Kein Stein bleibt auf dem anderen: Neue GOT, Strukturkrise der Tiermedizin, Neuordnung des Tierarzt-Kunden-Verhältnisses

Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin

Nicht im Oktober, sondern erst Ende November wird die von unserem Berufsstand lang ersehnte Neufassung der Gebührenordnung für Tierärzte (GOT) gültig werden. Für uns praktizierende Tiermediziner:innen ist das natürlich eine sehr positive Entwicklung. Wir bekommen bezüglich des Gebührenrahmens wieder mehr Luft zum Atmen und – was fast noch wichtiger ist – es sind halt in dieser neuen GOT endlich viele inzwischen zum tiermedizinischen Standard gehörende Leistungen aufgeführt, die man in dem alten Schinken von 1999 nicht finden konnte.

Sie, die Leser:innen unseres Blogs, die deutschen Tierhalter:innen, sind dagegen leider – wie eine Freundin das immer ausdrückt – der Mops: Tierarztbesuche werden durch diese neue GOT unweigerlich auf breiter Front ordentlich teurer. Mal ganz unabhängig davon, um wie viel die Gebühren für einzelne Leistungen erhöht wurden, rechnen wir grob über den Daumen geschätzt mit einem ersten und ab November ziemlich ruckartig einsetzenden Preissprung von ca. 20 Prozent nach oben.

Im bundesweiten Durchschnitt! Das wird nicht in jeder Praxis oder Klinik gleich verlaufen. Manche Inhaber:innen stellen sich auf den Standpunkt, dass sie schon bisher betriebswirtschaftlich korrekte (also von den Kund:innen meist als recht hoch empfundene) Gebühren berechnet haben und nun keinen Anlass für heftige Korrekturen nach oben sehen. Als Beispiel für diese Sichtweise mag uns mein geschätzter Kollege Malte Kubinetz gelten, der diesen Videoclip zum Thema veröffentlicht hat. Wir finden die Argumentation des Kollegen für seine Praxis und seine Situation völlig nachvollziehbar. Bedauerlicherweise – für Sie als Tierbesitzer:innen – werden sich aber nur Praxen mit sehr wenigen Angestellten so eine Vorgehensweise erlauben können.

Wie es der (sehr unglückliche) Zufall will, sind wir in den letzten Monaten durch verschiedene Umstände in eine Inflationsspirale geraten, die unser aller Lebenshaltung mit großer Geschwindigkeit verteuert, aber natürlich diejenigen mit eher niedrigen Einkommen besonders hart trifft. Die Fürsorgepflicht gegenüber unseren so wertvollen Angestellten wird also die meisten von uns Praxisinhaber:innen dazu zwingen, deutlich spürbare Lohnerhöhungen zu beschließen. Angesichts der aktuellen Inflationsrate muss man da nach unserer Ansicht an bis zu zehn Prozent denken.

Das haut dann bei den Personalkosten so richtig schön rein. Nur mal als beispielhafte Größenordnung: Bei einer Praxis mit zehn Angestellten reden wir da locker von 50.000 Euro Personal-Mehrkosten (und mehr!) pro Jahr. Das zahlste nicht mal schnell aus der Portokasse, zumal der inflationsbedingte Kostendruck ja auch in anderen Bereichen (Material- und Medikamenteneinkauf, Energiekosten) schnell zunimmt. Also müssen die Gebühren rauf, so oder so! Lässt sich nicht ändern!

Natürlich war das nicht so geplant, dass die mehr als ein Jahrzehnt in Arbeit befindliche und von der Politik immer wieder auf die lange Bank geschobene Novellierung der GOT jetzt mitten in einer Inflation schon lange nicht mehr gesehenen Ausmaßes in Kraft tritt. Aber auch das lässt sich nicht ändern.

Vielleicht gehen wir besser gleich an dieser Stelle auf zwei „Argumente“ ein, die bei der Diskussion von tiermedizinischen Gebührenerhöhungen unter Tierhalter:innen sehr häufig aufs Tapet gebracht werden:

„Tierhaltung kann sich bald niemand mehr leisten! Resultat: Die Tierheime werden überquellen!“

Klingt im ersten Moment irgendwie logisch, lässt sich aber angesichts der statistischen Daten, die uns zu Ländern mit viel höheren tierärztlichen Gebühren vorliegen, nicht mal ansatzweise belegen. In Großbritannien zum Beispiel ist die Gebührenhöhe nach wie vor mindestens (mindestens!) doppelt so hoch wie hierzulande. Trotzdem halten die Briten mehr Hunde und Katzen pro 100.000 Einwohner als wir Deutschen. Dieses „Argument“ (besser: dieser „Schuldknopf“, den man da zu drücken versucht) haut also nicht hin, zumindest so lange nicht, wie im Zoohandel nach wie vor prächtige Umsätze mit biologisch gegerbten Elchlederhalsbändern und orthopädischen Luxus-Memory-Foam-Hundebetten erzielt werden. Davon abgesehen erschließt sich absolut nicht, inwiefern irgendjemand geholfen wäre, wenn Tierarztpraxen wegsterben wie die Fliegen (siehe unten).

