Die Schilddrüsenunterfunktion (SDU) beim Hund: Erfahrungen aus der Praxis

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Meine Praxis hat zu jedem gegebenen Zeitpunkt zwischen 50 und 100 Hunde wegen Schilddrüsenunterfunktion (SDU, Hypothyreose) in Behandlung. Eventuell ist eine Art Zwischenbilanz aus der täglichen Praxis von Interesse, und zwar sowohl für Besitzer von hypothyreoten Hunden als auch für Halter, die für sich den Verdacht hegen, dass ihr Hund unter dieser endokrinologischen Störung leiden könnte.

Wie in meinem Artikel „Das Phantom: Die subklinische Schilddrüsenunterfunktion“ erläutert, müssen wir grundsätzlich zwischen zwei Formen der Hypothyreose unterscheiden: Da gibt es zum einen die klassische, klinische SDU, die durch eine Vielzahl recht deutlicher physischer und psychischer Symptome und durch mehr oder wenig eindeutige Laborbefunde gekennzeichnet ist. Zum anderen haben wir es auch mit der (viel häufigeren!) subklinischen Form der SDU zu tun, die sich oft „nur“ durch Verhaltensauffälligkeiten äußert und die alles andere als eindeutige Laborergebnisse liefert. Im weiteren Verlauf dieses Artikels setze ich voraus, dass an dem Thema interessierte Leser den verlinkten Eintrag gelesen haben, und erkläre nicht alle Basics nochmal neu.

Über die klassische Form der SDU müssen wir nicht allzu viele Worte verlieren. Das meist klare klinische Bild und die den Verdacht bestätigenden Laborwerte lassen eigentlich keine Diskussion zu. Die betroffenen Hunde brauchen Schilddrüsenhormone, damit ihr Körper wieder zu einer normalen Funktion zurückfindet. In diesen Fällen kann man auch mit hoher Sicherheit prognostizieren, dass den Patienten die Medikation sichtbar gut tun wird. Die im Vorfeld der Diagnose gern mal auf das meist fortgeschrittene Alter der Hunde geschobenen Erscheinungen wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Lethargie, Lustlosigkeit und eventuell Gereiztheit werden unter der Therapie in geeigneter Dosierung stark reduziert werden oder gar komplett verschwinden. Die Einstellung der Patienten auf eine Wohlfühldosis ist in der Regel wenig problematisch und die Besitzer solcher Hunde sind mit dem Ergebnis der Behandlung in fast allen Fällen hochgradig zufrieden.

Nun stellen die Hunde mit klassischer SDU aber nur maximal 10 Prozent der von uns behandelten Patienten. Alle anderen leiden unter der subklinischen Form der Erkrankung, die nach wie vor sehr umstritten ist, deren Existenz von vielen Kolleginnen und Kollegen rundweg abgelehnt wird und die sowohl diagnostisch als auch therapeutisch bestenfalls in einem wissenschaftlichen Graubereich anzusiedeln ist. Die Symptome beschränken sich bei dieser Form in der Regel auf Verhaltensauffälligkeiten, die allerdings teilweise stark lebenseinschränkende Ausmaße annehmen können. Da solche rein auf das Verhalten bezogenen Symptome natürlich auch durch andere Faktoren wie Prägungs- und Sozialisierungsdefizite, mangelhafte Erziehung und nicht zuletzt andere Erkrankungen verursacht werden können, hat man es in den meisten Fällen mit einer alles andere als glasklaren Ausgangslage zu tun.

Auch die im weiteren Verlauf ermittelten Laborergebnisse sind in den seltensten Fällen wirklich eindeutig. Meist hat man es mit Schilddrüsenwerten zu tun, die sich durchaus noch im klassischen Normbereich bewegen, wenn auch im berüchtigten „unteren Drittel“. Sowohl die Hauptsymptome als auch die Laborwerte lassen also jede Menge Spielraum für Interpretationen zu. Nach wie vor halte ich es für sehr wichtig, solche Patienten (und natürlich ihre Besitzer) selbst kennen zu lernen und einer genauesten körperlichen Untersuchung zu unterziehen. Ebenfalls ist es von größter Bedeutung, bloß nicht auf den verwegenen Gedanken zu verfallen, nur die Schilddrüsenwerte labordiagnostisch bestimmen zu lassen. Da – wie in dem oben verlinkten Artikel erläutert – neben der klassischen und der subklinischen SDU mit dem Euthyroid Sick Syndrome (Non-Thyroidal Illness, NTI) ein dritter Player auf dem Feld steht, ist es immer von größter Wichtigkeit, bisher eventuell unentdeckte andere Erkrankungen oder Medikationen, die die Schilddrüse negativ beinflussen können, sicher auszuschließen.

