Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin
Wann immer man über Qualzucht bzw. angeborene Einschränkungen und Krankheiten bei Haustieren schreibt, taucht in den Kommentaren unweigerlich die Frage auf, welche Hunde-, Katzen- oder Kaninchenrasse denn überhaupt noch „gesund“ wäre, meist gekoppelt mit der in resigniertem Tonfall getroffenen Feststellung, dass „alle Rassen, aber auch die Mischlinge irgendwie krank wären“.
Das halten wir für falsch. Mal bezogen auf den Hund listet die FCI etwa 360 Rassen auf, alles in allem dürfte es aber ca. 800 geben. Insgesamt laufen auf dem Planeten ungefähr eine halbe Milliarde Hunde und rund 760 Millionen Katzen rum, und die wenigsten von ihnen weisen wirklich Qualzuchtmerkmale auf. Qualzuchtmerkmale sind nach unserer Definition angeborene Probleme, die bei einem großen Teil der Nachzucht auftreten und unter denen ein Tier permanent, jeden Tag, leidet, beispielsweise Atemprobleme, nicht funktionelle Augenlider oder ein Körper, der für die betreffende Spezies normale Aktivitäten erschwert bis unmöglich macht. Qualzuchtmerkmale sollten nicht mit ebenfalls angeborenen Prädispositionen für bestimmte Erkrankungen verwechselt werden, die bei der jeweiligen Rasse zwar nachweislich häufiger auftreten als bei anderen, die sich aber nicht zwangsläufig realisieren müssen. Solche Prädispositionen gibt es tatsächlich bei fast allen Tierarten und Rassen, davon abgesehen natürlich auch bei uns Menschen. Es leuchtet also ein, dass es nicht mal im Ansatz möglich ist, obige Frage nach gesunden Rassen mit einer Art Positivliste zu beantworten.
Wir wollen denen, die einzig und allein daran interessiert sind, ein möglichst gesundes Haustier zu haben, mit dem sie lange glücklich zusammen leben können, einen ganz einfachen Rat geben:
Finger weg von allen Extremen!
Das war es schon! Simpel, oder? Aber fangen wir zur Verdeutlichung ruhig vorne an und hören hinten auf: Man könnte sich zum Einstieg fragen, wie denn Wildformen der Tierarten aussehen, für die man sich interessiert, also alles, was die Prädikate „designed by nature“ oder „survival of the fittest“ für sich in Anspruch nehmen kann. Beim Hund wären das natürlich der Wolf, aber auch der Kojote, der Schakal und der Dingo, bei der Katze die Falbkatze und die Europäische Wildkatze, beim Kaninchen das Wildkaninchen.
Bei diesen Wildformen sieht man, was die Evolution als am besten funktionierend für die betreffende Art herausgearbeitet hat: Nasen, mit denen man gut riechen, atmen und Thermoregulation betreiben kann, Ohren, mit denen man gut hören kann und die bestens belüftet sind, Zähne, mit denen man gut beißen bzw. kauen kann, Augen, mit denen man gut sehen kann, ein Fell, das lang und dicht genug ist, um bei Kälte schön warm zu halten, aber nicht so lang, dass es irreparabel verschmutzen oder verfilzen kann oder gar die freie Sicht behindert, einen Schwanz (mal vom Kaninchen abgesehen), mit dem man kommunizieren und balancieren kann, und ein Gstell (wie der Allgäuer den Körperbau nennt), das alle zum Überleben notwendigen Aktionen wie Gehen, Traben, Rennen, Springen, Schleichen möglichst ökonomisch und mühelos macht.
Jetzt kann man einen ganz einfachen Schluss ziehen: Je weiter bestimmte Attribute einer Haustierrasse von dieser Wildform entfernt sind, desto mehr Inzucht muss im Spiel sein, desto kritischer ist das zu sehen und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das betreffende Tier unter diesen menschengewollten Bauplanänderungen zeitweise oder dauerhaft zu leiden hat. Zu kurze bzw. keine Nase bei Tieren, die eigentlich so viel besser riechen können als wir? Der absolute Gipfel menschlicher Ignoranz und Perversion! Nicht als solche funktionierende Augenlider (ja, die haben eine wichtige Funktion, auch wenn das manche irgendwie nicht glauben wollen!) mit Entropium, Ektropium oder gleich beidem? Tierquälerei, und zwar dauerhaft, jede Stunde, bei Tag und Nacht! Ohren, die bis auf den Boden hängen oder schwer sind wie ein Wiener Schnitzel? Warum, warum, warum??? Solche Hängeohren sollen angeblich den Geruch einer Spur sozusagen „einschließen“ oder die Gehörgänge vor dem Eindringen von Fremdkörpern schützen. Warum haben dann alle Wildcaniden, für die der Jagderfolg immerhin direkt mit dem Überleben gekoppelt ist, Stehohren? Mit das Bescheuertste, was man sich vorstellen kann, sind die Faltohren der Scottish Fold Katze. Sie machen absolut keinen Sinn und bringen zwangsläufig (zwangsläufig!) eine qualvolle Krankheit mit sich. Ständig über die Augen hängende Haare? Was soll das? Manche faseln da ernsthaft was von Sonnenschutz! Warum gibt es dann keine Wildcaniden oder Urhunde mit einem Vorhang vor den Augen? Ein Fell bis zum Boden runter, das eventuell auch noch zu unappetitlichen Rastalocken verfilzt? Als Witterungsschutz? Schon mal arktische Caniden gesehen, die so rumlaufen? Oder Wildkatzen mit Fellverfilzungen, die nur noch in Narkose wegrasiert werden können? Kein oder ein zu kurzer Schwanz (die Tatsachen verschleiernd Natural Bob Tail genannt, wobei da gar nix „natural“ ist)? Wieso? Warum sollte man einem Tier ein so wichtiges Organ wegzüchten? Ein verkrüppelter bzw. fehlender Schwanz ist zudem ein dringender Hinweis darauf, dass es auch weiter oben in der Wirbelsäule Missbildungen gibt! Die größte, die schwerste, die kleinste Rasse? Lassen Sie bloß die Finger weg! Es gibt unter uns Tiermediziner:innen einen uralten, deswegen aber nicht weniger zutreffenden Leitspruch für den Hund: Alles über 50 und alles unter 5 Kilogramm hat von vornherein ein Problem! Sinngemäß gilt das auch für andere Tierarten. Natürlich sind die übergroßen Maine Coons keine wirklich gesunden Katzen.
Die Fotos zeigen zwei solche Extreme, den leichtesten und den schwersten Hund, die wir je in unserer Praxis behandelt haben: Ein sogenannter Teacup-Pudel mit 800 Gramm und ein Mastiff mit rund 120 kg. Der Pudel ist kein Welpe, sondern knapp vier Jahre alt, und hat ein durch aggressive Parodontitis bereits fast völlig zerstörtes Gebiss. Der Mastiff wurde schon im Alter von zwei Jahren mit sogenannter End-Stage-Osteoarthrose in mehreren Gelenken diagnostiziert und musste nach einem kurzen Leben unter Schmerzmitteln mit gerade mal fünf Jahren von seinem Leiden erlöst werden.
Die längsten Ohren, die wenigsten oder die längsten Haare, die kürzesten oder krummsten Beine, die meisten Falten? Aus medizinischer Sicht sind so gut wie alle Superlative Mist hoch drei!
Wie gesagt: Unser Ratschlag richtet sich ausschließlich an die vielen Leute da draußen, die in erster Linie an einem möglichst gesunden Haustier interessiert sind. Die, die sich in irgendeiner Form mit ihrem Tier schmücken oder irgendwelche persönlichen Defizite mit und an ihm ausleben wollen, oder was auch immer dahinter stecken mag, wenn man sich ein Tier anschafft, das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unter zuchtbedingten Problemen zu leiden haben wird, erreichen wir mit rationalen Argumenten sowieso nicht. Wir stellen aber in der Praxis immer wieder fest, dass Menschen sich vor Anschaffungsentscheidungen nicht ausreichend über potentielle Probleme informiert haben oder aber den Desinformationskampagnen der betreffenden Rasse-Fans aufgesessen sind. Es kann auch in bestimmten Fällen sehr schwierig sein, eventuelle Probleme einer Tierrasse hieb- und stichfest zu ermitteln, weil gerade auf diesem Gebiet oft gelogen wird, dass sich die Balken biegen.
Deswegen noch einmal unser doch eigentlich wirklich einfach zu befolgender Ratschlag: Finger weg von allem, was irgendwie extrem ist! Rein statistisch fahren Sie damit am besten, ohne sich allzusehr den Kopf zerbrechen zu müssen. Irgendwelche Einzelfallerfahrungen („Mein Mastiff ist kerngesund 55 Jahre alt geworden, ohne je den Tierarzt gesehen zu haben! Mein Mops läuft jeden Tag einen Marathon in unter zwei Stunden und trägt dabei noch seine eigene Sauerstoffflasche auf dem Rücken! Meine Maine Coon hat zwar keine Zähne mehr und hinkt hinten ein bisschen, hat aber einen so tollen Charakter! Mein Widderkaninchen ist zwar stocktaub, schüttelt oft mit den Ohren und muss wegen der Zähne alle vier Wochen zum Tierarzt, aber es ist sooo süüüß!“) ändern an dieser Tatsache rein gar nix!
Würden jetzt wirklich alle Menschen weltweit diesen Ratschlag lesen und auch beherzigen, dann wäre die resultierende Verringerung zuchtbedingten Tierleids geradezu enorm und die Qualzuchtdebatte schlagartig beendet. Da wir aber berufsbedingt zum pessimistischen Realismus neigen, wissen wir natürlich, dass wir wieder nur ein paar Leute erreichen und positiv beeinflussen werden, aber für die soll uns die Mühe des Verfassens dieses kurzen Artikels wert gewesen sein.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,
Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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