„Ich persönlich kenne keinen Tierarzt, der nicht mehr als gutsituiert ist und viele sind Millionäre“

Wie in jedem Berufsstand gibt es auch in unserem die ganze Bandbreite von „bedauerlich erfolglos“ bis hin zu „extrem erfolgreich“. Nun mag es schon sein, dass erfolgreiche Kolleginnen und Kollegen am Ende eines in der Regel extrem fordernden Berufslebens mit Wochenarbeitszeiten, die sich die meisten Angestellten nicht mal ansatzweise vorstellen können, nominell Millionäre sind. Das ist mit einer gekauften und einer geerbten Immobilie, einer Kapital-Lebensversicherung und einem kleinen Aktiendepot erstens schnell passiert und zweitens wohl verdient. Außerdem – auch wenn viele das nicht hören wollen: Wir legen mit unserer Approbation als Tierärzt:innen nun mal kein Armutsgelübde ab und haben das gleiche Menschenrecht auf das Streben nach (auch finanziellem!) Glück wie alle anderen!

Letztendlich helfen uns bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Situation eines ganzen Berufsstandes aber nur statistische Daten weiter. Der Novellierung der Gebührenordnung ging eine von der Regierung beauftragte Studie voraus, die im November 2021 veröffentlichte AFC-Studie. Diese Studie ergab unter anderem, dass 60 Prozent (!) der deutschen Tierarztpraxen einen Umsatz von weniger als 250.000 Euro pro Jahr erzielen, die Inhaber:innen also pro Monat über ein Nettoeinkommen von gerade mal 2000 Euro (oder gar weniger) verfügen können. Wie man mit einem solchen Einkommen zum Millionär werden kann, dürfte uns die Verfasserin des obigen Kommentars gerne mal mitteilen. Unser lebhaftestes Interesse wäre ihr gewiss!

Die AFC-Studie kam außerdem zu dem eindeutigen Schluss, dass der für Tierarztpraxen anzusetzende Kostenindex der bisher gültigen Gebührenordnung weit davon gelaufen ist, trotz der beiden pauschalen und viel zu niedrigen Anpassungen um jeweils 12 Prozent in 2008 und 2017. Gestützt auf dieses Gutachten hat die Politik anerkannt, dass eine neue GOT dringend erforderlich ist, um sie zum einen an den medizinischen Fortschritt anzupassen und zum anderen den Tierarztpraxen und Kliniken ein gutes Auskommen zu gewährleisten.

Da wären wir nun also: Am 22. August ist die neue GOT im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Damit steht fest, dass sie drei Monate später, also am 22. November 2022 in Kraft treten wird. Das ausdrückliche Ziel ist, mehr Geld in den Wirtschaftszweig Tiermedizin zu spülen, in der Hoffnung, damit den inzwischen viel öffentliche Aufmerksamkeit erregenden Zusammenbruch der Versorgungsstrukturen zu stoppen oder wenigstens abzubremsen. Wir leiden unter einem Fachkräftemangel von bisher nie gekanntem Ausmaß. Wenn wir Praxis- und Klinikinhaber:innen überhaupt Tiermedizinische Fachangestellte und angestellte Tierärzt:innen finden, müssen wir sie auch so gut bezahlen, dass es sich für die jungen Leute lohnt, diese Berufe zu ergreifen. Gelingt das nicht, sind die Aussichten für mindestens die nächsten zehn Jahre zappenduster!

Und zwar nicht für uns, die praktizierenden Tierärzt:innen, sondern für Sie, die deutschen Tierhalter:innen. Die Kolleginnen und Kollegen, die noch Praxen und Kliniken betreiben, werden sich vor Kunden nicht retten können, werden sogar reihenweise Fälle abweisen müssen, weil die Kapazitäten einfach nicht mehr ausreichen. Sie, die Tierbesitzer:innen, werden sich immer schwerer tun, tiermedizinische Leistungen zu bekommen, und das nicht nur im Notdienst, sondern auch im täglichen Normalbetrieb. In den letzten fünf Jahren haben 55 Prozent der deutschen Kleintierkliniken den 24/7-Dienst aufgegeben, meist mit der Begründung, dass sie einfach nicht mehr genug Personal finden, um eine Verfügbarkeit rund um die Uhr stemmen zu können. Sehr viele Tierarztpraxen müssen sich wegen fehlendem Personal verkleinern oder werden einfach mangels einer Nachfolgeregelung ersatzlos geschlossen. Das für die Tierbesitzer:innen so gewohnte Bild mit einer Tierarztpraxis an jeder Ecke wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben.