An dieser Stelle bringe ich erneut meine schon einmal geäußerten Zweifel an einer SDU-Therapie über Telefon-Hotlines zum Ausdruck. Wir hatten zumindest einen über eine Hotline eingestellten Patienten, bei dem sich hinter der SDU ein Morbus Addison (ein Artikel über diese Krankheit ist in Arbeit) versteckte. Die Laborbefunde, die mich auf diesen (später durch ACTH-Test bestätigten!) Verdacht brachten, lagen nach Angaben des Patientenbesitzers der Hotline in gleicher Form vor. Da hilft natürlich die mehrfache Steigerung der L-Thyroxin-Dosis in schwindelerregende Höhen auch nicht wirklich weiter. Übrigens: Die sehr unangenehme Kombination von SDU und Morbus Addison kommt immer mal wieder vor und wird als Schmidt-Syndrom bezeichnet.

Wie kommt es unter solch unklaren Vorbedingungen überhaupt zu einer Diagnose mit anschließender Behandlung? Zum einen melden sich viele Hundebesitzer mit dem entweder selbst gefassten oder von anderer Seite (meist Hundetrainer) geäußerten Verdacht, dass die Verhaltensauffälligkeiten des Tieres durch eine subklinische SDU verursacht sein könnten. Zum anderen gibt es durchaus Hunde aus meinem Stammklientel, bei denen ich selbst die Besitzer darauf hinweise, dass diagnostische Bemühungen in diese Richtung Sinn machen könnten.

Die Patienten mit Verdacht auf subklinische SDU kann man grob in vier Gruppen einteilen: Die, bei denen ich aufgrund von Vorgeschichte, eigener Anschauung, Laborwerten und Bauchgefühl sehr sicher bin, dass sie mit Schilddrüsenhormonen behandelt werden sollten, dann die, bei denen ich gewisse Zweifel habe, drittens die, bei denen ich annähernd sicher bin, dass die Schilddrüse zumindest nicht die einzige Ursache für die festgestellten Verhaltensprobleme darstellt, und zuletzt diejenigen, bei denen ich eine Hormonsubstitution für völlig verfehlt halte. In den drei erstgenannten Gruppierungen neige ich – selbstredend mit völlig unterschiedlicher Erwartungshaltung – zur Test-Therapie, um endgültige Klarheit zu erlangen. Ich sehe keinen anderen Weg angesichts eines Krankheitsbildes, von dessen Existenz ich zwar fest überzeugt bin, das aber noch nicht mal wissenschaftlich eindeutig beschrieben ist und für das es kein einziges wirklich beweisendes Symptom gibt.

Die von den tiermedizinischen Laboren unterstellten Schilddrüsennormwerte müssen wir meiner Meinung nach gleich in die Tonne treten, denn sie können allenfalls eine grobe Orientierung bieten, aber auf gar keinen Fall als für alle Hunderassen gültig bezeichnet werden. Ich sehe, ohne es wirklich beweisen zu können, in dieser Hinsicht enorme rassebedingte Unterschiede. Irgendwie ist das ja auch nicht weiter verwunderlich. Viele Rassen bzw. ganze Rassegruppen sind über viele Generationen geografisch und genetisch völlig isoliert herangezüchtet worden. Irgendwann mal werden wir wohl labordiagnostische Normalbereiche haben, die rassespezifisch festgelegt worden sind. Bis dahin ist es aber noch ein sehr weiter Weg, und deshalb wird uns bis dahin nur die diagnostische Test-Therapie weiter helfen können. Ich sehe in einer solchen Vorgehensweise keinen Schaden für den Patienten. Bei vorsichtigem und sensiblem Einschleichen der Medikation wird sich schon zeigen, ob ein positiver Effekt eintritt oder nicht. Schlägt die Therapie nicht an, kann (und sollte!) man die Medikation ebenso vorsichtig wieder ausschleichen und ist danach allemal ein Stück schlauer.

Für mich trotz aller Erfahrung nach wie vor schwer zu handhaben ist die oftmals völlig überzogene Erwartungshaltung der Besitzer solcher Hunde. Wo ich mir eine Besserung, eine Linderung der Symptome erwarte und damit hochzufrieden wäre, erwarten viele Halter, dass die Medikation alle Probleme, die sie mit ihrem Hund haben, buchstäblich wegblasen würde. Diese Erwartung wird in fast allen Fällen enttäuscht werden. Man kann bei einer subklinischen SDU, die nun mal nur einer der vielen Faktoren ist, die das Verhalten beinflussen, von der Medikation wirklich nur eine mal mehr, mal weniger deutliche Verbesserung der Grundbedingungen erwarten. Idealerweise wird durch die Therapie eine Tür geöffnet, die eine erzieherische Kommunikation mit dem Tier (wieder) möglich macht. Das war’s aber dann auch schon. Um es klar auszudrücken: Paul, der superaggressive und leinenpöbelnde Terrier, wird durch Schilddrüsentabletten ganz sicher nicht über Nacht zu Kommissar Rex, und das unter sozialer Deprivation aufgewachsene rumänische „Angst-Mäuschen“ Lena auch nicht zu Lassie (falls die überhaupt noch jemand kennt).

