Von Ralph Rückert, Tierarzt
Wenn man so rumliest, auf Facebook und sonstwo im Netz, stößt man immer wieder auf eine ebenso hartnäckig vorgetragene wie selten dämliche Behauptung: Wahlweise BigPharma oder die Futtermittelindustrie hätten die Tierärzte irgendwie gekauft, würden sich schon am Studium beteiligen und später gar die Praxiseröffnung sponsern.
Dieses haltlose Geschwätz hat mir bisher immer buchstäblich die Sprache verschlagen, aber das war vielleicht verkehrt, denn gegen solche bösartigen Gerüchte kämpft man nicht dadurch an, indem man einfach den Schnabel hält. Also lasse ich jetzt mal einfach meinen Kragen platzen!
Was gibt die Industrie mir, dem Tierarzt, welche „Vorteile“ gewährt sie mir? Für Produkte wie Diätfuttermittel und Medikamente gibt es für mich als „Einzelhändler“ natürlich bestellmengenabhängige Einkaufspreise, wie das halt überall, wo Produkte vertrieben werden, üblich ist. Bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln habe ich diese Rabatte laut Arzneimittelpreisverordnung mit gesetzlich fixierter Handelsspanne an den Kunden weiterzugeben. Bei frei verkäuflichen Medikamenten und bei Diät-Futtermitteln bin ich in meiner Preisgestaltung – außer durch die Gesetze des Marktes – nicht gebunden, habe aber gegen die im Netz üblichen Preise großer Versandfirmen so oder so keine Chance. Das alles ist natürlich für alle Handelsvorgänge völlig normal und keineswegs anrüchig. Für Bestellwesen, Vorratshaltung, Ablaufverluste und ähnliche Kosten muss ich ja schließlich irgendwie entschädigt werden und darf (ganz ungeniert!) auch einen kleinen Gewinn erzielen.
Nun, das kann es also schon mal nicht sein, womit die Industrie uns Tiermediziner in der Tasche hätte, denn das deckt sich mit der ganz normalen Beziehung zwischen Groß- und Einzelhändler. Was gibt es also sonst noch an „Sponsoring“ und „Bestechungen“? Tja, da wären die mühsam als Mini-Fortbildungen deklarierten Abend-Werbeveranstaltungen, bei denen in der meist moderaten Teilnehmergebühr gerne mal ein Imbiss enthalten ist. Super! Da kann man mindestens einmal im Monat die Kosten fürs Abendessen einsparen. Aber nach dem Motto der humanmedizinischen Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte – „Mein Essen zahl ich selbst!“ – findet man mich auf solchen Veranstaltungen allenfalls alle Jubeljahre bei besonderem Interesse für das besprochene Thema. Ansonsten ist die Zielgruppe dieser Maßnahmen das tiermedizinische Proletariat (ja, auch das gibt es!), zu dem ich mich einfach nicht zähle.
Ach ja, und nicht zu vergessen: Die Pharma-Außendienstler bringen immer eine Handvoll Kugelschreiber, ein paar Notizblöcke oder einen Kalender mit und gucken ganz verdutzt, wenn man ihnen sagt, dass man das Geraffel nicht brauchen kann, weil es eh nicht zum Praxisdesign passt. Ah, und auf Weihnachten zu gibt es auch immer mal eine Flasche Roten oder eine Schachtel Weinbrand-Pralinen, die wir dann höflichkeitshalber auch annehmen. Aber mit solchem Krimskrams fühle ich mich irgendwie immer noch nicht wirklich angemessen bestochen.
Und sonst? Irgendwelche Beihilfen für das Studium? Finanzielle Unterstützung bei der Praxiseröffnung? Wer das glaubt, hat echt ein Rad ab, sorry!
Ich erzähle mal, wie es wirklich war: Mein Studium haben meine Frau und ich in unzähligen Taxi-Nachtschichten selber verdient! Eine kleine, aber bitter notwendige monatliche Zuwendung kam von meinen Eltern, dem Kaminkehrermeister und der Schneidermeisterin, die sich das Geld irgendwie aus den Rippen geleiert haben, in dem für die deutsche Mittelschicht typischen Wunsch, dass es das Kind „zu was bringen“ möge. Eine typische Woche im 7. Semester sah für mich so aus: Von Montag bis Freitag 45 (!) Stunden Vorlesungen, Klinik- und Ambulanzdienste und andere Lehrveranstaltungen. Am Freitagabend ins Taxi, durchgearbeitet bis in der Früh um drei oder vier Uhr, dann kurz geschlafen, von acht Uhr bis in den frühen Nachmittag Arbeiten und Operieren in der Praxis, in die ich als Student eingebunden war, und von Samstag auf Sonntag dann die zweite Taxi-Nachtschicht des Wochenendes. Am Sonntag war dann mal Zeit, um die Notizen und den Stoff der vergangenen Woche zu organisieren und möglichst auch zu verinnerlichen. Semesterferien im Sinne von Urlaub gab es nicht, denn erstens musste dringend auf die immer anstehenden Prüfungen gelernt werden und zweitens hatten wir sowieso kein Geld, um irgendwohin zu fahren.
