Fünf Minuten Gassi gehen pro Lebensmonat? Vernünftige Regel oder schlichter Unfug?

Fünf Minuten Gassi gehen pro Lebensmonat? Vernünftige Regel oder schlichter Unfug?

Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin

Kennen Sie wahrscheinlich, oder? Die dringende Ermahnung bzw. „eiserne Regel“, mit einem Welpen bzw. Junghund nur 5 Minuten pro Lebensmonat spazieren zu gehen, bis sich die Epiphysenfugen (Wachstumszonen) der Knochen endgültig geschlossen haben? Haben Sie sich auch gefragt, ob das wirklich Sinn macht und ob Sie gar Ihren Welpen für sein Leben schädigen, wenn Sie sich nicht daran halten? Woher kommt diese Regel und ist da was dran?

Wahrscheinlich (Wahrscheinlich! Keiner weiß es genau!) ist der Keim dieser Empfehlung in einer Untersuchung der amerikanischen National Institutes of Health (NIH) aus den 70ern des vorigen Jahrhunderts zu suchen. Die NIH förderten damals klinische Forschungen zur Hüftdysplasie des Hundes. In einer recht aufsehenerregenden Studie untersuchten Tiermediziner:innen den Effekt von Bewegungsrestriktion auf die Hüftgelenkgesundheit. Der Studienaufbau war geprägt von der für die damalige Zeit typischen und brutalen Bedenkenlosigkeit: Schäferhund-Welpen wurden einfach dauerhaft in kleinen Käfigen gehalten und aufgezogen. Und tatsächlich konnte bewiesen werden, dass solcherart bewegungseingeschränkte Welpen später mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine Hüftdysplasie entwickelten als Welpen, die sich frei bewegen konnten.

Nur: Die Forscher:innen waren sich schon bei der Veröffentlichung 1975 völlig darüber im Klaren, dass dieser Effekt deshalb zu verzeichnen war, weil diese unglücklichen Welpen in den absolut zu kleinen Käfigen zu einer spreizbeinigen Haltung gezwungen waren, wenn sie überhaupt stehen wollten. Das war der Punkt, um den es eigentlich und in Bezug auf die Humanmedizin ging: Eine Spreizhaltung der Beine wirkt sich positiv auf die Entwicklung der Hüftgelenke aus, was ja seitdem bei Menschenbabys auch so beherzigt wird. Die Öffentlichkeit, die Allgemeinheit scheint das aber genau falsch verstanden zu haben, also in dem Sinne, dass die Bewegungsrestriktion an sich einen positiven und gelenkschützenden Effekt hätte. Ungefähr seit diesem Zeitpunkt (und heutzutage dank des Netzes leider besonders virulent) zirkulieren entsprechende Ratschläge, natürlich ganz besonders bei den Rassen, die genetisch bedingt häufig Gelenkprobleme entwickeln. Dumm gelaufen, das!

Mehr als 10 Jahre später, Ende der 80er, hat sich die Forschung erneut dieser Fragestellung angenommen, mit zwei Versuchsanordnungen, deren Ansatz genau andersrum war, also einen Unterschied zu finden versuchte zwischen zwei ganz unterschiedlich harten Belastungsgraden. Beagle-Welpen bzw. -Junghunde mussten an fünf Tagen pro Woche auf einem Laufband mit 15 Grad Steigung rennen, die eine Gruppe eine Stunde pro Tag und für 15 Wochen, die andere Gruppe täglich bis zu 40 km pro Tag, und zwar für ein ganzes Jahr. Danach wurden die Gelenkknorpel und die Gelenkflüssigkeit der Hunde mikroskopisch untersucht. Nur in der nach allen normalen Maßstäben massiv überlasteten Gruppe fanden sich fokale, oberflächliche und eher dezente Veränderungen am Knorpel. Ansonsten wurden keine Schäden festgestellt. Da kann man nur bewundernd sagen: Schau einer an, die halten auf jeden Fall ganz schön was aus, die jungen Hunde! In der zweiten Gruppe reden wir immerhin von einem fast kompletten Marathonlauf, jeden Tag von Montag bis Freitag, und das ein ganzes Jahr lang!

So weit, so gut! Was können uns Freilandbeobachtungen an zusätzlichen Informationen liefern? Wie läuft das denn bei Wölfen? Bekannt ist, dass ein mit Halsbandsendern ausgestattetes Wolfsrudel sich mal bis zu 32 km pro Tag weiter bewegte und dass da ein 8 Wochen alter Welpe dabei war! Respekt an den Kleinen! Und dass Wölfe (oder andere Wildcaniden) das freie Spielen und Toben ihrer Welpen irgendwie einschränken würden, konnte natürlich in keinem Fall beobachtet werden.

Wir können außerdem noch eigene Beobachtungen hinzufügen, zum Beispiel auf Kinderspielplätzen oder Sportanlagen. Zwar nicht am Hund, aber an unserer eigenen Brut. Kinder üben fast alle Sportarten aus, die man sich nur vorstellen kann, inklusive Laufen, Turnen und Kicken, und sie rennen und springen beim Spielen, so viel sie halt lustig sind. Hat schon mal jemand eine Mutter rufen gehört: „Carl-Friedrich, Schluss jetzt! Deine Wachstumsfugen sind noch nicht geschlossen und deine 30 Minuten sind jetzt rum! Setz dich sofort in deinen Rollstuhl, wir schieben dich nach Hause!“. Nein? Oder: „Lisa-Marie, renn nicht immer die Treppen rauf und runter. Denk doch an deine Gelenke!“. Auch nicht? Natürlich nicht! Niemand bei klarem Verstand käme auf die Idee, dass man spielerische Aktivitäten und den natürlichen Bewegungsdrang von Kindern bezüglich der späteren Gelenkgesundheit irgendwie reglementieren müsste. Es ist ganz im Gegenteil so, dass (auch hochintensive!) spielerische Aktivität von größter Wichtigkeit ist für die Entwicklung einer guten Koordination (Stichwort Propriozeption) und die Ausbildung eines stabilen Muskel-, Sehnen- und Gelenkapparates.

Sie merken wahrscheinlich schon von Anfang an, worauf wir raus wollen: Vergessen Sie diesen Unfug mit den fünf Minuten Belastung pro Lebensmonat! Das ist definitiv eine Latrinenparole, für deren Wahrheitsgehalt es nicht einen Funken Evidenz gibt. Ihr Welpe kann allemal eine Stunde und mehr mit Ihnen unterwegs sein, ohne dass ihm dadurch ein Schaden entsteht. Wird es ihm zu viel, wird er Ihnen das mitteilen, ganz davon abgesehen, dass Welpen bis zu 12 oder 14 Wochen sowieso nicht begeistert sind, wenn man sich all zu weit von der Homebase entfernt. Und wenn ein schon ziemlich fitter und extrovertierter 5-Monats-Welpe ausgelassen mit Freunden spielt und tobt, müssen Sie da keineswegs nach ein paar Minuten eingreifen. Lassen Sie ihn, er braucht das, und zwar dringend!

Wohl gemerkt: Wir setzen einfach mal wieder gesunden Menschenverstand voraus und reden natürlich nicht der puren Unvernunft das Wort. Alles, womit sich ein Welpe selber und freudig belastet, ist letztendlich okay. Es versteht sich aber von selbst, dass man einen Hund mit einem halben Jahr nicht eine Stunde lang und gegen seinen Willen am Fahrrad rumzerrt oder ihn mit dem Frisbee bis zur völligen Erschöpfung scheucht! Ihn aber langsam und wohl dosiert an das Laufen am Fahrrad heranzuführen oder ihm einen Frisbee als Spiel- und Sportgerät vertraut zu machen, stellt ganz sicher kein Problem dar. Es gibt keinen guten Grund, sich deswegen ständig einen Kopf um die Gelenke zu machen.

Take-Home Message: Die Befolgung solcher völlig haltloser „Regeln“, die das natürliche Bewegungsbedürfnis junger Hunde massiv einschränken und die leider oft über das Netz gehypt werden, ist nicht gut, sondern schlecht für den Hund, und zwar auf mehreren Ebenen. Neben den erwähnten Nachteilen für die Ausprägung eines stabilen Bewegungsapparates wird der Welpe bzw. Junghund ja auch noch in seiner sozialen Entwicklung beschnitten, wenn man jeden Tag nur ein paar Minuten draußen unterwegs ist und zudem aus Angst vor Überlastung spielerische Interaktionen mit Artgenossen einschränkt oder gleich ganz unterbindet.

Wir gehen noch weiter: Besteht eine Züchterin / ein Züchter Ihnen gegenüber darauf, dass ein Welpe einer bestimmten Rasse bis zum Alter XY buchstäblich in Watte zu packen sei, weil sonst was Grässliches passieren könnte, steckt da oft eine unredliche Motivation dahinter, im Sinne einer prophylaktischen Schuldverlagerung auf die neuen Besitzer. Sie sollten da ganz schnell misstrauisch werden, denn wahrscheinlich sind Sie gerade dabei, sich einen Welpen einer Rasse zuzulegen, bei der die Entwicklung von schwersten Gelenkerkrankungen von vornherein sozusagen im Stammbuch steht. Da werden von Züchtern gern massivste Bewegungsrestriktionen verordnet, die kein Mensch wirklich einhalten kann und will. Geht der Ärger mit den Hüften oder den Ellbogen dann frühzeitig los, reicht ein einziges Facebook-Foto, auf dem der Welpe / der Junghund mit Artgenossen spielt oder die drei Stufen vom Garten auf die Terrasse hochläuft, um gleich mal jegliche züchterische Verantwortung wütend und weit von sich zu weisen. Es ist im Prinzip ganz einfach: Muss ein Welpe angeblich unter völlig überzogenen Bewegungseinschränkungen (wie zum Beispiel der Fünf-Minuten-Regel) aufgezogen werden, kann mit der Rasse nur etwas ganz Grundsätzliches oberfaul sein!

Wie das im Leben eines Hundes mit der Gelenkgesundheit läuft, hängt NICHT von der freien und spielerischen Entfaltung der Bewegungsfähigkeit im Jugendalter ab! Dafür sind zwei Faktoren ausschlaggebend: Zum einen die (züchterisch zu verantwortende!) Genetik, zum anderen das Gewichtsmanagement, und gerade in diesem letzten Punkt wird leider extrem viel falsch gemacht. Welpen und Junghunde sollen NICHT rundlich, „wohl genährt“ und „proper“ aussehen, sondern „lean and mean“, also richtig schlank und hart. Dafür, dass sich das in jedem Fall positiv auf die Entwicklung gesunder Gelenke auswirkt, zumindest so weit, wie es die Genetik zulässt, gibt es mehr als genug Evidenz. Nicht zu viel Bewegung, sondern ein Zuviel an Kalorien und Protein kann sich tatsächlich verhängnisvoll auswirken. Wenn Sie als Welpen- bzw. Junghundbesitzer:in öfter mal angemacht werden, ob Sie Ihren Hund wohl verhungern lassen wollen, dann machen Sie alles richtig!

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,

Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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