Von Ralph Rückert, Tierarzt
Das Kaninchen und die meisten Nager sind Fluchttiere. Das Leben von Fluchttieren hängt von einem hochgradig entwickelten System aus superschnellen Reflexen und sehr spezifischen hormonellen Stressreaktionen ab. Genau das aber macht Fluchttiere zu sehr problematischen Anästhesie-Patienten. Eine gute Narkose schließt das effektive Ausschalten der meisten Reflexe mit ein. Es kann natürlich nicht sein, dass ein Kaninchen während der Operation plötzlich reflexartig mit den Hinterbeinen ausschlägt. Bis vor nicht allzu langer Zeit aber galt der Spruch, den ich mal von einer Kollegin gehört habe: Ein Kaninchen ohne Reflexe? Muss tot sein!
Schauen wir uns doch mal die historische Entwicklung der Narkose des Kaninchens an und kommen dann dazu, was Sie heute erwarten können:
Insgesamt ist die Entwicklung der Behandlungsmöglichkeiten und der Narkose beim Kaninchen mit eine der spannendsten Geschichten meiner Berufslaufbahn. Als Student und frischgebackener Tierarzt habe ich in einer Praxis gearbeitet, deren Chef noch ganz im Sinne der „alten Schule“ Kaninchen und Nager als Wegwerf-Haustiere gesehen hat. Wann immer so ein Tier an mehr als einer ausgerissenen Kralle erkrankt ist, hat er es eingeschläfert und dazu geraten, einfach etwas Neues anzuschaffen. Als da eines Tages ein Meerschweinchen mit einem Gesäugetumor aufgetaucht ist und ich – ganz der vorlaute Frischling – vorgeschlagen habe, den Tumor operativ zu entfernen, hat er mich für verrückt erklärt. Aber immerhin: Er hat mir freie Hand gelassen, den Eingriff zu versuchen, und es hat auch geklappt.
Das, was einem damals Angst vor solchen Maßnahmen gemacht hat, war nicht die Operation an sich, sondern die Narkose. Vom Hund mal abgesehen wurden damals so gut wie alle Tierarten mit einer intramuskulär verabreichten Mischung aus Xylazin und Ketamin in Narkose gelegt, und zwar nach dem Motto „Spritzen und Beten“. Eine in den Muskel gespritzte Narkose ermöglicht nicht die geringste Individualisierung oder Steuerung. Was drin ist, ist drin! War’s zu wenig, wurde der Patient während der Operation eventuell unruhig, war’s zu viel, hatte man es sehr schnell mit absolut lebensbedrohlichen Komplikationen zu tun. Auch gab es außer dem eigenen Auge (Atmet sie/er noch?) und dem Stethoskop (Hat sie/er noch einen Puls?) eigentlich keine praktikablen Überwachungsmethoden. Bei der Katze mit ihrer sprichwörtlichen Zähigkeit gegenüber auch den seltsamsten Narkoseverfahren ging das alles meistens gut, aber bei Nagern und Kaninchen war jede Anästhesie ein wenig wie Russisch Roulette. Wenn man das damalige Narkoserisiko eines Kaninchens ehrlich benennen will, muss man zugeben, dass es bestenfalls etwa alle fünfzig Narkosen zu einem Todesfall kam. Es wird Sie kaum verwundern, dass man unter diesen Voraussetzungen damals nur operiert hat, wenn es absolut nicht zu umgehen war. Das wirkt sich auch bis heute aus, denn dadurch hinken wir bei der Entwicklung bestimmter Operationstechniken bei Kaninchen und Nagern immer noch meilenweit hinter Hund und Katze her.
Jahrelang hat sich an dieser Lage nichts Entscheidendes geändert. Die Hälfte meiner grauen Haare ist wahrscheinlich auf Kaninchen- und Nagernarkosen in dieser Zeit zurückzuführen. Aber dann kam eine bahnbrechende Neuerung: Die bis heute berühmte und auch vielen Kaninchenhaltern dem Namen nach bekannte Triple-Narkose. Triple („Dreifach“) deshalb, weil hierbei drei unterschiedliche Narkosemittel zusammen verabreicht werden; zwar immer noch intramuskulär, also wieder schlecht steuerbar, aber mit drei anderen Wirkstoffen immerhin komplett antagonisierbar (aufhebbar). Geriet der Patient also in echte Schwierigkeiten, konnte man die Narkose recht effektiv und schnell wieder aufheben. Auch waren stundenlange und gefährliche Nachschlaf-Phasen damit endgültig Geschichte. Die Triple-Narkose öffnete endlich die Tür zu einer sich nun schnell verbessernden chirurgischen Versorgung von Kaninchen und Nagern. Auch sogenannte Wahleingriffe, also Operationen, die nicht durch eine unmittelbare Notlage erzwungen werden, konnten nun deutlich entspannter angegangen werden. Die Kastration (Ovarhysterektomie) des weiblichen Kaninchens, die den Tieren im weiteren Lebensverlauf viel Leid ersparen kann, setzt sich seit der Einführung der Triple-Narkose immer mehr als Routineeingriff durch, was vorher angesichts des hohen Risikos undenkbar gewesen wäre.
Trotzdem waren wir Kaninchen-Tierärzte immer noch sehr unzufrieden, zumindest im Vergleich zur Situation in der Hunde- und Katzenanästhesie. Die Steuerbarkeit der Narkose war nach wie vor nicht wirklich gegeben. Dazu braucht man nun mal einen venösen Zugang (Venenkatheter) und zur Sicherung der Atmung einen Trachealtubus (Luftröhrenschlauch). Ist das Legen eines Venenkatheters, zum Beispiel in die dafür recht gut geeignete Ohrrandvene, bei etwas Übung nicht wirklich schwierig, so ist das Intubieren des Kaninchens durch die enge, lange Mundhöhle und den sehr weit hinten liegenden Kehlkopfbereich eine echte Frickelei. Aber auch das ist letztendlich Übungssache. Durch die gesammelten Erfahrungen der letzten Jahre haben sich anerkannte Techniken etabliert, so dass die Intubation des Kaninchens – von köperbaulichen Besonderheiten einzelner Tiere abgesehen – inzwischen für den Kaninchen-Chirurgen zum täglichen Handwerkszeug gehören sollte.
Und das – venöser Zugang und Intubation – waren die letzten beiden Schritte, um bezüglich der Steuerbarkeit und Kontrolle von Narkosen auf die gleiche Stufe wie bei Hund und Katze zu kommen. Über den Venenkatheter können Medikamente gegeben werden, die ohne Verzögerung wirken. Ebenso kann Flüssigkeit durch Infusion sehr schnell ersetzt werden. Der Luftröhren-Tubus hält die Atemwege offen, ermöglicht uns eine mühelose Beatmung bei kurzfristigen Einschränkungen der Atemfunktion und sichert die korrekte Versorgung mit Narkosegas. Außerdem wird durch den Tubus eine zusätzliche Überwachungsmethode ermöglicht, die Kapnometrie. So kann man endlich vernünftig arbeiten!
Ein letzter Punkt: Eine Vollnarkose wird durch drei Punkte (Bewusstseinsverlust, Muskelentspannung und Schmerzfreiheit) gekennzeichnet. Nicht jedes Kaninchen, das betäubt wird, bekommt eine echte Vollnarkose. Die Tiere, bei denen zum Beispiel nur eine (nicht schmerzhafte) Zahnkorrektur vorgenommen werden soll, werden nur für relativ kurze Zeit in eine Art Dämmerschlaf versetzt. Dafür reicht eine angstlösende Beruhigungsspritze (Sedation) plus Narkosegas (Inhalationsnarkose). Es ist also weder das Legen eines Venenkatheters noch das Intubieren notwendig.
Sie können also darauf bauen, dass in unserer Praxis echte Vollnarkosen an Kaninchen nach den höchsten Standards durchgeführt werden. Damit sind die Zeiten des im Vergleich zu Hund und Katze drastisch erhöhten Narkoserisikos von Kaninchen endgültig Geschichte. Etwas höher als bei den Fleischfressern wird das Risiko immer bleiben, aber das liegt an der unveränderbaren Tatsache, dass die Physiologie des pflanzenfressenden Fluchttieres aus Sicht der Anästhesie einfach problematischer ist. Übrigens: Leider bleiben wir bezüglich Meerschweinchen und der anderen Nagetiere auf der Stufe der Triple-Narkose (bei Bedarf plus Inhalationsnarkose) hängen, und daran wird sich auch so schnell nichts ändern. Das Intubieren von Meerschweinchen verbietet sich aufgrund der Tatsache, dass diese Tiere immer eine mit Futterbrei verunreinigte Mundhöhle haben. Bei den noch kleineren Nagern ist es einfach die Körpergröße, die uns nicht überwindbare Grenzen setzt.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen