Von Ralph Rückert, Tierarzt
Prinzipiell behandeln wir alle Patienten so, als ob es unsere eigenen Tiere wären. Trotzdem kommt es ab und zu vor, dass das Schicksal eines bestimmten Tieres plötzlich und für das ganze Team zum alles beherrschenden Thema wird. Die letzten 10 Tage hat uns der Kampf um Jimmy, das Kaninchen, Tag und Nacht beschäftigt. Lassen Sie mich davon etwas ausführlicher erzählen, nicht aus Gründen der Selbstbeweihräucherung, sondern zur am realen Fall festgemachten Darstellung eines sehr wichtigen Problems der Kaninchenmedizin.
Jimmy ist ein Zahnpatient, also eines der Kaninchen mit einer so schlimmen Zahnfehlstellung (Malokklusion), dass nur durch regelmäßiges tiermedizinisches Eingreifen im Sinne einer Okklusionskorrektur die korrekte und schmerzfreie Nahrungsaufnahme ermöglicht wird. Letzte Woche war es mal wieder so weit. Als ich aber Jimmy aus seinem Transportkorb nahm, fühlte ich gleich, dass sein Magen ungewöhnlich aufgetrieben war. Außerdem hatte er den ganzen Tag nichts gefressen und auch keinen Kot mehr abgesetzt. Dem erfahrenen Kaninchenhalter und dem Tierarzt sträuben sich da natürlich gleich die Nackenhaare. Magentympanie (Magenblähung), Magenüberladung, Bezoar und Darmverschluss sind die mehr als unerfreulichen Stichworte, die einem sofort in den Sinn kommen.
Speziell Kaninchen mit chronischen Zahnproblemen und/oder langem, seidigen Haarkleid neigen dazu, im Magen sogenannte Bezoare zu bilden. Bezoare sind Klumpen aus Haaren und Futterbestandteilen, die ab einer gewissen Größe den Magen nicht mehr auf natürlichem Wege verlassen können. Leider können Kaninchen auch nicht erbrechen. Legt sich ein solches Bezoar vor den Magenausgang, kommt es sehr schnell zu einer Aufgasung und/oder einer Überladung des Magens mit Futter und Flüssigkeit. Kleinere Haarklumpen, die es schaffen, vom Magen in den Dünndarm zu gelangen, können dort steckenbleiben und dadurch einen kompletten Darmverschluss (Ileus) verursachen. In beiden Fällen wird der Magen immer mehr erweitert, die Futteraufnahme wird eingestellt und das Allgemeinbefinden des Kaninchens verschlechtert sich schnell. Häufig nehmen die Patienten in ihrer Verzweiflung große Wassermengen auf. Der prall gespannte und dadurch an sich schon schmerzhafte Magen drückt zusätzlich nach vorne und schränkt die Kreislauf- und Atmungsfunktion gefährlich ein. Im schlimmsten Fall sterben durch den starken Druck ganze Bereiche der Magenwand ab oder der Magen platzt sogar. Beides bedeutet natürlich den sicheren und qualvollen Tod.
Fazit: Stellt man bei einem Kaninchen reduziertes Befinden, einen aufgetriebenen Bauch, Appetitlosigkeit und nachlassenden Kotabsatz fest, hat man es in fast allen Fällen mit einem absoluten Notfall zu tun, der keinen Zeitverzug duldet. Es ist also gerechtfertigt, auch an Wochenenden oder nachts tierärztliche Hilfe zu suchen. Wie aus meinen weiteren Erläuterungen ersichtlich werden wird, kommt als Komplikation hinzu, dass nur kaninchenerfahrene Praxen in der Lage sind, diese Situation erfolgreich zu handhaben.
Zurück zu Jimmy, der natürlich sofort als stationärer Patient aufgenommen wurde. Weitere Untersuchungen zeigten eine noch halbwegs stabile Kreislaufsituation und einen mit einer fest-teigigen Masse und sehr viel Flüssigkeit überfüllten Magen. Außerdem war Jimmy schon ziemlich ausgetrocknet, da das in großen Mengen aufgenommene Wasser nicht mehr den Darm erreichte und ihm somit nichts brachte. Erstes Ziel der Notfallbehandlung muss eine Stabilisierung des Patienten und eine Entlastung des Magens sein. Der Austrocknung begegneten wir mit einer Infusion. Zusätzlich wurden Schmerzmittel verabreicht. Danach wurde mehrfach eine Magensonde eingeführt, über die wir einiges an Gas und insgesamt über 120 ml Flüssigkeit aus dem Magen entfernten (Bild 1). Dieser Vorgang wurde dadurch erschwert, dass die Sonde immer wieder durch kleine Haarballen verlegt wurde. Insgesamt muss die Druckentlastung langsam und vorsichtig erfolgen, da es sonst zu einem spontanen Kreislaufversagen kommen kann. Nach diesen Maßnahmen ging es Jimmy deutlich besser. Mit einem entlasteten Magen kann man versuchen, den teigigen Inhalt durch die Bauchdecken hindurch manuell zu zerteilen, um damit einen eventuellen Weitertransport zu ermöglichen. Die Zwangsfütterung mit einem für Kaninchen geeigneten Brei (Critical Care) mit hinzugemischtem Öl kann dazu ebenfalls beitragen.
Bei Jimmy aber kamen wir mit diesen Maßnahmen auf keinen grünen Zweig, so dass am nächsten Tag die Diagnose Darmverschluss feststand und klar war, dass nur noch ein operativer Eingriff Abhilfe schaffen konnte. Unter solchen Umständen darf nicht zu lange gezögert werden, da sich das Befinden des Patienten und damit auch die Narkosefähigkeit schnell verschlechtern können. Die Anästhesie eines Kaninchens ist unter diesen Voraussetzungen ein Fall für sich. Der Patient muss einen venösen Zugang (Venenkatheter) gelegt bekommen und er muss intubiert werden! Nur so ist eine gut kontrollierbare Narkose (Balanced Anaesthesia) zu gewährleisten. Jimmys Bauchhöhle wurde geöffnet und der gesamte Darm auf Blockaden untersucht. Wie erwartet hatte sich ein kleiner Haarklumpen im Dünndarm festgesetzt und diesen komplett verschlossen. Wenn möglich wird beim Kaninchen ein Eröffnen des Darmes vermieden und stattdessen das Hindernis durch vorsichtige Weitermassage in den Dickdarm verschoben, wo es kein Problem mehr darstellt. Sofort danach konnten wir beobachten, wie sich der Dünndarm mit Flüssigkeit und Nahrungsbrei aus dem Magen auffüllte. Aufgrund der schon recht langen OP-Dauer und der mit einer Mageneröffnung einhergehenden schweren Risiken entschied ich mich, den Magen nicht aufzuschneiden, sondern nur den Inhalt durch sanftes Massieren erneut zu zerteilen. Leider war das, wie sich im weiteren Verlauf herausstellte, die falsche Entscheidung.
Jimmy erholte sich unter einer geeigneten Schmerzmedikation gut von der Operation, setzte sehr bald einige Kotportionen ab und begann auch wieder mit der Nahrungsaufnahme. Zusätzlich wurde er mit Critical Care zwangsgefüttert. Die nächsten drei Tage unter stationärer Pflege konnten wir uns zunehmend Hoffnungen machen, dass wir das Problem gelöst hätten. Am vierten Tag postoperativ aber – Jimmy war inzwischen nach Hause entlassen worden – ging das Ganze wieder los: Reduzierte Futteraufnahme, kein Kotabsatz und sogar Zähneknirschen, was allgemein als Schmerzsymptom gewertet wird. Jimmy wurde erneut stationär aufgenommen. Alles, was wir unternahmen (Schmerzmittel, Infusion, Zwangsfütterung) zeigte keinen Erfolg, so dass wir am Tag darauf keine andere Chance mehr sahen, als den Magen operativ zu entleeren.
Bis vor einigen Jahren galt die operative Entfernung eines Bezoars und/oder einer Futterüberladung aus dem Magen eines Kaninchens als mehr oder weniger hoffnungsloser Eingriff. Im nach wie vor aktuellen Lehrbuch von Kollegin Anja Ewringmann steht dazu: Eine operative Entfernung der Haarballen sollte nur als Ultima Ratio in Erwägung gezogen werden, da die Prognose äußerst zweifelhaft ist. In dem genannten Lehrbuch und auch an vielen anderen Stellen wurde und wird die Gabe von Ananassaft oder von Bezo-Pet-Paste empfohlen, um das Bezoar zur Auflösung zu bringen. 2009 dann berichtete die Chirurgische Kleintierklinik der Universität München über die Behandlung von insgesamt 39 Kaninchen über einen Zeitraum von 9,5 Jahren. Bei 10 Tieren wurde konservativ behandelt, also der Versuch unternommen, das Bezoar ähnlich unserer Vorgehensweise bei Jimmy zur Auflösung zu bringen. Dies gelang nur bei drei Tieren, die anderen sieben starben, im Schnitt nach 5 Tagen intensiver Bemühungen. 29 Kaninchen wurden nach durchschnittlich 72 Stunden erfolgloser Behandlung operiert. 11 der operierten Patienten verstarben im Schnitt 5 Tage postoperativ. Eines erlag einem post-operativen Kreislaufversagen, zwei starben an Dysbakterie und Lipomobilisation (dazu später mehr), vier an einer septischen Peritonitis (Bauchfellentzündung), die in drei Fällen auf einem Versagen der Magennaht und in einem Fall auf einer eitrigen Entzündung der Magenwand beruhte. 4 gestorbene Kaninchen konnten nicht seziert werden, weshalb die Todesursache nicht geklärt werden konnte.
