Von Ralph Rückert, Tierarzt
Ich liebe meinen Beruf! Wirklich! Trotzdem überkommt mich – speziell in dieser dunklen Jahreszeit – manchmal das ungute Gefühl, dass man als freiberuflich tätiger Tierarzt langfristig nur vier Möglichkeiten hat: Man wird mit den Jahren ein von allem Mitgefühl befreiter und maximal dickfelliger Kotzbrocken, man landet irgendwann mit einem Burnout oder einem depressiven Schub in der Psychiatrie, man bringt sich um oder man schafft es – was natürlich am erstrebenswertesten erscheint – mehr oder minder lädiert glücklich bis in den Ruhestand.
Für einige vielleicht überraschend: In vielen westlichen Ländern belegen Tiermediziner beiderlei Geschlechts regelmäßig und mit weitem Abstand den ersten Platz in der Selbstmord-Statistik.
Neben sicherlich vielen anderen, von denen außerhalb ihres Umfeldes niemand Kenntnis genommen hat, haben sich im vergangenen Jahr zwei Kolleginnen unter zumindest in Fachkreisen lebhafter Anteilnahme das Leben genommen. Ohne über die privatesten Sorgen und Nöte von Shirley Koshi und Sophia Yin (mögen sie in Frieden ruhen!) näher informiert zu sein, verkörpern sie für mich doch beide in einer gewissen Weise Problembereiche, die uns allen zeitweise schwer zu schaffen machen.
Wenn wir uns die Umstände von Shirley Koshis Freitod ansehen, erhaschen wir einen Blick in die widerwärtige Fratze des Cyber-Mobbings. Shirley (sie wurde 55 Jahre alt) eröffnete im Sommer 2013 relativ spät in ihrem bewegten Berufsleben ihre eigene bescheidene Praxis in New York. Etwa einen Monat später wurde ihr ein kranker Kater in die Praxis gebracht, der in schlechtem Zustand und mit einer schweren Infektion der Atemwege in einem nahen Park aufgegriffen worden war. Shirley behandelte den Kater erfolgreich und beschloss dann, den Streuner zu adoptieren. Allerdings tauchte alsbald eine Frau in ihrer Praxis auf, die behauptete, dass der Kater, genannt Karl, Mitglied einer Gruppe frei lebender Katzen in dem bewussten Park sei und von ihr versorgt würde. Deshalb verlangte sie von Shirley die Herausgabe des Katers, was diese aus nachvollziehbaren Gründen verweigerte.
Die Frau klagte auf Herausgabe des Tieres, war aber nicht in der Lage, gegenüber den zuständigen Stellen ihr Eigentumsrecht zu belegen. Daraufhin startete sie eine Diffamierungskampagne gegen Shirley, die Mahnwachen vor der Praxis und fortgesetzte persönliche Angriffe und Verleumdungen in den sozialen Medien beinhaltete. Die Praxis-Homepage und die Facebook-Seite von Shirley wurden mit übelsten Schmierereien und Beleidigungen angegriffen. Vielleicht hätte Shirley in dieser geschäftlich hochsensiblen Phase kurz nach Praxiseröffnung einfach nachgeben sollen. Hat sie aber nicht, und als die erbarmungslos durchgezogenen Angriffe Anfang 2014 ihre Praxis wirtschaftlich zugrunde gerichtet hatten, nahm sich Shirley mit einer Überdosis Phenobarbital das Leben.
Und so wurde ihr Tod von einer der beiden Websites kommentiert, die für diese Hetzkampagne in erster Linie verantwortlich waren (übersetzt von mir): „Shirley Sara Koshis Nachruf (…) ist online erschienen, und ich habe gerade erfahren, dass Kater Karl IN SICHERHEIT und zu Hause ist, nach einem Umweg über das New Yorker Tierheim. (…) Alles was jetzt zählt ist, dass Karl da lebend und wohlbehalten rausgekommen ist, wofür alle Beteiligten dankbar sind. Das war eine lange und seltsame Geschichte, und ich bin froh, dass sie gut ausging für Karl.“ Anmerkung: Der Kater lebte in Shirleys Wohnung, wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben gut umsorgt und wohl genährt. Inzwischen ist er gerüchtehalber wieder in dem Park gesehen worden.
