Von Ralph Rückert, Tierarzt
Im Leben eines Mediziners gibt es vier Phasen: Zu Anfang ist er zu Recht unsicher. Danach zu Unrecht sicher. Im dritten Abschnitt seiner Laufbahn ist er zu Recht sicher und zuletzt wird er zu Unrecht unsicher.
Hätte ich diese Feststellung nicht schon als junger Student von einem meiner Professoren gehört, könnte ich jetzt behaupten, sie wäre auf meinem Mist gewachsen. Dass ich sie aufgrund meines eigenen und nicht gerade kurzen beruflichen Lebenslaufs für zutreffend halte, werden manche natürlich als selbsterfüllende Prophezeiung bezeichnen. Befreundete Kolleginnen und Kollegen bestätigen mir aber, dass sie es ganz ähnlich empfinden.
Die ersten fünf Jahre: Zu Recht unsicher!
Es gibt (dankenswerterweise) nur wenige Frischlinge, die sich – ohne es natürlich nach außen zuzugeben – nicht darüber im Klaren wären, dass sie zwar jede Menge theoretisches Wissen, aber absolut keine nennenswerte Erfahrung zu bieten haben. Das sind in meiner Erinnerung reichlich unangenehme Jahre, geprägt von häufigen Schweißausbrüchen und Versagensängsten. Diese Ängste sorgen allerdings auch dafür, dass man eigentlich gar nicht so viele Fehler macht, wie man erwarten würde, weil man sich – wenn man denn halbwegs bei Sinnen ist – peinlich genau an die an der Uni eingedrillten Untersuchungsgänge hält und alles doppelt und dreifach nachliest und durchdenkt. Von schnellem, sicheren und routiniertem Vorgehen kann in diesem ersten Abschnitt der Laufbahn zwar keine Rede sein, aber als Patient, der etwas Geduld und Verständnis mitbringt, muss man sich vor einem Arzt in diesem Lebensabschnitt meiner Meinung nach keineswegs fürchten.
Die nächsten fünf Jahre: Zu Unrecht sicher!
Diese zweite Lebensphase ist für Arzt und Patient die kritischste! Hier kommt es zu den meisten bösen und folgenschweren Fehlern. Durch die von Sorgfalt und Vorsicht geprägten ersten Jahre hat das Selbstbewusstsein schnell zu- und die Angst genau so schnell abgenommen. Man fängt unweigerlich an, verbotene Abkürzungen zu nehmen und den Untersuchungsgang darauf abzustellen, eine vorschnell gefasste Meinung zu bestätigen. Auf diese Weise habe ich sicher so einige Fehldiagnosen gestellt und ein entsprechend falsches therapeutisches Vorgehen gewählt. In diesen Jahren musste ich mich immer wieder und mit wechselndem Erfolg dazu zwingen, mich genauestens an die gelernten Abläufe zu halten und jeden diagnostischen Tunnelblick zu vermeiden. In dieser Phase übersteigerten Selbstbewusstseins habe ich mich auch sehr schwer damit getan, jemanden weiter zu überweisen oder mir kollegialen Rat zu holen, weil ich das – ganz Tierarzt-Macho – als Eingeständnis von Schwäche und Unfähigkeit gesehen habe. Als Patient mache ich um Mediziner in diesem Stadium ehrlich gesagt gern einen weiten Bogen, wenn sie nicht unter engmaschiger Aufsicht erfahrener Leute arbeiten.
15 bis 20 richtig gute Jahre: Endlich zu Recht sicher!
Die definitiv beste Zeit in meinem Leben als Tierarzt! Was in der zweiten Phase noch sehr viel Kraft gekostet hat, nämlich nicht gewohnheitsmäßig in Schlamperei und Voreiligkeit zu verfallen, ist in Fleisch und Blut übergegangen. Gleichzeitig hat sich so viel Erfahrung angesammelt, dass man Diagnose und Therapie sehr vieler Erkrankungen als lockere Fingerübung und schwierige Fälle als das Salz in der Suppe empfindet. Sicherheit gibt Gelassenheit, so dass es auch zunehmend leicht fällt, mal zuzugeben, wenn man etwas nicht gleich aus dem Effeff kennt oder sich überfordert fühlt. Der Umgang auch mit schwierigen Patienten, also das, was man auf Englisch „bedside manners“ nennt, kostet bei weitem nicht mehr so viel Nerven wie in den Phasen zuvor. Und man hat gelernt, dass man es – egal, was man anstellt – sowieso nie allen recht machen kann. Wie gesagt: Eine sehr schöne Zeit, in der man zwar auch noch unvermeidlicherweise den einen oder anderen Fehler macht, sich aber zu Recht fast unschlagbar gut fühlt und von relativ wenigen Zweifeln geplagt wird. Wenn ich als Patient an einen Arzt gerate, der sich in dieser Phase befindet, fühle ich mich meist sehr gut aufgehoben.
