Von Ralph Rückert, Tierarzt
Ich erwähne in meinen Artikeln schon seit längerem immer wieder den akuten Fachkräftemangel in der Tiermedizin, der ja zusammen mit anderen Faktoren dafür verantwortlich ist, dass wir speziell im Notdienst, aber auch zunehmend an ganz normalen Wochentagen immer mehr Probleme haben, die notwendige Arbeitsleistung zur Versorgung aller Fälle aufzubringen. In diesem Artikel soll es um diesen Fachkräftemangel und seine Ursachen gehen.
Warum nur Erklärungsversuche und keine handfesten Erklärungen? Weil es die teilweise mangels Daten einfach nicht gibt. Dazu kommt, dass ich zwar Brancheninsider, aber natürlich kein Arbeitsmarktexperte bin. Wobei bemerkenswert ist, dass selbst solche Expertinnen und Experten sich über viele Teilbereiche des Fachkräftemangels keineswegs einig sind. Und auch unter uns Insider:innen, also den Praxis- und Klinikinhaber:innen, kann es sehr schnell Streit geben, wenn man auf dieses Thema kommt, Streit, der sich oft aus unterschiedlichen Sichtweisen entwickelt, die generations- und geschlechtsspezifisch sind.
Gut belegt und unbestreitbar ist der sogenannte demographische Wandel der deutschen Gesellschaft, manchmal auch mit Überalterung bezeichnet. Ich gehöre zu den geburtenstarken Jahrgängen, den sogenannten Baby-Boomern, die 1955 bis 1969 geboren wurden. 1962 bis 1967 kamen in Westdeutschland jeweils über eine Million Kinder zur Welt. 2024 gab es im wiedervereinigten Deutschland gerade mal noch ca. 680000 Geburten. Die Bundesanstalt für Arbeit ist der Auffassung, dass pro Jahr mindestens 400000 Menschen nach Deutschland einwandern müssten, um dieses offensichtliche Defizit aufzufangen.
Auf 100 arbeitslose Personen kamen vor etwas über 20 Jahren 10 offene Stellen. Heute sind es 72! Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das ein wichtiger Grund für unsere Probleme ist, noch genug Tiermedizinische Fachangestellte zu finden bzw. die entsprechenden Ausbildungsplätze zu besetzen. Nachdem uns in meiner Praxis über Jahre und Jahrzehnte immer genug Initiativbewerbungen um Ausbildungsplätze erreicht hatten, so dass wir diese kaum je ausschreiben mussten, konnten wir den für 2024 angebotenen Ausbildungsplatz nicht besetzen, trotz hervorragender öffentlicher Sichtbarkeit der Praxis und sehr guter Entlohnung auch schon für Auszubildende.
Was sich mit diesem demographischen Wandel aber irgendwie nicht so richtig erklären lässt, ist unser Mangel an jungen Tierärztinnen und Tierärzten in den Praxen und Kliniken. Es werden ja nach wie vor alle angebotenen Studienplätze belegt, so dass der Ausstoß unserer fünf tiermedizinischen Bildungsstätten immer mehr oder weniger gleich groß ist. Vor 10 oder 15 Jahren haben wir mit diesen Absolventinnen und Absolventen das Arbeitsaufkommen inklusive Notdiensten noch gut bewältigen können, jetzt klappt das überhaupt nicht mehr. Das ist auf den ersten Blick dann doch ziemlich rätselhaft, und da kommen jetzt die schon erwähnten fehlenden Daten ins Spiel.
Zum Beispiel wird immer wieder kolportiert, dass ein gewisser und eventuell sehr großer Anteil derer, die das Studium erfolgreich zum Abschluss bringen, im Anschluss gar nicht im Beruf auftauchen und eventuell sogar nicht mal die Approbation, also die für die Berufsausübung notwendige Bestallung als Tierärztin / Tierarzt, beantragen. Meines Wissens lässt sich das leider nicht mit irgendwelchen statistischen Zahlen nachweisen. Es kann also sein, dass da ein „schwarzes Loch“ unbekannter Größenordnung ist, das einen gewissen Prozentsatz der für sehr viel Geld ausgebildeten Studienabgänger:innen schluckt. Da man davon ausgehen muss, dass ein Tiermedizinstudium den Staat (und damit die Steuerzahler:innen) einen Betrag im sechsstelligen Bereich kostet, sind sowohl dieser Verdacht als auch das Fehlen entsprechender Zahlen ziemlich beunruhigend.
Neben diesem Problem unbekannter Größenordnung haben wir als ganz entscheidenden Faktor die Tatsache, dass wir von heutzutage in den Arbeitsmarkt eintretenden Absolvent:innen nicht mehr die gleiche Arbeitsleistung erwarten können und dürfen wie früher. Ich habe das ja schon öfter so schlicht und einfach dargestellt: Mit 1000 Anfangsassistent:innen konnte man noch vor 15 Jahren über den Daumen gepeilt locker 60.000 Arbeitsstunden pro Woche abdecken. Diese Zahl wurde und wird sowohl durch gesetzliche Regelungen als auch durch das zunehmende Favorisieren von Teilzeitarbeitsverhältnissen drastisch reduziert, so dass wir heute wohl gerade mal von 35.000 abdeckbaren Wochenstunden ausgehen können, bei genau gleich großem Output der tiermedizinischen Universitäten.
Ich denke, dass es hauptsächlich diese drei Faktoren sind, die für die aktuellen Probleme verantwortlich sind. Unklar ist und bleibt dabei die Größenordnung des erwähnten „schwarzen Lochs“. Jetzt kommt natürlich mit Recht die Frage nach Lösungen, sowohl von Seiten der Tierbesitzer:innen als auch von uns, den Tiermediziner:innen, und da wird es leider noch schwieriger.
Die offensichtlichste, allerdings nur mit einer enormen Zeitverzögerung von etwa einem Jahrzehnt wirksam werdende Maßnahme wäre die Steigerung des Outputs der Unis. Entsprechende Forderungen hört man oft von Seiten der Tierhalter:innen. Man muss sich aber klar machen, dass das auf enorme Schwierigkeiten stößt. Speziell die medizinischen Studiengänge sind von einer sehr komplexen Infrastruktur abhängig. Es reicht nicht aus, einfach den einen oder anderen größeren Hörsaal zu bauen. Da hängt ja viel mehr dran: Qualifiziertes Lehrpersonal, Unikliniken mit einem Fallaufkommen, das medizinische Lehre erst möglich macht, mit entsprechender Technik ausgestattete Lehreinrichtungen in der Anatomie, der Physiologie, der Mikrobiologie, der Pathologie, der Labordiagnostik, usw. und so fort. Geht man davon aus, dass ein Tiermedizin-Studium sowieso vom Staat mit ca. 200000 Euro finanziert wird, kann man sich die Chancen für eine wirklich bedeutsame Aufstockung (50 Prozent plus) der vorhandenen Studienplätze in Zeiten knapper Kassen ausrechnen. Ergebnis: Gleich null, können wir – wenn nicht noch Zeichen und Wunder geschehen – eigentlich gleich vergessen!