Wir – ab meinem vierten Semester inzwischen auch Eltern einer Tochter und wohnhaft in einem Loch von Altbauwohnung ohne Badezimmer – waren so arm, dass wir manchmal an den letzten Tagen des Monats alle Pfandflaschen in den Laden tragen mussten, damit es noch für was zum Essen gereicht hat. Jede unerwartete Ausgabe hat zusätzliche Nachtschichten im Taxi unter der Woche erzwungen. Da mussten dann halt zwei Stunden Schlaf reichen, bis es morgens in der Uni weiterging. Hätte ich damals mehr oder weniger meine Seele verkauft, wenn BigPharma gekommen wäre und mir eine monatliche Unterstützung angeboten hätte? Yep, hätte ich! Aber da kam keiner!
Zu dieser Zeit gab es noch kein Internet. Lernen mussten wir aus echten, dicken Büchern. Aus sehr, sehr teuren Büchern, von denen es in der Fakultätsbibliothek immer bestenfalls zehn Exemplare für über 200 Studenten gab. Man kam also nicht umhin, die Wälzer zu kaufen, wenn man sie nicht – was regelmäßig zu entzückten Schwindelanfällen führte – an Weihnachten von Eltern und Verwandten geschenkt bekam. Mindestens 5000 Mark (oder in anderen Worten: 50 Taxischichten) habe ich in 11 Semestern für Lehrbücher ausgegeben. Haben BigPharma oder die Futtermittelindustrie mir dabei irgendwie geholfen? Träumt mal schön weiter, ihr Spinner und Facebook-Großmäuler da draußen!
Keiner hat uns geholfen! Ich denke bis heute und gegen jedes Klischee vom mit dem Silberlöffel im Mund geborenen Tiermedizin-Studenten höchst ungern an diese fünfeinhalb Jahre zurück. Ständige Geldknappheit, immer zu wenig Schlaf, der fast ununterbrochene Stress hunderter großer und kleiner Prüfungen und der Druck der Verantwortung für meine kleine Familie lassen mir im Rückblick immer noch den Schweiß auf die Stirn treten. Bei den Examina auch nur einmal richtig zu versagen, war nie eine Option, ebenso wenig, wie wegen Krankheit mal nicht ins Taxi zu steigen.
Und dann: Endlich der lang ersehnte Moment, die Eröffnung der eigenen Praxis! Das wäre für die Industrie doch die goldene Gelegenheit gewesen, sich mein Wohlwollen für alle Zeiten zu sichern. Hat sie aber glatt versäumt! Wir hatten null Eigenkapital, nicht eine müde Mark, und sind noch nächteweise im Taxi gesessen, als wir schon den Mietvertrag für die Praxisräume unterschrieben hatten. Große Teile unserer technischen Ausstattung haben wir uns in Krankenhäusern zusammen gebettelt. Trotzdem hatten wir am Ende 150000 Mark Schulden, zu denen sich in der ersten Zeit Monat für Monat nochmal Tausende von Mark für laufende Kosten dazugesellten, weil wir noch nicht genug Gewinn erzielen konnten. Nach einem Jahr hat der Filialleiter unserer Hausbank angerufen und uns gewarnt, dass es jetzt bald eng werden würde mit unserem Kreditrahmen. Bald darauf kam der sogenannte Break-Even und dann der Turnaround in die Gewinnzone. Nicht, dass wir es dann wer weiß wie dicke gehabt hätten, aber wir waren nicht mehr vom unmittelbaren Ruin bedroht. Auch an diese Zeit erinnere ich mich ungern, weil wir ständig in existentieller Panik gelebt und letztendlich keine Nacht richtig durchgeschlafen haben.
Hat uns BigPharma damals irgendwie unterstützt? Nein, aus heutiger Sicht haben die Pharmafirmen vielmehr unsere Unerfahrenheit ausgenützt und uns damit sogar aktiv geschadet. Die Außendienstmitarbeiter haben mir reihenweise vermeintlich billige Starter-Pakete an Medikamenten verkauft, von denen mir dann die Hälfte wegen Ablaufs kaputt ging. Keine müde Mark habe ich geschenkt bekommen, sondern vielmehr jede Menge Lehrgeld an BigPharma überwiesen!