Zu guter Letzt: Zu Unrecht unsicher!
Das ist eine für Laien sicher schwer verständliche Phase. Wieso sollte ein älterer und hoch erfahrener Arzt plötzlich wieder unsicher werden? Das ist eine reine Kopfsache. Diese langsam wieder zunehmende Unsicherheit ist eigentlich nicht wirklich begründet. Der Arzt ist nach wie vor so kompetent wie in der dritten Phase, wird wahrscheinlich sogar immer noch besser. Gleichzeitig aber nimmt die Ehrfurcht vor der enormen Komplexität dessen, was wir tun, immer mehr zu. Je länger ich als Tierarzt arbeite, desto klarer wird mir, wie wenig wir immer noch wissen und wie nassforsch und grob wir so manches Mal in hochkomplizierten Mechanismen und Regelkreisen herumwerkeln, die wir gar nicht richtig verstanden haben.
Es fällt mir immer schwerer, den in Phase 3 noch voll verinnerlichten Spruch „Wo gehobelt wird, fallen Späne“ zu akzeptieren. Große Erfahrung bedeutet auch, dass man unweigerlich nicht selten miterleben musste, wie schrecklich und unerwartet schief eine medizinische Intervention im schlimmsten Falle gehen kann. Irgendwie schaffe ich es inzwischen häufig nicht mehr, den einzelnen Patienten, sein Leiden und seinen Besitzer nüchtern und neutral als Teil des großen Ganzen bzw. der Gesamtstatistik zu sehen. Viele Fälle gehen mir mit den Jahren emotional immer näher. Das schulterzuckende und dem professionellen Schutz des eigenen Gemüts dienende „some you win and some you lose“ funktioniert bei mir schon eine ganze Weile nicht mehr so richtig.
Dementsprechend hat das Motto „Primum non nocere“ („Erstens nicht schaden“) in unserem Praxislogo in der letzten Zeit für mich immer mehr Bedeutung gewonnen. Wo ich ein paar Jahre zuvor noch mit allen verfügbaren Mitteln dazwischen gegrätscht bin, um zu einem schnellen Erfolg zu kommen, überlege ich jetzt in erster Linie, ob ich nicht besser die Füße still halten und noch ein wenig abwarten sollte, um dem kranken Tier Gelegenheit zu geben, mit dem Problem selber und ohne drastische Interventionen von meiner Seite fertig zu werden. Das ist nicht zwangsläufig eine schlechte Sache, ganz im Gegenteil (wenn es auch manch ungeduldiger Tierhalter nicht zu schätzen wissen mag), aber die Gefahr, die sich daraus ergibt, nämlich zu große Zögerlichkeit, ist mir wohl bewusst. Wie ich damit umgehen werde, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht.
Wo sehe ich mich selber? Zur Hälfte noch in der dritten, zur anderen Hälfte schon in der vierten Phase. Wie es weitergehen wird? Keine Ahnung! Ist ja auch für mich Neuland. Eigentlich will ich – wenn die Gesundheit es zulässt – arbeiten bis mindestens zum 70. Geburtstag, weil mir mein Beruf nach wir vor großen Spaß macht und ich mich beileibe nicht nach dem Ruhestand sehne. Sollte diese eigentlich unberechtigte Unsicherheit in der vierten und letzten Phase meines Medizinerlebens aber irgendwann zu groß werden, werde ich wohl oder übel aufhören müssen, bevor ich durch zu häufige Unentschlossenheit zur Gefahr für meine Patienten werde. Aber bis dahin fließt hoffentlich noch einiges Wasser die Donau runter!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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