Sie werden also nicht nur mit ständig weiter steigenden Gebühren rechnen müssen, sondern auch mit der Tatsache, dass Ihre Wahl- und Ausweichmöglichkeiten (in natürlich regional unterschiedlichem Ausmaß) deutlich eingeschränkt und außerdem diese Strukturveränderungen einen mehr als deutlichen Einfluss auf die Tierarzt-Kunden-Beziehung ausüben werden. Wie schon in anderen Artikeln vorausgesehen und erläutert, ist die nun das Steuer übernehmende Tierärzt:innen-Generation im Gegensatz zu den sich allmählich in den Ruhestand verabschiedenden Boomern absolut nicht mehr bereit, sich bestimmte Verhaltensweisen bösartiger oder sich daneben benehmender Kund:innen auch nur ansatzweise bieten zu lassen. Und der entscheidende Punkt dabei ist: Sie müssen das auch nicht, denn sie bieten etwas an, was immer knapper und schwerer zu bekommen ist!

Es lässt sich also sehr leicht vorhersagen, dass man als Kundin bzw. Kunde in den Praxen und Kliniken der näheren Zukunft geringschätziges, ruppiges oder gar toxisches Verhalten gegenüber Tierärzt:innen und ihren Mitarbeiter:innen genau einmal zeigt, und dann nie wieder. Wer da meint, die Axt im Walde geben zu müssen, landet ganz schnell auf der schwarzen Liste und bekommt einfach keinen Termin mehr. Dieser Effekt ist für Insider bereits jetzt weit verbreitet wahrnehmbar. Das Gleiche gilt für die früher so gefürchteten negativen und verlogenen Google-Bewertungen: Sie werden (bei so oder so übervollen Terminkalendern) entweder gleichgültig hingenommen oder man lässt halt seinen Anwalt von der Leine. Und wenn auch nur halbwegs nachvollziehbar ist, aus welcher Ecke das kommt, ist die betreffende Person natürlich auch persona non grata für alle Zeiten.

Noch (noch!) findet man ziemlich viele Praxen (siehe oben), denen es wirtschaftlich nicht so prickelnd geht, die also um jeden Kunden froh sind, die mit vergleichsweise niedrigen Gebühren für sich werben müssen und die auch noch bereit sind, so einiges an toxischem Kundenverhalten zu schlucken. Aber das Zeitalter der meist auch qualitativ drittklassigen Discount-Tiermedizin neigt sich sehr schnell dem Ende entgegen. Was jetzt bereits in der Notfallversorgung schmerzlich spürbar ist, nämlich dass das früher so normale „Abstimmen mit den Füßen“ überhaupt nicht mehr funktioniert, dass man vielmehr froh sein muss, überhaupt irgendwo unterzukommen, wird auch im Alltagsbetrieb sehr bald zur Regel werden. Die vormals so ungemein wirksame Drohung „Dann geh ich halt woanders hin!“ führt heute in den meisten Fällen nur noch zu kurzem Schulterzucken. Wie sagen die österreichischen Kolleginnen und Kollegen immer so gern: Baba, und foi net!

Fazit: Wenn wir als Tierärzt:innen, denen das Wohl unserer Patienten, also Ihrer Haustiere, am Herzen liegt, und Sie, die Besitzer:innen dieser Tiere, die nächsten zehn Jahre halbwegs vernünftig bewältigt bekommen wollen, sind wir darauf angewiesen, dass a) deutlich mehr Geld in die Tiermedizin kommt, damit wir unsere Mitarbeiter:innen gut bezahlen können, und b) dass die von vielen jungen Leuten mit Recht wirklich sehr gefürchtete und psychisch massiv belastende Bösartigkeit gewisser Kundenkreise deutlich zurück geht. Sonst finden wir halt schlicht und einfach keine Angestellten mehr, und dann crasht das System so richtig spektakulär. Das sind unbestreitbare Tatsachen, und da hilft auch kein Heulen und Zähneklappern über die immer weiter steigenden Gebühren.

Auf gut Deutsch: Wir verstehen Sie! Wirklich! Aber jammern Sie uns, die wir seit vielen Jahren vor dieser unvermeidbaren Entwicklung gewarnt haben und uns wirklich verzweifelt darum bemühen, die Versorgung Ihrer Haustiere in diesen Umbruchzeiten weiter so gut wie möglich zu gewährleisten, bitte nicht die Ohren voll, wie teuer das alles geworden ist! Beißen Sie die Zähne zusammen und leben Sie damit, so gut es eben geht. Eine von uns immer wieder erwähnte Möglichkeit, mit den skizzierten Veränderungen zurecht zu kommen, stellen Tierkrankenversicherungen dar. Wir sind angesichts der bedrohlichen Situation nach wie vor erstaunt, wie wenige neue Tierbesitzer:innen sich um eine TKV für ihren Vierbeiner bemühen.

Und als letzter Punkt: Wenn man bei der Erwägung der Neuanschaffung eines Haustieres berechtigte Zweifel daran hat, ob man das finanziell gestemmt bekommt, kann es eine durchaus ehrenwerte Entscheidung sein, tatsächlich auf das teure Hobby Tierhaltung zu verzichten!

Hier noch ein Videoclip, in dem Heiko Färber, der Geschäftsführer des Bundesverbandes Praktizierender Tierärzte (BPT), die Zusammenhänge ebenfalls erklärt, vielleicht etwas weniger drastisch als wir, aber trotzdem unmissverständlich.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,

Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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