Heute, nach knapp dreißig Jahren eigener Praxis, haben wir keine echten finanziellen Sorgen mehr und verdienen natürlich ganz ordentlich. Aber jedem, der glaubt, sich darüber mokieren zu müssen, der vielleicht meint, uns flögen die gebratenen Tauben nur so ins Maul, sei gesagt: Wie viel wir bis heute für das arbeiten, was wir haben, können sich meist nur andere Tierärzte vorstellen. In diesen dreißig Jahren haben wir nie weniger (und meist sogar deutlich mehr) als sechzig Stunden pro Woche gearbeitet und hatten nie mehr als zehn Arbeitstage Urlaub am Stück. Die Zahl unserer Urlaubstage pro Jahr lag immer bestenfalls bei der Hälfte derer unserer Angestellten. Selbst jetzt, in einem Alter, in dem andere ihren Ruhestand planen oder schon eingeläutet haben, klingelt unser Wecker um 5 Uhr, und am Abend sperren wir die Praxistür oft erst nach 20 Uhr zu.
Und nun, nachdem ich unzählige Stunden in meinen Blog investiert habe und pro Monat über hunderttausend Zugriffe auf meine Homepage zu verzeichnen sind, bekomme ich tatsächlich immer mehr Angebote für sogenannte Kooperationen und die Schaltung von Werbeanzeigen auf meinen Seiten. Ich könnte damit ein nettes Sümmchen nebenher verdienen. Aber bitte, sehen Sie ruhig selbst nach: Finden Sie Werbung? Auf meiner Homepage? Nein! In meinem Wartezimmer? Nein! Wir waren nie gekauft, wir sind nicht gekauft und wir werden nie gekauft sein!
Haben uns also Pharma- und Futtermittelfirmen irgendwann in diesen vielen Jahren irgendwie wirklich geholfen, so dass wir uns ihnen verpflichtet fühlen müssten? Read my lips: No fucking way! Es gibt nicht die geringste und über unmittelbaren Eigennutz hinausgehende Solidarität zwischen Tierärzten und der Industrie. Man kann sogar noch weiter gehen und behaupten, dass die meisten Tiermediziner heutzutage eine eher sehr negative Sicht auf BigPharma haben.
Im Gegensatz zu vor ein paar Jahrzehnten, als es noch Pharmafirmen gab, die nicht wirklich rentable, aber in einem Nischenbereich der Tiermedizin unverzichtbare Präparate einfach irgendwie weiter mitgeschleppt haben, ist das heute, im Zeitalter von Shareholder-Value, Streamlining und Mega-Fusionen, absolut undenkbar. Da kann ein Medikament für manche Patienten mit einer seltenen Erkrankung noch so lebenswichtig sein, wenn es sich nicht mehr rentiert, wird es gnaden- und ersatzlos vom Markt genommen. Und durch die kosteneffektive Konzentration der Herstellungsprozesse in Niedriglohnländern wie Indien wird sehenden Auges und ohne jede Rücksicht auf das Patientenwohl das Risiko eingegangen, dass es im Falle von (inzwischen immer häufiger auftretenden) Problemen in der Fertigung zu weltweiten Lieferengpässen bei lebenswichtigen Medikamenten kommt.
Nein, wir Tierärzte hegen keinerlei freundschaftliche Gefühle für die Pharmafirmen. Wir benötigen einen Teil ihrer Produkte mehr oder weniger dringend für unsere Arbeit, aber das war es auch schon. Sie helfen uns in keiner Phase unseres Berufslebens mit auch nur einem müden Euro! Sie geben zwar viel Geld aus, um uns mit Werbung in ihrem Sinne zu manipulieren, sponsern auch Fortbildungen und Vorträge, die sich für sie auszahlen könnten. Aber jeder Tierarzt, der sein Pulver wert ist, kann diese Bemühungen mühelos durchschauen und lässt sich nicht so leicht einwickeln. Auf jeden Fall nicht so leicht, wie diejenigen, die steif und fest und in unsäglichem Stumpfsinn behaupten, dass wir Tierärzte unser ganzes Berufsleben lang von der Industrie gesponsert würden.
Wenn ich so einen ausgemachten Bullshit hören oder lesen muss, fühle ich mich angesichts meiner oben kurz angerissenen Biographie (die im übrigen mit der vieler Kolleginnen und Kollegen vergleichbar ist) buchstäblich persönlich beleidigt. Wer sowas glaubt, der gehe mir bitte ganz weit aus dem Weg, sowohl virtuell als auch im realen Leben. Alle anderen, also dankenswerterweise die große Majorität der Vernünftigen, darf ich wie immer bitten:
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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