Getreidefrei? Geht mir bloß weg!

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Man sollte es kaum glauben, dass es so ein harmlos wirkendes Wort wie „getreidefrei“ auf die TopTen-Liste der Begriffe geschafft hat, die bei Tierärzten den Blutdruck steigen lassen. Ist aber so!

Man hat immer die größte Mühe, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten, wenn als Antwort auf die Frage nach der Ernährung des Hundes das Stichwort „getreidefrei“ fällt, in der Regel in einem Tonfall, der unmissverständlich die felsenfeste Überzeugung der Besitzer zum Ausdruck bringt, dass das ein klarer Vorzug des jeweiligen Futtermittels wäre.

Ich will diese zweifellos vorhandene Überzeugung, dem Hund etwas Gutes zu tun, nicht per se schlechtreden, aber in diesem Fall belegt sie nun mal eine gewisse Leichtgläubigkeit und auch einen gewissen Unwillen, die bestehende Faktenlage anzuerkennen. Nur zur Erinnerung: Fakten sind diese hartnäckigen Dinger, die nicht verschwinden, wenn man aufhört, an sie zu glauben!

Das Etikett „Getreidefrei“ ist nichts anderes als eine aufgrund ihres enormen Erfolges bis an die Grenze des Erträglichen abgenudelte Marketingmaßnahme der Futtermittelindustrie. Bevor jetzt ein Missverständnis entsteht: Auch Barf-Shops sind natürlich Teil der Futtermittelindustrie.

Um gleich den nächsten Einwand vorwegzunehmen: Ja, auch ich als Tierarzt bin nominell ein Teil der Vertriebskette von Futtermittelkonzernen, allerdings nur, was industriell hergestellte Krankheitsdiäten angeht, die bestenfalls 1 Prozent meines Gesamtumsatzes ausmachen. Außerdem enthalten die allermeisten der von mir bevorzugten Diätfuttermittel sehr wohl Getreide. Ich bin also auf jeden Fall kein Mitglied im Getreidefrei-Kartell.

Wie lange der Hund schon mit uns Menschen durch die Zeiten wandert, ist nach wie vor wissenschaftlich umstritten. 30000 Jahre werden es aber wohl auf jeden Fall sein. Damit ist auch sicher, dass der Hund die Neolithische Revolution (Übergang vom Leben als Jäger und Sammler zu Ackerbau und Viehhaltung) bereits als unser enger Partner erlebt hat. Spätestens im Rahmen dieser Entwicklung, die zwischen 10000 und 5000 vor Christus über Tausende von Jahren (für eine „Revolution“ also recht gemächlich) stattfand, musste sich der Hund an eine Ernährung nicht nur mit Jagd- bzw. Schlachtabfällen, sondern auch mit hochgradig stärkehaltigem Getreide anpassen, was ihm aufgrund seiner schnellen Generationenfolge recht zügig gelungen ist.

Im weiteren Verlauf der gemeinsamen Geschichte dürfte es viele Zeitabschnitte gegeben haben, in denen Fleisch und selbst Schlachtabfälle viel zu wertvoll waren, als dass man sie hätte einfach an Hunde verfüttern können, und in denen Hunde mit weit höheren Anteilen an pflanzlichen Nahrungsbestandteilen gefüttert wurden als man heute für machbar halten würde. Diese sicher oftmals aus purer Not erforderliche Art der Ernährung hat natürlich auf die Spezies Hund einen starken Selektionsdruck ausgeübt, der dazu geführt hat, dass Hunde inzwischen mit bei weitem mehr Stärke umgehen können als Wölfe. Den so bekannten wie blöden Spruch „Der Wolf geht nicht ins Getreidefeld“ kann man also getrost in die Tonne treten.

Kein Hund ist wie der andere. Bevor also in den Kommentaren zu diesem Artikel wieder unzählige sinnlose Meldungen kommen, dass der eigene Hund eben doch eine Allergie oder Unverträglichkeit gegen Getreide hätte: Ja, es gibt wohl vereinzelt solche Individuen! Ihr Anteil an der Gesamtpopulation der Hunde bewegt sich aber im ganz tiefen einstelligen Prozentbereich und rechtfertigt in keinster Weise, alle Hunde getreidefrei zu ernähren.

Aber wieso rege ich mich so auf? Was ist so falsch daran, gleich mal alle Hunde sozusagen prophylaktisch getreidefrei zu füttern? Nun, ganz einfach: Diese Marketingmasche und ihre weitreichenden Folgen sind im Prinzip ein Verbrechen an diesem Planeten!

Gregory Okin, Professor an der University of California, hat in einem erst vor kurzem erschienenen Artikel überschlagsweise ausgerechnet, dass die US-amerikanischen Hunde und Katzen 25 Prozent (ein Viertel!!!) der aus der Nutztierproduktion stammenden Kalorien verschlingen. Würden die amerikanischen Hunde und Katzen eine selbständige Nation bilden, so wäre diese der fünftgrößte Fleischkonsument weltweit. Wohl gemerkt, wir reden jetzt nur über alle US-Hunde und -Katzen.

Professor Okin rechnet weiter aus (wieder nur für die USA), dass die Produktion dieser gewaltigen Menge von tierischen Nahrungsmitteln etwa 64 Millionen Tonnen Treibhausgase verursacht, äquivalent zur ganzjährigen Bewegung von 12 Millionen Kraftfahrzeugen. Das sind Zahlen, die einem ganz schön Kopfschmerzen machen können, die man als Tierhalter auch nicht einfach vom Tisch wischen sollte.

Ich sag’s mal absichtlich provokant: Die typische Hundehalterin von heute (sorry, das ist kein Sexismus, ich habe es im täglichen Leben als Tierarzt nun mal zu über 80 Prozent mit Hundebesitzerinnen zu tun) ist relativ jung, wählt eventuell aus Sorge um die Umwelt die Grünen, nimmt Tierschutz so ernst, dass sie sich selbst vegetarisch oder gar vegan ernährt und – sie barft ihre Hunde (am besten gleich nur mit Fleisch) oder füttert ersatzweise ein „High-End“-Futtermittel mit maximal hohem Fleischanteil. Da beißt sich was, zumindest nach meiner Auffassung!

Die Faktenlage rechtfertigt es einfach nicht, dem Hype zur Fütterung mit extrem hohem Fleischanteil (meist noch unter bewusster Vermeidung von – Pfuiteufel! – tierischen Nebenprodukten) blind zu folgen. Die allermeisten Hunde haben davon keinerlei Vorteile, und gleichzeitig wird der oben erläuterte und von Okin für die USA errechnete ökologische „Impact“ auch noch so richtig schön verstärkt.

Wohl gemerkt: Ich rede nicht der vegetarischen oder gar veganen Ernährung von Hunden das Wort. Es wäre aber ausgesprochen sinnvoll – und zwar sowohl gesundheitlich als auch ökologisch – einem Hund nur so viel Fleisch und tierisches Fett zu verabreichen wie er wirklich braucht, und nicht mehr! Ein erklecklicher Anteil des nötigen Energiegehalts kann ohne Schaden aus pflanzlichen Produkten – und ja, natürlich auch aus Getreide – stammen.

Ob es uns nun passt oder nicht, wir Hunde- und Katzenhalter werden über diese Zusammenhänge nachdenken müssen. Es könnte sonst passieren, dass es jemand anders tut und – so er die Macht dazu hat – anfängt, entsprechende Vorschriften zu erlassen. Angesichts der von Okin angeführten und in meinen Augen wirklich erschreckenden Zahlen und unter zusätzlicher Berücksichtigung der Tatsache, dass in extrem bevölkerungsreichen Nationen wie China auch die Haustierhaltung stark zunimmt, werden die globalen ökologischen Auswirkungen der Zusammensetzung von Hunde- und Katzenfutter über kurz oder lang (und mit Recht!) zum Thema werden.

Okin nennt noch einen Zusammenhang, der einem als Hundehalter durchaus Gewissensbisse verursachen kann: Würde der Anteil an aus Tierproduktion stammenden Kalorien in der Ernährung der amerikanischen Hunde und Katzen um nur ein Drittel vermindert, würde diese Menge den Gesamtbedarf von über 5 Millionen Menschen decken. Solange die Welternährungslage so ist, wie sie ist, also nicht wirklich ausreichend, und dies nicht zuletzt auf den hohen Fleischkonsum in den reichen Nationen zurückgeführt werden muss, sollten wir auch unseren Hobby-Tieren möglichst nur so viel tierische Produkte füttern, wie sie wirklich benötigen. Und wir sollten nicht in absoluter Verkennung der Tatsachen so tun, als ob unsere Hunde durch einen gewissen Anteil an pflanzlichen Produkten oder tierischen Nebenerzeugnissen gleich tot umfallen würden.

Hunde und Katzen, die einzigen Haustiere, die freiwillig mit uns zusammenleben, sind ein Fact of Life. Es wird immer Menschen geben, die sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen können. Über einen Verzicht auf die Haltung dieser Tiere aus ökologischen Gründen müssen wir gar nicht erst anfangen zu reden. Ich persönlich könnte aber nur sehr schlecht mit der Vorstellung umgehen, dass irgendwo jemand allein deswegen verhungern muss, weil ich der völlig fehlgeleiteten Auffassung bin, dass mein Hund nur mit einer absolut überspannten Luxusernährung gesund durchs Leben kommen kann.

Ach ja, ein letzter Punkt, der angesichts dieser Argumentation natürlich nicht unter den Tisch fallen darf: Je kleiner der Hund, desto schmaler ist logischerweise sein ökologischer Fußabdruck.

Und ganz zum Schluss, weil diese Frage bestimmt kommt: Wie ernähre ich meinen Hund? Die meisten Stammleser wissen es, aber der Vollständigkeit halber sei es noch einmal erwähnt: Mein Terrier Nogger wird nach der von mir entwickelten, revolutionären ABAM-Methode gefüttert, also mit jeder Menge pflanzlicher Produkte inklusive Getreide in allen denkbaren Formen 😉 .

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

Sie können jederzeit und ohne meine Erlaubnis auf diesen Artikel verlinken oder ihn auf Facebook bzw. GooglePlus teilen. Jegliche Vervielfältigung oder Nachveröffentlichung, ob in elektronischer Form oder im Druck, kann nur mit meinem schriftlich eingeholten und erteilten Einverständnis erfolgen. Von mir genehmigte Nachveröffentlichungen müssen den jeweiligen Artikel völlig unverändert lassen, also ohne Weglassungen, Hinzufügungen oder Hervorhebungen. Eine Umwandlung in andere Dateiformate wie PDF ist nicht gestattet. In Printmedien sind dem Artikel die vollständigen Quellenangaben inkl. meiner Praxis-Homepage beizufügen, bei Online-Nachveröffentlichung ist zusätzlich ein anklickbarer Link auf meine Praxis-Homepage oder den Original-Artikel im Blog nötig.

Nach oben scrollen