag. Nicht, weil ich mir eine bestmögliche Behandlung Ihrer Tiere nach meiner Ausbildung nicht zutraue, sondern wegen dieser Kommentare. Daher mein Appell: Bitte denken Sie nach bevor Sie andere Personen schlecht machen, Vorwürfe machen und Dinge unterstellen, besonders wenn weder genaue Umstände bekannt sind noch Sachkenntnis im Fachbereich vorhanden ist. Meine Kommilitonen und ich möchten uns auf unseren Beruf freuen, denn wir geben bereits im Studium alles, um Ihren Tieren später zu helfen. Vielen Dank.

Ach ja, eines noch: Viele der Facebook-Maulhelden in dieser Diskussion heben darauf ab, dass die Tierärztin doch einen Eid geleistet hätte, der sie zu diesem oder jenem Verhalten verpflichten würde. Da man diese völlig abwegige Vorstellung immer mal wieder zu hören bekommt, hier ein für alle mal und zum Mitschreiben:

Nein, TiermedizinerInnen haben keinen wie auch immer gearteten „Eid“ geschworen! Was da so diffus durch uninformierte Köpfe wabert, ist natürlich der sogenannte „Eid des Hippokrates“, der sich erstens auf die Humanmedizin bezieht, der zweitens aus der Antike stammt und deshalb natürlich völlig antiquiert ist und den drittens und mit gutem Grund in Deutschland nicht mal Humanmediziner leisten! Alles klar?

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald mit Teil 2 dieser Serie, Ihr

Ralph Rückert

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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