Von Ralph Rückert, Tierarzt
In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen müssen wir leider in der Presse lesen, dass mal wieder ein Mensch, meistens ein Kind, von einem Hund gebissen und schwer verletzt worden ist. Werden solche Meldungen auf Facebook geteilt, entsteht grundsätzlich eine immer nach dem gleichen Muster ablaufende Diskussion: Die ersten drei bis zehn Kommentare bedauern noch in erster Linie das Schicksal des Kindes und wünschen ihm alles Gute, aber dann geht es nur noch um das, was jetzt wohl mit dem Hund passieren wird. Die einen befürworten eine Euthanasie, die anderen lehnen diese strikt ab. Bei diesen Auseinandersetzungen herrscht ein harter Ton, es werden keine Gefangenen gemacht.
Auch die von beiden Seiten vorgebrachten Argumente sind mehr oder weniger stereotyp. Die Gegner einer Euthanasie eines solcherart auffällig gewordenen Hundes verlagern jede Schuld auf die Besitzer des Tieres, frei nach dem bekannten Spruch „Kein Hund wird böse geboren“, fordern für diese eine harte Bestrafung jenseits aller Möglichkeiten unseres Strafrechts und betonen, dass der Mensch nicht das Recht habe, über das Leben des Hundes zu bestimmen und die „Todesstrafe“ gegen ihn auszusprechen. Die Befürworter berufen sich in erster Linie auf den Sicherheitsaspekt und sehen die Euthanasie als einzig probates Mittel, einen erneuten Zwischenfall mit diesem Hund auszuschließen.
Um die Spannung gleich mal rauszunehmen (und mir wahrscheinlich einige Feinde zu machen): In nicht allen, aber doch in den allermeisten Fällen, die es in die überregionale Presse schaffen, die also mit schweren Verletzungen oder gar dem Tod des Opfers einhergehen, bin ich der Meinung, dass die Euthanasie des betreffenden Hundes voll und ganz gerechtfertigt ist. Auch für mich stellt dabei der Sicherheitsaspekt den entscheidenden Punkt dar, denn der Erfolg jeder verhaltenskorrigierenden Maßnahme, die getroffen wird, um sicher zu stellen, dass dieser Hund keinen Menschen mehr beißt (in den Diskussionen gern und meist falsch „Resozialisierung“ genannt), wäre erst durch den natürlichen Tod des Tieres ohne weiteren Zwischenfall bewiesen. Der Beweis des Misserfolges dagegen führt zwangsläufig zur erneuten Verletzung oder gar zum Tod eines Menschen, was ich für inakzeptabel halte.
Die Hauptargumente der Euthanasie-Gegner sind in meinen Augen fehlerhaft:
– „Der Mensch hat kein Recht, diesen Hund zu töten!“
Aber natürlich hat er dieses Recht! Lassen wir mal das Minenfeld der Tierethik beiseite, dann bleibt immer noch die Tatsache, dass der Mensch, wie jede andere Spezies auch, sehr wohl das natürliche und unveräußerliche Recht hat, sich selbst, seine Artgenossen und insbesondere seinen Nachwuchs oder – trockener ausgedrückt – seine Gene, mit allen Mitteln vor Schaden zu bewahren. Mit allen Mitteln! Verfügte man im Moment eines ernsthaften Tierangriffs auf ein Kind über tödliche Mittel, würde man wohl keine Sekunde zögern, diese auch zur Anwendung zu bringen. Das wäre völlig berechtigt, und ebenso berechtigt ist dies im prophylaktischen Sinne, also zur Verhinderung eines weiteren vergleichbaren Vorfalles. Wir Hundenarren werden anerkennen müssen, dass wir in einer Demokratie leben und in der Minderheit sind. Die überwältigende Mehrheit der Nicht-Hundehalter (ebenso wie ein gewisser Anteil der Hundebesitzer) kann nachvollziehbarerweise nicht das geringste Verständnis dafür aufbringen, dass die Sicherheit ihrer Kinder durch Hunde gefährdet wird, die schon einmal durch einen schweren Zwischenfall auffällig geworden sind.
– „Kein Hund ist böse! Er wird nur böse gemacht! Schuld ist immer das obere Ende der Leine!“
Mal abgesehen von dem Ausdruck „böse“, der im Zusammenhang mit einem Tier von vornherein Murks ist: Selbstverständlich gibt es Hunde, die durch falsche Erziehung unwissentlich, fahrlässig oder vorsätzlich gefährlich gemacht worden sind. Genau so selbstverständlich gibt es aber auch Hunde, bei denen von Geburt an „eine Schraube locker ist“ oder die im weiteren Verlauf ihres Lebens durch eine hirnorganische Störung schwere Verhaltensänderungen erleiden, bei denen also „das obere Ende der Leine“ rein gar nichts dafür kann. Eine Euthanasie solcher Hunde ist zweifellos sinnvoll und berechtigt. Aber auch bei Hunden, die sozusagen durch menschliches Versagen zu dem wurden, was sie sind, ist eine prophylaktische Euthanasie immer dann gerechtfertigt, wenn nicht mit einem sehr hohen Maß an Sicherheit von einer Korrigierbarkeit der Fehlentwicklung auszugehen ist. Bezüglich der Verhinderung künftiger Zwischenfälle spielt es nicht die geringste Rolle, wodurch der Hund zu einer Gefahr geworden ist.
Es geht bei solchen Entscheidungen absolut nicht um ein „Todesurteil“! Ein Todesurteil wird in manchen Gesellschaften gegen einen denkenden Menschen verhängt, der ein in den Augen dieser Gesellschaft todeswürdiges Verbrechen verübt hat. Tiere kennen keine Gesetze und keine Moral, eine Strafe im rechtlichen Sinne kann gegen sie also nicht verhängt werden. Bei der Euthanasie eines als gefährlich eingestuften Hundes handelt es sich grundsätzlich um eine prophylaktische Maßnahme zur Gefahrenabwehr.
Oft wird Unverständnis, wenn nicht sogar Hass gegenüber den Beamten und Richtern zum Ausdruck gebracht, die die Tötung eines gefährlichen Hundes anordnen. Das halte ich in den meisten Fällen für völlig verfehlt. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass sich entscheidungsbefugte Personen, die ihre Entscheidungen auch langfristig rechtfertigen können müssen, auf keine vermeintlichen Lösungswege einlassen, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen und ein erneutes Risiko für schwere Unfälle beinhalten.
Dazu kommt ein zuchthygienischer Gesichtspunkt. Mensch und Hund haben sich vor sehr langer Zeit zum gegenseitigen Vorteil zusammen getan. Einfach wird das wohl nie gewesen sein, dieses Zusammenraufen einer zwar hochintelligenten, aber recht verletzlichen Spezies mit einer schwer bewaffneten, aggressiven und sehr körperstarken Raubtierart. Wir können unterstellen, dass es dabei fortwährend zu Zwischenfällen kam, denen sicher auch schon in der Steinzeit in erster Linie Kinder zum Opfer fielen. Die greifbaren Vorteile des Zusammenlebens mit Hunden müssen beträchtlich gewesen sein, damit diese Gefahren trotzdem als akzeptabel erschienen. Man kann aber sicher sein, dass schon der Steinzeitmensch sofort und ohne jedes Zögern jeden Hund (und dessen Gene!) eliminiert hat, der ein Kind mehr als durch einen erzieherisch wertvollen Abwehrschnapper verletzt hat. Und genau diese konsequente und jahrzehntausendelange Zuchtauslese auf verminderte Aggressivität gegenüber Menschen ist in meinen Augen der entscheidende Grund dafür, dass wir heutzutage so weit verbreitet mit einem an sich ziemlich gefährlichen Raubtier zusammen leben können, ohne dass wirklich viel passiert.
Meiner Meinung nach ist es sogar so, dass wir uns erst seit kurzer Zeit, seit gerade mal ein paar Jahrzehnten, diesbezüglich wieder in ein gefährliches Fahrwasser begeben. Die übersteigerte Vermenschlichung des Hundes, die Gleichsetzung seines Lebensrechts mit dem des Menschen, weit verbreitete züchterische Inkompetenz kombiniert mit völlig wirren Zuchtzielen, der eigentlich wahnwitzige Glaube, dass jedes noch so brandgefährliche Verhaltensproblem erfolgreich mit erzieherischen Mitteln lösbar wäre, das alles sind Faktoren, die dazu führen könnten, dass wir zukünftig eher wieder häufiger solche schrecklichen Vorfälle sehen werden. Noch in meiner Jugendzeit gab es da keine Diskussion: Hunde, die Menschen angefallen hatten, wurden ohne viel Federlesen getötet, Punkt! Ist es wirklich Zufall, dass man damals aber – zumindest im ländlichen Umfeld – so gut wie jeden Hund frei laufen lassen konnte, dass ich als Kind mehrere Dorfhunde kannte, mit denen man gefahrlos spielen konnte? Ich denke nicht. Es könnte also gut sein, dass wir momentan im Begriff sind, die über viele Generationen investierte Mühe unserer Vorfahren geradewegs in den Wind zu schießen. Wie man an innerhalb weniger Jahrzehnte irreparabel zum Schlechteren gezüchteten körperlichen Merkmalen mancher Rassen sehen kann, ist etwas, was aufzubauen sehr lange gedauert hat, leider sehr, sehr schnell kaputt gemacht.
Wir werden wohl oder übel irgendwann wieder von dieser rührseligen, romantisierenden und verklärenden Einstellung zum Hund runterkommen und uns klarmachen müssen, dass man mit einer grundsätzlich aggressiven Beutegreifer-Spezies nur dann ohne inakzeptable Kollateralschäden zusammenleben kann, wenn man die dafür nicht geeigneten Exemplare konsequent aussiebt, und zwar auf beiden (!) Seiten, beim Hund durch Euthanasie, beim hundehaltenden Menschen durch den Nachweis von Sachkunde für Zucht, Ausbildung und Haltung.
Das war’s eigentlich, was ich zu diesem Thema sagen wollte. Obwohl, wenn wir schon dabei sind: In den Diskussionen auf Facebook wird ja gern und inflationär „gekotzt“. Man findet ein Argument oder einen Standpunkt zum Kotzen, man kann oft gar nicht so viel kotzen, wie man möchte, und so weiter. Dann erzähl ich jetzt mal, was ich wirklich zum Kotzen finde, und zwar diesen schrecklichen Moment in der Diskussion um einen Hundeangriff, in dem der erste Kommentar gepostet wird, der es – durch welche abstruse Hirnakrobatik auch immer – schafft, einen Zusammenhang zwischen der diskutierten Euthanasie eines gefährlichen Hundes und den Sanktionen gegen pädophile Straftäter herzustellen. Da wird MIR echt schlecht und ich muss mich mehr als einmal fragen, wie viel Leute da draußen rumlaufen, die irgendwie völlig falsch verkabelt sind, sich aber selbst für ganz normal halten.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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