Allgemein finden sich in der spärlichen Literatur zu diesem Thema wenig Belege dafür, dass eine konservative Behandlung großer Bezoare und/oder eingetrockneter Futtermassen nennenswerte Erfolgschancen verspricht. Sicher ist, dass man mit der Operation nicht aus Angst zu lange zögern sollte, weil genau das die Überlebenschancen am meisten verringert. Die Erfahrungen der Uniklinik zeigen außerdem, dass sich die Erfolgschancen des Eingriffs durch Optimierung des perioperativen Managements stark verbessern lassen. In den letzten drei Jahren des Berichtzeitraumes starben nur noch zwei von 15 operierten Kaninchen.
Warum ist diese Operation so problematisch? Bei Mensch, Hund und Katze zählt eine Magen-OP ja eher zu den Routine-Eingriffen der Bauchchirurgie. Nun, bei Mensch, Hund und Katze operiert man am völlig leeren Magen, da der Patient vor dem Eingriff in der Regel für einen bestimmten Zeitraum nüchtern gehalten wird. Beim Kaninchen dagegen ist man gezwungen, den gefüllten, ja sogar überfüllten Magen zu öffnen. Die Gefahr, dass die Bauchhöhle durch austretende Nahrungsbestandteile kontaminiert wird, ist enorm groß. Weiterhin sind die Eingeweidewände des Kaninchens sehr, sehr dünn, was wassserdichte und haltbare Nähte schwierig macht. Last but not least muss das Kaninchen unmittelbar nach der Operation gefüttert bzw. zwangsernährt werden, um sofort wieder eine physiologische Magen-Darm-Passage in Gang zu bringen. Dies stellt für eine frische Magennaht eine echte Gefahr dar. Es bleibt aber keine andere Wahl! Es muss unbedingt innerhalb von Stunden nach der Operation eine positive Energiebilanz hergestellt und dann gehalten werden, da die Patienten sonst noch Tage später an Lipomobilisation der Leber (spontanes Leberversagen durch rapiden Fettdepotabbau) oder Dysbakterie (Überwucherung der Darmflora mit schädlichen Bakterien und deren Austreten aus dem Darm) sterben können.
Die Narkosetechnik ist natürlich (wie immer beim Kaninchen) der andere große Problembereich. Für eine Magen-OP muss die Narkose sehr tief sein, und damit bewegt man sich bei dieser Tierart auf einem schmalen Grat zwischen tief genug und zu tief, sprich tödlich. Ich muss es noch einmal betonen: Nur ein intubiertes Kaninchen mit venösem Zugang kann durch eine ausgewogene Kombination von Injektions- und Gasanästhetika (Balanced Anaesthesia) anästhesiologisch ausreichend sicher geführt werden für einen Eingriff dieser Risikoklasse und Dauer. Alles andere kann man gleich vergessen.
Wieder zurück zu Jimmy! Um es kurz zu machen: Der 1,5-Stunden-Eingriff verlief erfolgreich! Wir konnten eine gewaltige Ansammlung von Haaren und Futter aus dem Magen entfernen (Bild 2). Auch nach dieser schweren OP, der zweiten innerhalb von 5 Tagen, erholte sich der zähe, kleine Kerl ausgesprochen schnell. Nach dem Aufwachen wirkte er trotz aller Benommenheit durch die schweren Schmerzmittel wie erleichtert und hat auch sogleich begonnen, etwas Futter zu sich zu nehmen. Dieser positive Trend hielt die nächsten Tage bis zur gestrigen Entlassung an, so dass wir im Grunde positiv gestimmt sind. Den endgültigen Sieg im Kampf um Jimmy zu feiern, wäre jedoch zum jetzigen Zeitpunkt noch verfrüht. Wenn es auch schon bis zu 12 Tage postoperativ zu Todesfällen gekommen ist, so halten wir doch den fünften oder sechsten Tag für die entscheidende Marke. Danach stehen Jimmys Chancen sehr gut. Drücken Sie mit uns den Daumen für den tapferen Burschen!
Kurze Aktualisierung am 28. September: Jimmy hat es definitiv geschafft! Es geht ihm sehr gut, und darüber freuen wir uns sehr!
Literatur:
1. Ewringmann, A. Leitsymptome beim Kaninchen, Enke Verlag 2005
2. Schnabl, E., Böhmer, E., Matis, U. Diagnostik und Therapie des Magenbezoars beim Kaninchen: katamnestische Betrachtung von 39 Patienten. Tierärztliche Praxis 2009
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen