Die Fehldiagnose

Die Fehldiagnose, oder: Auch ein geschossener Bock erfüllt noch einen guten Zweck!

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Das (scheinbar) vernichtendste Urteil, das ein Tierbesitzer in einer Internetbewertung über einen Tierarzt fällen kann, ist der Vorwurf einer Fehldiagnose. „Dr. Werweißwer hat an meinem Hund eine Fehldiagnose gestellt!“. Ich denke mir dann immer: So what? Sei doch froh, dass es nur eine war!

Gehören Sie auch zu denen, die glauben, dass sie (bei sich selbst und bei Ihrem Haustier) sozusagen ein verbrieftes Recht auf eine immer gleich beim ersten Versuch ins Schwarze treffende Diagnose hätten? Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie damit gewaltig auf dem Holzweg sind.

Ich gehe mal davon aus, dass fast jeder schon mal mindestens eine Folge der populären TV-Serie „Dr. House“ gesehen hat und viele Leserinnen und Leser sogar Fans sind. Für diejenigen, die damit gar nichts anfangen können, eine kurze Erläuterung: Dr. Gregory House (großartig gespielt von Hugh Laurie) ist Leiter der Abteilung für Diagnostische Medizin an einem amerikanischen Lehrkrankenhaus. House und sein Team sind sozusagen die Sondereinheit der Klinik für die Aufklärung verzwickter Krankheitsfälle.

Lässt man mal den ganzen dramaturgischen Klimbim beiseite, wird der Serie doch von Experten bescheinigt, dass die medizinischen Fälle in der Regel sehr gut recherchiert und dargestellt sind. Und damit kommen wir wieder zu unserem Thema. House und seine Leute sind Elite-Diagnostiker, die Sachen aus dem Ärmel schütteln, die 98 Prozent aller Mediziner erst mal stundenlang nachschlagen müssten. Trotzdem hauen sie in jeder Folge, die sich immer um einen zentralen Fall dreht, diagnostisch mindestens drei Mal voll daneben – was den betreffenden Patienten regelmäßig fast das Leben kostet – bis sie am Ende schließlich richtig liegen.

Diese Darstellung ist zum einen natürlich eine dramaturgische Notwendigkeit, zum anderen aber durchaus realistisch. Trotz aller technischen Möglichkeiten der modernen Medizin fehlt einem hochkomplexen lebenden Organismus immer noch ein entscheidendes Feature: Da ist leider kein Fehlerspeicher mit Diagnosestecker verbaut, wo man den Computer einstöpseln und dann auslesen könnte, was im Argen liegt. Diagnostik, speziell internistische Diagnostik, ist ein detektivisches Puzzle-Spiel, bei dem anfangs noch nicht mal die Hälfte aller notwendigen Teile auf dem Tisch liegt. Nicht umsonst wird House oft mit Sherlock Holmes verglichen.

Es gibt leichte Diagnosen, die jeder halbwegs fähige Mediziner blind treffen kann, und es gibt schwierige Diagnosen, für die man jedes Fitzelchen an Daten zusammen kratzen muss, dessen man habhaft werden kann. Reichlich oft ergeben sich entscheidende Informationen – und genau das wird in der TV-Serie sehr gut dargestellt – aus Fehldiagnosen und den daraus resultierenden Behandlungsfehlern. Dass eine Therapie nicht funktioniert, ist ja sehr wohl eine wichtige Tatsache, die einen im weiteren Verlauf in die richtige Richtung weisen kann. Es ist deshalb durchaus üblich, eines oder mehrere Medikamente einzusetzen, einfach um zu sehen, was passiert. Der ungnädige Patient würde es wahrscheinlich herumpfuschen nennen, aber letztendlich kann das ein zur Aufklärung einer Erkrankung notwendiger und damit völlig korrekter Weg sein.

Um dann aber die Lorbeeren für die am Ende korrekte Diagnose und Behandlung einheimsen zu können, muss man den betreffenden Patienten auch bis zum Erfolg durchbehandeln dürfen, und in diesem Punkt wird Gregory House speziell von uns Tierärzten immer glühend beneidet, weil seine Patienten eigentlich trotz aller Fehlschläge nie davonlaufen (können). In der Tiermedizin stellt sich das anders dar. Gerade Tierbesitzer bestehen trotz der durch die fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten mit den Patienten nochmal unendlich gesteigerten Schwierigkeit einer korrekten Diagnosestellung darauf, dass der Tierarzt die Erkrankung ihres Tieres immer sofort richtig erkennt und dann auch in kürzester Zeit zur perfekten Ausheilung bringt.

Gerade im Winter haben so einige Patientenbesitzer gern mal eine ordentliche Bronchitis und husten sich so richtig schön die Seele aus dem Leib. Wenn ich dann Anteil nehme und mich nach dem Befinden erkundige, wird mir oft erzählt, dass das jetzt schon seit vier Wochen so ginge und gar nicht besser würde. In solchen Momenten schießt mir sofort der ketzerische Gedanke durch den Kopf, dass man mit einem Hund, der seit Wochen derartig hustet, sicher inzwischen schon in der vierten Tierarztpraxis aufgeschlagen wäre, und zwar unter (gerne auch öffentlicher) Verdammung der beschränkten diagnostischen Fähigkeiten der drei Praxen zuvor. Nimmt dann irgendwann die Erkrankung ihren typischen Verlauf, nämlich den der Selbstheilung, meint man, eine neue Praxis mit absolut überlegenen diagnostischen und therapeutischen Fähigkeiten gefunden zu haben.

Ich will damit nicht sagen, dass das Einholen einer Zweitmeinung in kniffligen Fällen immer der falsche Weg wäre. Weit gefehlt! Aber das in vielen Fällen zu beobachtende hektische Tierarzt-Hopping von Patientenbesitzern, denen jeder Funken von Vertrauen fehlt, kann auch (und zwar nicht selten) ganz schön ins Auge gehen. Werden die bis dahin erhobenen Befunde und auch die Dokumentation von eventuellen diagnostischen und therapeutischen Fehlschlägen nicht haarklein und korrekt an die nächste Praxis weitergegeben, fängt man dort wieder von vorne an, und zwar mit allen damit verbundenen Risiken.

Werden diese Daten aber korrekt übermittelt, können sie entscheidend zur Klärung des Falles beitragen, was dann dazu führt, dass die neue Praxis einen Erfolg verbuchen kann, der aber letztendlich auf den zuvor (auch durch eventuelle Fehldiagnosen!) gewonnenen Informationen beruht. Das soll dann ruhig auch so sein; dem Patienten ist ja damit geholfen. Fies wird es nur dann, wenn der Besitzer in der heute üblichen und unreflektierten Empörungshaltung meint, der alten Praxis gleich noch schnell irgendwie eine reinwürgen zu müssen.

Fazit: Verabschieden Sie sich von der Vorstellung, dass ein Arzt Ihnen oder Ihrem Tier eine von Anfang an korrekte Diagnose und Therapie schuldig wäre. Ist er nämlich nicht! Zumindest nicht bis zur Erfindung des medizinischen Tricorders, den Enterprise-Schiffsarzt „Pille“ McCoy immer über seinen Patienten schwenkt, bevor er dann die korrekte Diagnose gemütlich vom Bildschirm abliest. Auf dem heutigen Stand von Medizin und Technik ist Diagnostik (und hier speziell tiermedizinische Diagnostik) immer noch eine echte Kunst und keine mechanische Tätigkeit mit garantiertem Ausgang. Fehldiagnosen sind dabei absolut unvermeidlich, haben in der Regel nicht das geringste mit einem auf mangelnder Sorgfalt beruhenden Kunstfehler zu tun und tragen in vielen Fällen dazu bei, am Ende die richtige Diagnose und Behandlung zu ermitteln. Ein gewisses Mindestmaß an Geduld und Vertrauen werden Sie also sowohl als Patient als auch als Patientenbesitzer aufbringen müssen.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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