Ein gefährliches Schreckgespenst: Der fadenförmige Fremdkörper

Ein gefährliches Schreckgespenst: Der fadenförmige Fremdkörper

Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin

Nicht zum ersten Mal zitieren wir Franz Beckenbauer: „It is a classic!“. Ja, ein fadenförmiger Fremdkörper im Verdauungstrakt (vor allem, aber nicht ausschließlich bei Katzen) ist ein echter Klassiker unter den chirurgischen Diagnosen und außerdem eine potenziell ziemlich heiße Kiste.

Landet so ein Fall erst mal in einer kompetent arbeitenden Praxis oder Klinik, ist die Diagnose via Vorbericht, Untersuchung, Röntgen und Ultraschall schnell gestellt. Die Frage ist nur: Haben Sie als Besitzer:in früh genug gemerkt, dass da was faul ist? Ohne oder mit zu spät einsetzender Behandlung kann das nämlich auf gar keinen Fall gut ausgehen.

Was passiert? Die Katze (oder auch der Hund) findet einen Faden, ein Garn, eine Schnur, einen Verschlussbändsel vom Gelben Sack und spielt damit rum. Dabei wird der Fremdkörper häufig auch ins Maul genommen. Gerade bei Katzen mit ihren zahllosen Zungenhäkchen verfangen sich textile Materialien sehr leicht und können sich dann nur noch nach hinten weiterbewegen, Richtung Speiseröhre und Magen. Der Faden wird also wie eine lange Nudel Zentimeter für Zentimeter abgeschluckt. Dann kommt es drauf an: Landet der ganze Faden im Magen und wird dort erfolgreich zu einem Knäuel zusammengedrückt, kann es gut sein, dass dieses Knäuel ohne weitere Probleme den Verdauungstrakt passiert und auf natürlichem Wege ausgeschieden wird. Erstaunlicherweise schaffen es aber speziell Katzen immer wieder, das obere Ende des Fadens irgendwie als Schleife kunstvoll um ihre Zunge zu drapieren, so dass er dort sozusagen verankert wird (siehe Foto oben). Dann nimmt das Drama seinen Lauf!

Der Faden hängt nun also mit dem einen Ende an der Zunge fest, während das andere Ende sich zuerst in den Magen und dann in den Darm weiterbewegt. Irgendwann ist die maximale Länge des Fadens ausgereizt, in manchen Fällen erst, wenn der Faden oder die Schnur am anderen Ende des Tieres wieder zum Vorschein gekommen ist. Damit kommt der Fremdkörper unter Spannung, und der Dünndarm „klettert“ in seinem vergeblichen Bemühen um Weitertransport buchstäblich an ihm hoch. Dabei legt er sich in immer engere Girlanden, bis das gesamte Dünndarmkonvolut auf kleinstem Raum zusammengeballt ist. Da geht dann natürlich nichts mehr durch, so dass wir es letztendlich mit einem Darmverschluss, einem Ileus zu tun haben, was sich durch die Generalsymptome Futterverweigerung, häufiges bzw. unstillbares Erbrechen und sistierender Kotabsatz äußert.

Die Besitzer:innen der betroffenen Tiere bemerken als erste Anzeichen einer unguten Entwicklung also entweder hochfrequentes Erbrechen oder aber – wie oben schon erwähnt – dass da irgendwas hinten raushängt. Bitte, bitte, bitte (und noch zehnmal mehr bitte): Ziehen Sie bloß nicht an dem raushängenden Bändsel! Oder wenn, dann nur gaaanz sanft und vorsichtig! Ein Ausziehversuch mit zu viel Kraft oder eine spontane, schmerzbedingte Gegenreaktion Ihres Tieres kann ohne jede Übertreibung ein Todesurteil bedeuten. Wie schon beschrieben, steht das Band oder der Faden höchstwahrscheinlich unter Spannung von oben. Der Darm hat sich schon zu maximal engen Girlanden zusammen gelegt. Wird jetzt von oben oder unten Zug ausgeübt, kommt es zum „Käsemessereffekt“ und der Darm wird (oft an mehreren Stellen oder über eine längere Strecke) durch den Faden von innen buchstäblich aufgeschlitzt, mit sofortigem Austritt von Darminhalt in die Bauchhöhle, und dann ist die Kacke echt am Dampfen!

Im dargestellten Fall kamen mehrere günstige Umstände zusammen: Die Besitzer:innen des Katers haben das mehrfache Erbrechen und das zunehmend eingeschränkte Allgemeinbefinden zur Kenntnis genommen und um einen Termin nachgesucht. Wir haben die Sache telefonisch korrekt als Notfall eingeschätzt und am gleichen Abend angenommen. Im Vorbericht wurde auch erwähnt, dass die Katzen des Haushaltes am Vortag versehentlich Zugang zu Fäden und mit diesen gespielt hatten. Da peilt man als Praktiker:in natürlich gleich mal (meist zum Missfallen des Tieres) unter die Zunge, wo man den festhängenden Faden schnell erkennen kann. Der weitere diagnostische und therapeutische Weg ist recht klar umrissen: Mit Röntgenbildern kann man sich einen guten Überblick über das Ausmaß des Problems verschaffen. Wer sich ein bisschen auskennt, kann leicht sehen, dass das über den Faden maximal zusammengeschobene Dünndarmkonvolut nur noch etwa ein Drittel des Platzes in Anspruch nimmt wie sonst. Eine schnelle Ultraschall-Untersuchung des Bauchraumes (FAST-Sonographie), bei der man oft sogar den Faden selbst erkennen kann, bringt zudem eine ziemlich sichere Antwort auf die dringende Frage, ob sich freie Flüssigkeit in der Bauchhöhle findet, was bedeuten würde, dass der Darm schon aufgeschlitzt worden ist. In diesem Fall waren wir froh, dass wir keine derartigen Anzeichen finden konnten.

Die Therapie dieses Krankheitsbildes kann natürlich nur chirurgisch erfolgen. Wir haben den Bauch des Katers mit einem langen Schnitt eröffnet und uns die Lage angesehen. Wie erhofft bzw. erwartet, war der Darm noch an keiner Stelle perforiert. Nach zwei strategisch positionierten Mini-Enterotomien (Darmeröffnungen) haben wir den Faden so durchtrennt, dass die Spannung auf der ganzen Länge sofort nachließ und der Darm sich wieder entfalten konnte. Danach war es ein Leichtes, vorsichtig den oberen Teil des Fadens durch die Mundhöhle und den unteren Teil durch den zweiten angelegten Darmschnitt auszuziehen. Nach dem sorgfältigen Verschluss der beiden Enterotomiewunden und der Bauchhöhle war der Notfall erfolgreich bewältigt. Der Kater konnte schon tags darauf wieder Futter aufnehmen und bei sich behalten. Er hat sich im weiteren Verlauf gut von diesem für ihn sicher sehr schmerzhaften und unangenehmen Abenteuer erholt.

Die Moral von der Geschicht ist ja klar, oder? So wie es kindersichere Haushalte gibt, gibt es auch katzen- und hundesichere Haushalte. Dazu gehört auf jeden Fall, dass die Tiere möglichst nie Zugang zu fadenförmigen Fremdkörpern haben sollten. Das ist nicht unbedingt einfach, das Auge dafür muss man erst bewusst entwickeln. Ein jahreszeitlich passender Hinweis: Auch Lametta und Geschenkbänder sind potenzielle fadenförmige Fremdkörper und mussten schon oft aus Katzendärmen entfernt werden! Bei Freigänger-Katzen, die ja an jeder Ecke einen Faden, eine Schnur oder ein Band finden können, muss man dieses Krankheitsbild natürlich immer irgendwie im Hinterkopf haben.

Und noch eine Lektion, die wir aus diesem Fall lernen können: Inappetenz (Futterverweigerung) und mehrfaches Erbrechen kann man NICHT auf die lange Bank schieben! Wie erwähnt haben wir diesen Fall am späten Nachmittag angenommen. Ein beobachtendes Abwarten über Nacht hätte für diesen Kater aller Wahrscheinlichkeit nach die Darmperforation und damit eine hohe Chance auf einen sehr hässlichen Tod bedeutet. Übrigens: Wenn Sie Ihre Katze auf frischer Tat ertappen, also direkt live und in Farbe mitbekommen, wie gerade so ein fadenförmiger Fremdkörper abgeschluckt wird, gilt wieder: Bloß nicht an einem eventuell noch greifbaren Ende gegen Widerstand ziehen! Besser sofort einen Termin in einer Praxis oder Klinik ausmachen, die die Möglichkeit zur Endoskopie hat. Mit etwas Glück kann man dann den Faden noch endoskopisch und ohne Operation aus dem Magen bergen, bevor er sich weiter in den Darm bewegt.

Nachdem die seit dem 22. November gültige Novellierung der Gebührenordnung für Tierärzte (GOT) gerade in aller Munde ist, noch ein ganz praktischer Hinweis: Die Bewältigung dieses Notfalls wenige Tage vor dem Inkrafttreten der neuen GOT hat (ohne die notwendigen Kontrolluntersuchungen in den nächsten Tagen) ca. 1300 Euro gekostet. Wir haben den Vorgang dann nochmal auf der Basis der neuen Gebührenordnung durchgerechnet und kamen dabei – vor allem aufgrund der ganz anderen Gewichtung der mit der Narkose verbundenen Leistungen – auf einen Betrag über 2000 Euro. Wenn Ihnen bei dieser Information schwindlig oder schlecht wird, sollten Sie Ihre Rücklagen für tierische Notfälle entsprechend aufstocken oder sich Gedanken über den Abschluss einer Tierkrankenversicherung machen!

Ganz am Ende der Hinweis: Teilen dieses Artikels kann aus offensichtlichen Gründen Katzenleben retten!

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,

Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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