Von Ralph Rückert, Tierarzt
Mein Artikel „Das Kaninchen: Ein schwieriges Haustier“ ist schon viele Jahre alt und begann mit den Sätzen:
„Kaninchen sind flauschig und süß, sie lassen Kinderherzen höher schlagen. Und da sie in den Zoomärkten für sehr wenig Geld zu haben sind, lassen sich Eltern gern mal breitschlagen. Spontan und ohne sich vorab zu informieren wird so eine kleine Fellkugel gekauft, denn jeder weiß: Kaninchen sind anspruchslose und einfach zu haltende Haustiere. Nur: Das stimmt leider nicht! Ich halte das Kaninchen für eines der schwierigsten Haustiere überhaupt. Mir fällt kein anderes populäres Haustier ein, das so häufig unter falschen Haltungsbedingungen und den daraus resultierenden Folgen zu leiden hätte.“
In dem knappen Jahrzehnt seit diesen Worten haben wir bezüglich unseres Wissens über Kaninchen enorme Fortschritte erzielt, und zwar sowohl was die Haltung und Ernährung dieser Tierart als auch die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten ihrer wichtigsten bzw. häufigsten Erkrankungen angeht. Alles gut also? Hat sich die Situation der als Haustier, als „Pet“ gehaltenen Kaninchen dadurch verbessert?
Individuell gesehen, also bezogen auf das jeweilige Kaninchen, das von engagierten, gut informierten und finanzstarken (!) Besitzer:innen gehalten und von ebenfalls engagierten und gut informierten Tierärzt:innen betreut wird, mag das durchaus zutreffen. Trotzdem stehen wir nach meinem Gefühl – gerade durch die Erkenntnisse, die uns die inzwischen weit fortgeschrittenen diagnostischen Möglichkeiten vermitteln – vor einer eigentlich die ganze Tierart betreffenden Katastrophe, die die Fragestellung aufwirft, ob die Haltung von Kaninchen als im besten Fall zehn oder mehr Jahre alt werdende Haustiere nicht ein grundsätzlicher Denkfehler (und eine Zumutung für die Tiere!) ist.
Beim Hund und bei der Katze reden wir uns die Köpfe heiß über die sogenannten Qualzuchtrassen, beim Kaninchen sollte in meinen Augen dagegen erörtert werden, ob es sich dabei nicht per se um eine Qualzucht-Spezies handelt. Im Gegensatz zu Hunden und Katzen verlief die Domestikation des Kaninchens einzig und allein über den Nutzeffekt als leicht zu haltender und extrem vermehrungsfreudiger Fleisch- und Felllieferant. Logischerweise sind langfristige Gesundheit und hohe Lebenserwartung kein entscheidender Selektionsvorteil bei einem Tier, das in der Regel geschlachtet und verwertet wird, bevor es ein halbes Jahr alt geworden ist. Wenn ich als Mensch nur hinter dem Fleisch und dem Fell des Kaninchens her bin, interessiert es mich natürlich nicht die Bohne, ob das Tier irgendwann im Leben eine klinisch relevante Zahnfehlstellung (Malokklusion), eine chronische Mittelohrentzündung (Otitis media) oder einen Kieferabszess entwickeln würde. Ich muss überhaupt nicht unter dem Gesichtspunkt züchten, solche Krankheitsprädispositionen zu vermeiden, sondern eigentlich nur auf möglichst schnellen Fleischansatz im Wachstum und ein schönes, dichtes Haarkleid.
Das ist eine – in meinen Augen entscheidende – Begründung für die enorm hohe Prävalenz bestimmter Erkrankungen beim Hauskaninchen. Dazu kommt aber dann leider auch noch ein Trend, den wir im Zusammenhang mit der Qualzuchtproblematik schon oft angesprochen und erläutert haben, nämlich der der züchterischen Übertypisierung. Schaut man sich die zwei Fotos an – eines von einem Wildkaninchen und eines von einem Zwergwidder – kann man leicht feststellen, wie grotesk der Mensch in seiner üblichen züchterischen Arroganz die von der Evolution für gut befundene Wildform verändert hat, was natürlich grundsätzlich mit schweren gesundheitlichen Einschränkungen einhergeht.
Je mehr und je länger man als Tierarzt mit Kaninchen zu tun hat, desto mehr zweifelt man daran, ob diese Tierart überhaupt für mehr als ein, zwei Jahre Lebensdauer „konstruiert“ ist. Je besser die Diagnostik wird, desto mehr bekommt man den Eindruck, dass es nur wenige Kaninchen über zwei, drei Jahren gibt, bei denen im Hals/Nasen/Ohren- und Zahn/Mund/Kiefer-Bereich nicht irgendwas Dramatisches und Schmerzhaftes faul ist, das dann mit gewaltigem Aufwand und zweifelhafter Prognose irgendwie zurecht geschnitzt werden muss, oder das von nichtsahnenden Besitzer:innen schon so lange verschleppt worden ist, dass man – in tiefstem Mitleid für das bis dahin durchgestandene Leiden – nur noch die Euthanasie empfehlen kann. Und dann haben wir noch gar nicht über die enorm häufigen, schwerwiegenden und angesichts der üblichen Haltungsformen systemimmanenten Störungen des Verdauungstraktes und der (weiblichen) Fortpflanzungsorgane geredet.
Nun, um das gleich vorwegzunehmen: Natürlich gibt es immer mal wieder Kaninchen, die gesund alt werden. Allerdings beschleicht mich nach inzwischen 35 Jahren Erfahrung als praktizierender Tierarzt das mulmige Gefühl, dass diese ohne schwerwiegende Probleme durch ihr Leben kommenden Kaninchen nicht die Regel, sondern die Ausnahme sind, also die Mehrzahl unter langwierigen und sehr qualvollen Erkrankungen leidet, und das wäre ja ein (und in meinen Augen das wichtigste) Kriterium für Qualzucht.
Ich sage ja schon seit vielen Jahren, dass das Kaninchen eigentlich kein geeignetes Pet ist: Es hat sich uns nicht – wie Hund und Katze – freiwillig angeschlossen, wir können (oder wollen) es meist nicht annähernd artgerecht halten und es wird extrem häufig schwer krank, was in ihrer Höhe meist völlig unterschätzte Kosten mit sich bringt, die sehr viele Spontankäufer:innen nicht mal ansatzweise stemmen können. Natürlich mache ich mir keine Illusionen, dass dieser kurze Artikel und meine zum Ausdruck gebrachte persönliche Meinung zum Ende der Kaninchenhaltung führen werden. Und natürlich wird sich unsere Praxis weiterhin mit aller Kraft bemühen, kranken Kaninchen so gut wie möglich zu helfen.
Es ist mir aber ein wirklich dringendes Anliegen, (mal wieder) davor zu warnen, sich auf das Abenteuer Kaninchenhaltung einzulassen, ohne vorher wirklich ganz genau darüber nachzudenken. Ich muss zugeben, dass ich inzwischen, nach einem ganzen Leben als praktizierender Tierarzt, an dem verzweifle, was ich da fast jeden Tag an Leid, unendlichen Dauertherapiebemühungen und hoffnungslosen Fällen sehe. Und bevor jetzt das Argument kommt, dass ich ein verzerrtes Bild hätte, weil mir ja nur die kranken Tiere vorgestellt würden: Das ist so nicht richtig! Jedes verantwortungsvoll gehaltene Kaninchen wird regelmäßig untersucht und geimpft, kommt uns also sehr wohl immer wieder unter die Augen. Und über die, die nicht mal in den Genuss dieser Mindestanforderungen kommen, brauchen wir erst gar nicht zu reden.
Alles in allem bin ich der Meinung, dass die Hobby-Kaninchenhaltung allenfalls etwas für ganz wenige „Spezialist:innen“ ist, die über die entsprechenden Kenntnisse und Ressourcen verfügen, und selbst dann bleiben Fragen offen. Ganz sicher aber ist der nach wie vor aktuelle Status quo, nämlich die enorm häufige Anschaffung von Kaninchen aus einem Impuls heraus, weil die Kinder nörgeln, weil man denkt, dass diese Tiere billiger und einfacher zu halten wären als Hunde und Katzen, eine Tierschutzkatastrophe erster Ordnung! Würde sich die Haltung von Kaninchen als Pets von heute auf morgen halbieren oder gar vierteln, wäre also in Sachen Vermeidung von unnötigem Tierleid viel gewonnen!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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