Die Einstellung auf eine Wohlfühldosis kann bei Hunden mit subklinischer SDU eine mühsame, langwierige und manchmal auch frustrierende Angelegenheit sein. Da braucht es wochen- und monatelange Geduld und viel Kommunikation zwischen Hundebesitzer und Tierarzt. Interessanterweise treten in manchen Fällen durchaus deutliche jahreszeitliche Unterschiede im Hormonbedarf der Patienten auf, so dass die Dosis zur allgemeinen Überraschung immer wieder mal neu eingestellt werden muss. Andererseits: Irgendwie ist das ja auch nicht wirklich verwunderlich. Bei jeder anderen endokrinologischen Erkrankung, sei es Diabetes, Cushing oder Addison, ist es völlig normal, dass man immer wieder kontrollieren und nachjustieren muss. Warum sollte es bei der SDU anders sein?

Eine erwähnenswerte Tatsache: Nicht wenige Hundehalter, deren Tiere bereits andernorts auf Schilddrüsenhormone eingestellt worden sind, sind nicht ausreichend gut über die korrekte Eingabe informiert, sei es durch Versäumnis der vorbehandelnden Kollegen, sei es durch nicht richtig Zuhören der Patientenbesitzer. Ich stoße jedenfalls immer mal wieder auf große Verblüffung, wenn ich die genauen Modalitäten einer L-Thyroxin-Medikation erläutere. Hier nochmal in aller Kürze: Möglichst genau alle zwölf Stunden, auf nüchternen Magen (nüchtern definiert als mindestens vier Stunden nach der letzten Futteraufnahme, was auch Leckerbissen mit einschließt), nach der Eingabe noch für mindestens 30, besser aber für 45 Minuten keine Futteraufnahme.

Der allgemeine Frust von Hundebesitzern, die schon in mehreren tiermedizinischen Einrichtungen eine eventuelle subklinische SDU abklären lassen wollten, ist häufig groß. Für viele Kolleginnen und Kollegen liegt eine Hypothyreose genau dann vor, wenn das klinische Bild des Hundes den in den Lehrbüchern genannten Symptomen entspricht UND die Werte für T4 und TSH den Normbereich verlassen haben. Das wird bei einer subklinischen SDU letztendlich nie der Fall sein. Es reicht auch bei dieser Fragestellung einfach nicht, nur diese beiden Werte zu bestimmen. Wir stützen uns da in den meisten Fällen auf das von Laboklin angebotene und sehr umfangreiche Schilddrüsenprofil, das alle machbaren Werte enthält, sogar solche, deren Sinnhaltigkeit ich anzweifle. Oft kommt es aber bei in dieser Angelegenheit streng konservativ denkenden Kolleginnen und Kollegen erst gar nicht zur Blutuntersuchung, weil diese mit Blick auf das eventuell noch jugendliche Alter des Patienten oder die fehlenden klinischen Symptome rundheraus abgelehnt wird. Das ist aber mit Sicherheit falsch. Wir haben schon Hunde gesehen, die mit unter einem Jahr eine richtig krachige SDU hatten, bei deren Beurteilung es nicht den geringsten Zweifel gab.

Für mich gilt es inzwischen als völlig gerechtfertigt, bei verhaltensauffälligen Hunden jeden Alters eine vollständige labordiagnostische Abklärung der Schilddrüsenwerte durchzuführen. Warum auch nicht? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

Ein abschließender Nachtrag: Patientenbesitzer, bei deren Hund durch sie selbst, einen Hundetrainer oder einen Tierarzt eine subklinische SDU unterstellt wird, MÜSSEN sich darüber im Klaren sein, dass es keinen wissenschaftlich belegbaren und anerkannten Weg gibt, dies zweifelsfrei zu diagnostizieren, wie es zum Beispiel bei einem Diabetes, einem Cushing-Syndrom oder bei einem Morbus Addison möglich ist. Bei der „Diagnose“ (man beachte die Anführungszeichen!) Subklinische SDU kann es sich immer nur um einen Verdacht handeln und somit bei der Therapie auch immer nur um eine Test-Therapie. Komme mir hinterher keiner mit dem Vorwurf einer Fehldiagnose, denn ohne wissenschaftlich belastbare Diagnose kann es logischerweise auch keine Fehldiagnose geben. Der Ausdruck „subklinisch“ beinhaltet ja schon, dass die Laborwerte der betreffenden Hunde durchaus voll und ganz innerhalb der klassischen Referenzwerte liegen können Sie müssen als Tierbesitzer in solchen Fällen akzeptieren, dass der versuchsweise Einsatz von Schilddrüsenhormonen letztendlich ein Experiment darstellt. Stellt sich die Hormongabe als hilfreich heraus: Prima! Wenn nicht, muss man akzeptieren, dass man falsch gelegen hat und die entsprechenden Konsequenzen ziehen, was allerdings nach meinen bisherigen Erfahrungen leider vielen Hundebesitzern ziemlich schwer fällt.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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