Von Ralph Rückert, Tierarzt
Auf dem ersten Bild ist die Genitalregion eines erwachsenen, NICHT kastrierten Airedale-Terrier-Rüden zu sehen. Wenn wir da, wo die Hoden eigentlich sein sollten, genauer hinschauen, stellen wir fest, dass wir da genau nix sehen. Sieht aus, als ob der Rüde schon im Welpenalter kastriert worden wäre.
Es handelt sich um einen beidseitigen Kryptorchismus (Hodenhochstand). Die Hoden waren durchaus vorhanden, aber halt nicht da, wo sie hätten sein sollen. Der linke Hoden lag – gut tastbar und chirurgisch leicht zugänglich – subkutan, also unter der Haut, neben dem Penis zwischen Leistenspalt und dem eigentlich nicht wirklich vorhanden Hodensack (Skrotum). Der rechte Hoden dagegen war per Ultraschalluntersuchung in der Bauchhöhle nachweisbar und musste von uns dort „abgeholt“ werden. Einseitiger Hodenhochstand kommt als vererbtes Leiden beim Rüden leider gar nicht so selten vor, ein beidseitiger Kryptorchide ist aber schon ein bisschen was Besonderes.
Der Airedale hatte übrigens einen vergleichsweise hohen Testosteron-Wert. Die beiden hochstehenden Hoden gingen also trotz ihrer misslichen Lage fleißig ihrer Arbeit nach. Jetzt werden sich manche LeserInnen fragen: Wieso muss man diese offenbar ihrer Funktion nachkommenden Hoden denn so dringend rausoperieren? Der Rüde wird dadurch ja definitiv zum Kastraten, was man nicht unbedingt gut finden muss.
Nun ist es aber so: Die Hoden sind von der Natur für eine bestimmte Betriebstemperatur optimiert worden, die tiefer als die Körperkerntemperatur ist und nur durch die korrekte Lage im Hodensack, also sozusagen aus dem Körperkern „ausgelagert“, gewährleistet wird. Hoden, die sich illegal im Körperkern rumtreiben, laufen – um es mal so locker auszudrücken – „heiß“ und entwickeln mit sehr großer Wahrscheinlichkeit (mehr als 30mal häufiger als bei korrekter Lage) über kurz oder lang bösartige Tumore. In der Literatur wird allgemein zu einer Entfernung hochstehender Hoden vor dem sechsten Lebensjahr geraten. Ich habe es da aufgrund persönlicher Erfahrungen eiliger, weil ich vor vielen Jahren mal erlebt habe, dass es bei einem gerade mal zweijährigen Rüden schon zur Entartung des abdominalen Hodens gekommen war. Bei in der Bauchhöhle gelegenen Hoden besteht darüber hinaus die ständige Gefahr einer spontanen Hodentorsion, die aufgrund der schlagartig auftretenden und sehr schlimmen Schmerzen einen echten Notfall darstellt, ebenfalls ein guter Grund, den Eingriff nicht ewig vor sich her zu schieben.
Ein Hodenhochstand macht demzufolge leider eine chirurgische Entfernung des jeweiligen Hodens notwendig. Im Fall des hier besprochenen Airdales mussten also beide Hoden dran glauben. Die in der Humanmedizin üblichen Therapieoptionen wie der Einsatz von Hormonen oder der Orchidopexie (Mobilisieren des hochstehenden Hodens und Festnähen im Hodensack) wären – wenn überhaupt – nur bei sehr jungen Rüden sinnvoll anwendbar und werden aufgrund der Gefahr einer Weiterzucht mit Weitergabe des Leidens an den Nachwuchs sowieso sehr kritisch gesehen bzw. rundweg abgelehnt. Im Fall unseres Terriers war die Zeit für diese Therapiemöglichkeiten sowieso schon lange abgelaufen.
Selbst bei einseitigen Kryptorchiden plädieren viele Kolleginnen und Kollegen dafür, gleich vollständig zu kastrieren, eben um eine Weitergabe der entsprechenden Gene auf jeden Fall zu verhindern. Damit gehe ich nicht konform und verlasse mich nach entsprechender Aufklärung auf die Vernunft der jeweiligen Besitzer, belasse also den korrekt liegenden Hoden, damit der Rüde ein Rüde bleiben kann. Ein verbliebener Hoden ist durchaus in der Lage, die nötige Arbeit ganz alleine zu stemmen.
Kurz zur Operationstechnik: Ein Leistenhoden kann sehr leicht entfernt werden. Man muss ja nur über dem gut tastbaren Hoden die Haut einschneiden und ihn da rausholen. Die Entfernung eines abdominalen Hodens dagegen ist eine zwar kleine, aber doch echte Bauchhöhlen-OP. Dabei öffnet man die Haut durch einen kleinen Schnitt auf halber Höhe des Penis und seitlich (paramedian) desselben und präpariert sich durch die Muskeln und das Bauchfell. Nach Eröffnung der Bauchhöhle lässt sich der Hoden an dieser Stelle meist sehr leicht auffinden und entfernen. Dank der vorhergehenden Ultraschalluntersuchung weiß man ja schon, dass er sich da irgendwo rumdrücken muss. Das zweite Foto zeigt den aus der Bauchhöhle vorgelagerten Hoden vor dem Abbinden seiner Gefäßversorgung und seines Samenleiters. Im dritten Bild sieht man die beiden (intrakutan genähten) Wunden nach beendeter beidseitiger Operation.
Ein Hinweis für die Käufer eines männlichen Rassehund-Welpen: Kryptorchismus, ob nun ein- oder beidseitig, ist ein absolutes Zuchtausschlusskriterium. Der Hund kann natürlich ein ganz toller Vertreter seiner Rasse sein bzw. werden, aber als Deckrüde wird er niemals eingesetzt werden können. Das mindert logischerweise im Nachhinein den Kaufpreis, in der Regel um mindestens 50 Prozent. In der Rassehundezucht wird bezüglich dieser Problematik natürlich viel Schmu betrieben, von den oben erwähnten Hormontherapien über krampfhaftes und für den Welpen sehr unangenehmes Runtermassieren von Leistenhoden bis hin zu operativen Verfahren wie der Orchidopexie oder gar der Implantation von Silikonhoden, alles natürlich zu dem Zweck, einem Zuchtausschluss maximal unseriös und rücksichtslos aus dem Weg zu gehen. Wäre dem nicht so und würden alle kryptorchiden Rüden wirklich ausnahmslos von der Zucht ausgeschlossen, hätte sich das Thema schon lange erledigt.
Ach ja, fast vergessen: Kryptorchismus kommt natürlich auch bei vielen anderen Tierarten inklusive der Katze vor. Allerdings ist Hodenhochstand beim Kater ein im Vergleich zum Hund sehr seltener Befund.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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