Viele Kommentare feierten dies als großen Erfolg der Kampagne. Auf kritische Anmerkungen einiger weniger, die ganz richtig befürchteten, dass die Flut an Hass-Botschaften zu Shirleys Tod beigetragen haben könnte, war das folgende Posting zu lesen: „LOL (steht für lautes Auflachen), Dr. Koshi trug zu Dr. Koshis Tod bei. Selbstmord ist die Konsequenz ihrer eigenen Handlungen.“
Da kann es einem schon kotzübel werden! Shirley hatte nach dem, was ich gelesen hatte, schon vorher psychische Probleme und hat vielleicht dementsprechend sensibel auf die Hasskampagne reagiert. Aber in den Ruin und in den Tod getrieben wurde sie – wegen des Schicksals einer Streunerkatze – von einer tollwütigen Horde bösartiger und sadistischer Vollpfosten, die im realen Leben mit größter Wahrscheinlichkeit absolut nichts gebacken bekommen und sich demzufolge an ihrer perversen Macht als Internet-Piranhas berauschen. Das ist DER Aspekt des Netzes, mit dem ich absolut nicht zurecht komme.
So klar die Fakten in Shirley Koshis Fall auf der Hand liegen, so auf den ersten Blick rätselhaft erscheint Sophia Yins Selbstmord mit gerade mal 48 Jahren. Ich habe Sophia nicht persönlich gekannt, aber viel von ihr gelesen, ebenso viel von ihr gelernt und sie in vielen Videos bei ihrer Arbeit beobachtet. Vielleicht liegt es daran, dass mich ihr Freitod doch ziemlich mitgenommen hat. Sophia war eine nicht nur in den USA, sondern auch weltweit anerkannte und sehr erfolgreiche Verhaltensspezialistin. In ihren Video-Clips vermittelte sie immer einen äußerst kompetenten Eindruck und strahlte eine natürlich-gelassene Fröhlichkeit aus. Im Nachhinein fragt man sich natürlich, was sie hinter dieser makellosen öffentlichen Fassade verborgen hat, die sie, wie die meisten von uns, eisern aufrecht erhalten hat, oder besser gesagt, aufrecht erhalten musste.
Ja, musste! Denn viele Kunden (jetzt mal allgemein und ohne jede Berücksichtigung der vielen rühmlichen Ausnahmen gesprochen) sind in diesen Zeiten gerne gnadenlos in ihren Erwartungen. Es wird nicht weniger gefordert als Perfektion, also absolut fehlerfreie Leistungserbringung bei gleichzeitig unerschütterlicher Dauer-Bestlaune. Einmal schlecht aufgestanden und kurz eine Angestellte angeraunzt oder einmal ein verzogenes Kind angepfiffen, das man neben der (selbstredend bitte perfekten) Behandlung des Patienten ständig davon abhalten muss, sich mit irgendwelchem medizinischen Gerät zu verletzen – schon hat man eine gute Chance darauf, dass der Vorfall, gern entsprechend ausgeschmückt und aufgeblasen, auf Facebook, Twitter oder wo auch immer durchgehechelt wird.
Je besser der Ruf ist – und Sophia war auf ihrem Spezialgebiet höchst angesehen – desto weniger kann man sich auch nur den kleinsten Fehler erlauben. Ein Formtief, wie es im Sport zum guten Ton gehört? Für Tierärzte schlicht undenkbar! Darüber offen reden, wenn es einem schlecht geht, egal aus welchen Gründen? Vergiss es! Das steht innerhalb von Stunden im Netz! Reiß dich am Riemen, Mensch! Lächeln, immer weiter lächeln! Diese neue Art von Druck, ständig unter öffentlicher Beobachtung zu stehen, niemals schlecht drauf sein zu dürfen, setzt vielen Kolleginnen und Kollegen immens zu.
Als Verhaltensmedizinerin hat Sophia auf einem Feld gearbeitet, wo es sehr häufig um Leben oder Tod geht. Weltweit gesehen werden nämlich die meisten Hunde und Katzen nicht etwa wegen unheilbarer Krankheiten, sondern auf Grund von Verhaltensproblemen eingeschläfert. Sophia war mit ihren Therapieansätzen natürlich sehr häufig erfolgreich, aber auch sie ist mit Sicherheit immer wieder gescheitert, was dann für den betreffenden Patienten eventuell das endgültige Aus bedeutet hat. Und da kommt dann der unbarmherzigste Kritiker überhaupt auf den Plan: Man selbst!
Alle guten Tierärzte sind sehr darauf fixiert, immer besser zu werden, immer am Ball zu bleiben. Wenn es ihnen nicht gelingt, einen Patienten zu heilen oder wenigstens seine Lebensqualität zu verbessern, so wird das ungesund häufig als schwere Niederlage, wenn nicht gar als persönliches Versagen empfunden. Ein hohes Maß an Selbstkritik, eigentlich unerlässlich für jeden, der in seinem Beruf gut sein will, geht leider auch mit einer hohen Rate an Depressionserkrankungen einher.
Wer glaubt, dass man in diesem Beruf abends einfach die Praxistür hinter sich zumacht und gut ist es, der täuscht sich. Keiner von uns kann nach ein paar Jahren die Nächte zählen, die man schlaflos in der Sorge verbracht hat, irgend etwas übersehen, irgend etwas falsch interpretiert zu haben. Man verbringt im Laufe des Berufslebens Hunderte von Stunden damit, seine eigenen Entscheidungen zu hinterfragen. Und natürlich stößt man dabei auf Fehler, die einem unterlaufen sind, manche harmlos, manche mit schweren Konsequenzen. Ich bilde mir ein, dass ich in solchen Fällen immer ehrlich zu meinen Kunden war und meine Fehler offen dargelegt habe. In einer Zeit aber, in der schon eine zu kurz geschnittene Kralle zu einem negativen Eintrag in einem Bewertungsportal führen kann, zweifle ich zunehmend an diesem Konzept. Die perfekte Fassade der digitalen Reputation darf keine Kratzer bekommen!
Dabei wird es – für viele von uns überraschend, was sicher auch für Sophia galt – mit den Jahren immer problematischer, nicht melancholisch oder depressiv zu werden. Wir haben so viele schöne Beziehungen zu unseren Patienten, aber sie enden alle mit dem Tod, meistens mit dem Tod aus unserer Hand. Ich arbeite jetzt seit fast 30 Jahren und ich habe Tausende von Leben beendet – und es wird immer schwerer. Wie ein amerikanischer Kollege vor kurzem geschrieben hat: Es ist, als ob sich immer mehr Blei in deinen Kitteltaschen ansammelt. Natürlich töte (ja, jetzt lasse ich mal die schönfärberischen Umschreibungen weg) ich oft genug schwer leidende Patienten, bei denen ich froh bin, dass ich ihnen den Notausgang aufmachen kann. Andere töte ich mit Wut im Bauch, weil sie durch Ignoranz oder Nachlässigkeit ihrer Besitzer in eine aussichtslose Situation gebracht worden sind. Bei den meisten aber bin ich einfach traurig, dass es jetzt vorbei ist. Und dann gibt es noch die, die mir fast das Herz brechen, weil sie sich immer gefreut haben, mich zu sehen, die mir immer vertraut haben, obwohl ich für sie doch der Mann mit der Spritze war. Wenn die mich zum letzten Mal mit Vertrauen anschauen, dann geht es mir überhaupt nicht gut, auch wenn Sie als Kunde mir das meistens nicht anmerken werden.
Mit all dem und den üblichen privaten Sorgen und Problemen hatte sicher auch Sophia zu kämpfen. Ich weiß natürlich nicht, was speziell sie letztendlich zum Zerbrechen gebracht hat. Ich weiß nur – aus persönlicher Erfahrung, aus Gesprächen und aus statistischen Daten zu Burnout und Selbstmord in unserem Beruf – dass erschreckend viele von uns gefährlich nahe am Abgrund entlang stolpern, so dass es oft nur noch einen kleinen Schubs braucht, damit es zum Absturz kommt.
Warum habe ich diesen Artikel geschrieben? Weil es mir selber schlecht geht? Nein, mir geht es dankenswerterweise gut und nach wie vor liebe ich meinen Beruf. Das muss nicht so bleiben. Viele, die es erwischt hat, sind ganz unversehens ins Trudeln geraten. Also nein, es geht nicht um mich persönlich. Meine Absicht war eher, zum einen eine Art von Nachruf für die beiden Kolleginnen zu schreiben, zum anderen Ihnen, den Kunden, einen kleinen Einblick hinter die glatt polierte Dienstleister-Fassade eines Berufsstandes zu gewähren, der mehr Selbstmorde produziert als jeder andere. Und Sie haben sicherlich verstanden, dass es auch ein klein wenig als Appell an Sie gemeint ist, sich immer mal wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass Ihre Tierärztin oder Ihr Tierarzt nicht aus Gusseisen ist, sondern ein Mensch mit all seinen Schwachstellen.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen
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