Da auch die mangelnde finanzielle Attraktivität der tiermedizinischen Berufe für den Fachkräftemangel verantwortlich gemacht wird, ist der nächste sich aufdrängende Gedanke, dass mehr Geld ins System muss, damit die Einkommen bzw. die Gehälter aller Beteiligten (Tiermedizinische Fachangestellte, angestellte Tiermediziner:innen und Praxis- bzw. Klinikinhaber:innen) steigen. Diesem Gedankengang ist der Gesetzgeber ja zuerst mit der Notdienstgebührenordnung und dann der kompletten Neufassung der GOT gefolgt, was für Sie als Tierbesitzer:innen durch deutlich höhere Gebühren spürbar wurde. Für eine Beurteilung der längerfristigen Wirksamkeit dieser Maßnahme ist es noch zu früh. Wir sind da jetzt gerade in einer Art Übergangszeit. Es gibt Praxis- bzw. Klinikinhaber:innen, die voll und ganz verstanden haben, dass die Kohle, die durch die Gebührenerhöhungen in die Kassen gespült wird, nicht zuletzt dafür gedacht ist, dass sie ihre Angestellten deutlich besser bezahlen und damit die Attraktivität des Berufsfeldes erhöhen. Und es gibt immer noch so einige, die das überhaupt nicht kapiert haben und entweder nach wie vor zu niedrig abrechnen oder aber alles selber einsacken und ihre Angestellten deshalb immer noch viel zu knapp halten. Ich meine aber, im „Mikroklima“ der tiermedizinischen Social-Media-Fachgruppen eine deutliche Änderung des allgemeinen Mindsets feststellen zu können. Die Zahl derer, die es kapiert haben, nimmt ständig zu. Und es entsteht auch unter den Angestellten so eine Art Peer Pressure, indem Personen, die von zu niedrigen Gehältern berichten, schnell mal gefragt werden, ob sie einen an der Waffel haben, immer noch für solche Hungerlöhne zu arbeiten. Da tut sich also was. Ob es sich mittel- und langfristig wirklich spürbar positiv auswirkt, werden wir bis in etwa fünf Jahren wissen.
Sucht man nach weiteren eventuellen Lösungsansätzen, wird es extrem schwierig, denn da kommen wir zu den am Anfang erwähnten Streitpunkten zwischen den Generationen und den Geschlechtern.
Die Fragestellung, ob die seit vielen Jahren laufende Feminisierung des Berufsstandes ebenfalls eine der Hauptursachen des Fachkräftemangels darstellt, kann eigentlich nicht diskutiert werden, ohne dass sofort Sexismusvorwürfe auf den Tisch geknallt werden. Vor langer Zeit war Tierarzt vorwiegend ein Männerberuf. Als ich in der zweiten Hälfte der 80er studiert habe, war das Verhältnis zwischen Studentinnen und Studenten schon annähernd ausgeglichen. Und im neuen Jahrtausend ging dann die Meldung durch die Fachpresse, dass es an einer unserer fünf Universitäten erstmals einen Jahrgang gegeben hatte, der zu 100 Prozent aus Frauen bestand. Tierärztin ist inzwischen definitiv ein weiblicher Beruf, und zwar derartig deutlich, dass die Fachzeitschrift „Der Praktische Tierarzt“ sich Anfang dieses Jahres in „Die praktische Tierärztin“ umbenannt hat. Mit dem gerade laufenden Abschied der Boomer aus dem Berufsleben endet nun auch endgültig die männliche Dominanz bei der Inhaberschaft von Praxen und Kliniken.
Geht man davon aus, dass die oben erläuterte, weit verbreitete Favorisierung von Teilzeitarbeitsverhältnissen eine wesentliche Ursache des Fachkräftemangels darstellt, kann man da natürlich einen Zusammenhang herstellen. Laut der Website Sozialpolitik-Aktuell gingen 2023 in den relevanten Altersgruppen ganz grob die Hälfte der Frauen einer Teilzeitbeschäftigung nach, aber nur knapp 10 Prozent der Männer, und das ist der Grund dafür, dass als potentieller Lösungsansatz immer mal wieder die Forderung nach einer Männerquote im Studium aufkommt. Die Frage, die dabei aber niemand beantworten kann, ist die, ob die Männer so eine Quote überhaupt annehmen würden oder aber ob sie dieses Studium aufgrund seines immer noch schlechten Rufs bezüglich der erzielbaren Einkommen sowieso von vornherein meiden.
Auch das schon erwähnte und schwer belegbare „Schwarze Loch“ kann natürlich als Folge der Feminisierung des Berufsstandes interpretiert werden, weil es überhaupt erst mit dem steigenden Frauenanteil in Studium und Beruf zum Thema wurde.
Der andere Diskussions- bzw. Streitpunkt ist das oft völlig unterschiedliche Berufsverständnis der langsam in den Ruhestand verschwindenden Baby-Boomer und der Generationen Y und Z, die nun mehr und mehr das Ruder in die Hand nehmen. Die Boomer, häufig Gründer und Inhaber von Praxen und Kliniken, haben sich in ihrer aktiven Zeit mit 60 bis 100 Wochenstunden maximal selbst ausgebeutet oder sich als Angestellte ausbeuten lassen, keineswegs aus freien Stücken, sondern weil sie sich in einem von extremer Konkurrenz geprägten Umfeld behaupten mussten. Wie im letzten Artikel schon erwähnt, ist das für so einige von uns physisch und psychisch gar nicht gut ausgegangen. Dementsprechend betrachten Millenials und Zoomer mit ihrer Favorisierung einer scharfen Trennung von Beruf und Freizeit, die sie sich aufgrund einer deutlich entspannteren Konkurrenzsituation auch gut leisten können, uns Boomer als absolut kein gutes Vorbild, wenn nicht sogar als ziemlich bescheuert. Andererseits schauen wir alten Praktiker, die jahrzehntelang ans Telefon gegangen sind, wann immer es geklingelt hat, mit einer Mischung aus Bewunderung (für diese Abgrenzungsfähigkeit) und Unverständnis (für diese Hartleibigkeit) zu, wie da zum Beispiel ein Hund am Vormittag mit nicht ganz sicherer Prognose operiert wird und die Besitzer dann für den Nachmittag, an dem die Praxis geschlossen ist, die Anweisung erhalten, sich bei etwaigen Komplikationen an die nächstgelegene Klinik zu wenden, weil es für die jungen Kolleg:innen schlicht nicht vorstellbar ist, sich in ihrer Freizeit stören zu lassen.
Diese inzwischen nach meiner Einschätzung recht weit verbreitete Vorgehensweise (Arbeit strikt während der Sprechzeiten, aber bloß nicht in der Freizeit) trägt zwar nicht unmittelbar zum Fachkräftemangel bei, überlastet aber die Kliniken bzw. die notdiensthabenden Praxen mit Fällen, um die man sich als Praktiker früher halt einfach selber gekümmert hätte, Freizeit hin oder her. Wie auch immer man das sehen mag, eines ist sicher: Wir Älteren, die wir ständig erreichbar waren, haben über Jahrzehnte mit vielen Überstunden wie ein riesiger Schwamm enorm viele Bagatell- und Alltagsfälle absorbiert, mit denen sich nun die unterbesetzten und immer weniger werdenden Kliniken und Notdienstpraxen rumschlagen müssen.
Nun, wie auch immer, da gilt mal wieder: Es ist halt, wie es ist! Jede Generation hat das Recht und die Pflicht, ihren eigenen Weg zu suchen und zu gehen. Die Tatsachen, dass unser Beruf inzwischen ein vorwiegend weiblicher ist und dass die jüngeren Kolleginnen und Kollegen einfach eine andere Sicht auf die Balance zwischen Arbeit und Freizeit haben, lassen sich nicht ändern und stehen deshalb als Stellschrauben für den Fachkräftemangel nicht zur Verfügung. Ich sehe außer der schon durchgeführten Gebührenerhöhungen überhaupt keine mittelfristig wirksamen Maßnahmen, die uns bei diesem Problem helfen könnten, und bleibe deshalb bei meiner schon öfter geäußerten Vorhersage, dass uns aus Sicht von Ihnen, den Tierhalter:innen, eine lange und harte Zeit bevorsteht, in der tiermedizinische Leistungen immer schwerer zu bekommen und sehr teuer sein werden. Ich rate dringend dazu, dies bei der Neuanschaffung von Haustieren ganz nüchtern zu berücksichtigen.
Bleiben Sie mir gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Ralph Rückert
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