Das Phantom: Die subklinische Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose) beim Hund

Von Ralph Rückert, Tierarzt

In dem Theaterstück „Schilddrüsenunterfunktion (SDU, Hypothyreose)“ stehen zwei Hauptdarsteller auf der Bühne im Rampenlicht: Der Held, die klassische Hypothyreose mit ihren zwar vielfältigen, aber oft auch recht deutlichen Symptomen, und daneben der Hochstapler, das Euthyreoidale Krankheitssyndrom (Euthyroid Sick Syndrome, auch Non-thyroidal Illness bzw. NTI genannt). Hinter den beiden aber, im Halbdunkel, schleicht ein schwer greifbares Phantom durch die Kulissen: Die subklinische Hypothyreose!

Nach dieser dramatischen Einleitung wird es jetzt gleich mal langweilig und trocken, denn ohne ein wenig theoretischen Unterbau würden alle (außer den Besitzern von hypothyreoten Hunden) im weiteren Verlauf des Artikels nur noch Bahnhof verstehen. Wir wollen aber auch nicht zu tief in die ziemlich komplizierten Zusammenhänge um die Schilddrüsenunterfunktion eintauchen, weil das den geplanten Umfang des Artikels sprengen und seiner Intention zuwiderlaufen würde. Diejenigen unter Ihnen, die sich wegen einer Hypothyreose bei ihrem eigenen Hund eingehend mit dieser Erkrankung und ihren Hintergründen beschäftigen mussten, mögen mir bitte nachsehen, dass ich in einem Blog-Artikel zwangsläufig nicht alle Aspekte dieser komplexen endokrinologischen Thematik beleuchten kann bzw. sie sogar etwas vereinfacht darstellen muss.

Die Schilddrüse ist eine Hormondrüse, die an der Unterseite des Halses unterhalb des Kehlkopfes sitzt. Sie bildet – nicht ausschließlich, aber in erster Linie – die Hormone Triiodthyronin (T3) und Tetraiodthyronin (Thyroxin, T4). Diese Hormone regeln – vereinfacht ausgedrückt – den Energiestoffwechsel jeder Zelle des gesamten Organismus und haben somit überall im Körper ein sehr gewichtiges Wörtchen mitzureden. Die Schilddrüse wird gern mit der Standgaseinstellung beim Auto verglichen: Ist das Standgas zu niedrig, stottert der Motor und die ganze Karre schüttelt sich.

Werden bei einer klassischen Schilddrüsenunterfunktion nicht genug Hormone produziert, so hat das logischerweise weitreichende Auswirkungen auf alle Organsysteme. Es zeigt sich meist ein bunter Strauß an typischen Symptomen, die dem Tierarzt neben den Laborbefunden bei der Diagnose der Erkrankung weiterhelfen: Der Patient ist lahm und lustlos, energie- und ausdauerschwach, hat eine geringe Kältetoleranz, wirkt deprimiert oder gar apathisch, das Haarkleid ist dünn und strohig, es können gar kahle Flecken entstehen. Meist sind die Hunde diätresistent übergewichtig trotz eher reduziertem Appetit. Schon Tiere mittleren Alters können geradezu senil und/oder todtraurig wirken. Diese Aufzählung ließe sich noch um viele, viele Punkte erweitern, aber die klassische Schilddrüsenunterfunktion ist nicht das eigentliche Thema dieses Artikels.

Genau so häufig, wenn nicht sogar noch häufiger trifft man aber – und das ist echt lästig – auf unseren Hochstapler, die NTI. Damit wird eigentlich keine eigenständige Krankheit bezeichnet, sondern nur das Phänomen, dass eine anderswo im Körper sich abspielende Erkrankung (oder ein wegen dieser Erkrankung verabreichtes Medikament) die Schilddrüsenhormon-Produktion senken kann, wodurch dann eine Unterfunktion vorgetäuscht wird. Die diagnostische Herausforderung besteht also weniger darin, eine klassische SDU zu finden, sondern vielmehr darin, möglichst nicht eine NTI mit einer SDU zu verwechseln. Letzteres kann – allein auf Laborbefunde gestützt – ausgesprochen schwierig sein. Kombiniert ein erfahrener Praktiker aber das – wie oben beschrieben – recht deutliche klinische Bild mit den Laborwerten, ist das Problem beileibe nicht unlösbar.

Nichtsdestotrotz bezeichnen die meisten Autoren von Artikeln und Fachbüchern zu diesem Thema die SDU als die am meisten überdiagnostizierte Erkrankung der Hundemedizin, und das liegt zu einem großen Teil an der NTI. Es bekommen viele Hunde Schilddrüsenhormone verabreicht, die nur ein einziges Mal labordiagnostisch untersucht worden sind, und zwar zu einem unglücklichen Zeitpunkt, an dem durch eine andere, eventuell versteckte Erkrankung, durch Medikamente oder durch pures Pech die Schilddrüsenwerte gerade zu niedrig waren. Es ist also dringend erforderlich, erniedrigte Hormonwerte mehrfach zu überprüfen und darüber hinaus immer im Zusammenhang mit dem klinischen Bild zu sehen, das der Patient bietet.

Wie kommt es aber zur Schilddrüsenunterfunktion? In diesem Artikel konzentriere ich mich auf die primäre Hypothyreose des erwachsenen Hundes. Alle anderen Formen sind so exotisch, dass man sie als Praktiker nur extrem selten zu sehen bekommt. Primär bedeutet, dass die Ursache der Unterfunktion tatsächlich in der Schilddrüse selbst liegt und nicht in einem übergeordneten Organ wie der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse), die eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Schilddrüse spielt. Über 95 Prozent der Fälle beim Hund sind primäre Hypothyreosen. Die häufigste Ursache der SDU ist entweder eine Autoimmun-Thyreoiditis (eine Schilddrüsenentzündung, verursacht durch das eigene Immunsystem) oder eine Atrophie (Gewebeschwund) des Drüsengewebes mit unklarer Ursache. Entweder handelt es sich bei der Atrophie um eine primär degenerative Erkrankung oder um die Endphase der autoimmunen Schilddrüsenentzündung. Die Autoimmun-Thyreoiditis des Hundes ist gut vergleichbar mit der Hashimoto-Erkrankung des Menschen, mit der rein statistisch einige meiner Leserinnen (betrifft zehn mal mehr Frauen als Männer) Erfahrungen am eigenen Leib haben dürften.

Wie bei der Hashimoto-Thyreoiditis des Menschen sind auch bei der Schilddrüsenentzündung des Hundes die auslösenden Ursachen nicht geklärt. Es gibt viele Theorien, aber so gut wie keine bestätigten Tatsachen. Man kann allerdings sicher feststellen, dass es eine angeborene Prädisposition geben muss, da bestimmte Hunderassen ein messbar höheres Risiko haben, die Krankheit zu entwickeln. Die Entzündung beginnt meist schon früh im Leben. Das Immunsystem bildet Thyreoglobulin-Autoantikörper (TgAAK) gegen das Schilddrüsengewebe, die dann mit ihrem Zerstörungswerk beginnen. Dies verläuft über längere Zeiträume (ca. 1 – 5 Jahre) unbemerkt. Erst wenn mehr als 75 Prozent des funktionellen Drüsengewebes zerstört sind, treten erste Symptome einer klassischen SDU auf.

Eine weitere Ursache für eine Hypothyreose können übrigens Ernährungsfehler sein, die vorwiegend bei Hunden auftreten, die mit selbst zusammengestellten Rationen gefüttert werden. In erster Linie geht es dabei um die Versorgung mit den Spurenelementen Jod und Selen, die beide eine große Rolle bei der Bildung und Verstoffwechslung der Schilddrüsenhormone haben.

So, geschafft! Nach diesem langen theoretischen Anlauf können wir nun versuchen, uns auf unser Phantom zu stürzen, die subklinische Schilddrüsenunterfunktion. Wir werden aber leider feststellen müssen, dass dieses Phantom nicht leicht zu packen ist. „Subklinisch“ bedeutet in diesem Fall „unterschwellig, nicht offensichtlich“. Wie schon erwähnt, ist die Entstehung einer Unterfunktion der Schilddrüse ein sehr langwieriger, sich meist über Jahre hinziehender Vorgang. Es macht also nicht einfach „klick“ und die SDU ist da. Die entsprechenden Laborwerte sinken ganz langsam und bleiben sehr lange innerhalb der aktuell als korrekt geltenden Referenzbereiche. Strikt labordiagnostisch gesehen hat man erst dann eine (klassische) SDU vor sich, wenn die Messwerte den Normbereich verlassen haben. Sogar nach Absinken des T4-Spiegels unter die Untergrenze des Normbereichs kann noch bis zu einem Jahr vergehen, bis die oben beschriebenen Symptome der klassischen SDU auftreten.

Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass es hier zwischen Weiß und Schwarz mit hoher Wahrscheinlichkeit eine sehr breite Grauzone geben müsste. Was aber hätte der Hund für Probleme, wenn er sich gerade in dieser Grauzone befände? Er hätte fast mit Sicherheit keine der gut erkennbaren Symptome der klassischen SDU. Die zwar nach heutigen Anforderungen noch zu dünne, deshalb aber nicht einfach zu ignorierende Datenlage deutet darauf hin, dass diese Hunde in erster Linie verhaltensauffällig werden. So, und damit können wir unser Phantom, die subklinische Hypothyreose, zum ersten Mal festnageln: Wir haben es hier mit einer Überschneidung von Verhaltensmedizin mit Innerer Medizin bzw. Endokrinologie zu tun, also mit Verhaltensauffälligkeiten, die eine organische Ursache haben.

Die Rolle, die die Schilddrüsenhormone im Gehirn spielen, ist nach wie vor nicht wirklich aufgeklärt. Wir wissen aber, dass sie Einfluss auf mehrere Neurotransmitter (Botenstoffe) im Gehirn haben und sogar selbst eine solche Rolle übernehmen. Es ist auch denkbar, dass im Gehirn, also sozusagen regional, ein pauschal oder individuell höherer Bedarf an Schilddrüsenhormonen besteht als anderswo im Körper, was das frühe Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten, lange vor allen anderen Symptomen, begründen würde. Dieses Phänomen könnte man als zentrale, nur auf des Gehirn beschränkte Hypothyreose bezeichnen. Darüber hinaus greifen die Schilddrüsenhormone auch noch in den Cortisol-Stoffwechsel ein, also in einen körperlichen Mechanismus zur Stressbewältigung.

Also, dann kommen wir jetzt zu der für Sie als Hundebesitzer wichtigsten Frage: Was für Symptome könnten darauf hinweisen, dass Ihr Hund eine subklinische Schilddrüsenunterfunktion hat? Auch hier könnte man extrem ins Detail gehen, aber lassen Sie es mich mal kurz und bündig zusammenfassen: Übersteigerte Aggression gegen Mensch und Tier, und zwar eine als „irritativ“ zu bezeichnende Aggression im Sinne einer erhöhten Reizbarkeit (die sprichwörtliche „kurze Lunte“), stark verminderte Stress-Resistenz, Angst, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten, schlechte Ansprechbarkeit, Hyperaktivität, Zwangsstörungen und Verwirrtheit.

Ha, sagen Sie, dann leiden aber viele, wenn nicht alle Hunde an einer subklinischen SDU! So ganz unrecht haben Sie damit auch beileibe nicht. Fast jeder Hund wird im Laufe seines Lebens zeitweise die eine oder andere der erwähnten Störungen in unterschiedlicher Intensität zeigen, ohne deswegen gleich krank zu sein. Deshalb ist eine Sache wirklich wichtig: Die angesprochenen Auffälligkeiten sollten als klare Veränderung des zuvor gezeigten Verhaltensrepertoires auftreten, um den Verdacht auf eine subklinische SDU zu begründen. Die betroffenen Hunde werden gern als „nicht mehr der selbe“, als „neben sich“ oder auf Englisch als „not at home“ beschrieben. Bei Hunden aus dem Tierschutz kann aber selbst diese Festlegung sich als wenig hilfreich erweisen, da man in diesen Fällen eher selten weiß, wie der Patient sich früher verhalten hat. Übrigens: Im Gegensatz zur klassischen SDU, die eher mit dem mittleren oder höheren Alter assoziiert wird, kann die subklinische Hypothyreose schon sehr früh im Leben auftreten.

Wenn Sie also mit so einem Vorbericht einer recht knackig aufgetretenen Veränderung bei Ihrem Hund zu uns kommen, werden wir das natürlich sehr ernst nehmen. Schließlich gibt es dafür eine gewaltige Anzahl an möglichen Ursachen, nicht zuletzt auch chronische Schmerzen. Logischerweise steht deshalb an erster Stelle eine gründliche körperliche Untersuchung, und fast mit Sicherheit folgt dann eine Blutentnahme, die die Prüfung der sogenannten Schilddrüsenwerte mit einschließt. Welche Werte sollten dabei ermittelt werden? Bei einer klassischen SDU ist das vergleichsweise einfach, denn da reichen regelmäßig drei Werte, um den Verdacht zu bestätigen: T4 (Thyroxin), fT4 (das sogenannte „freie Thyroxin“) und TSH (das Thyreoidea-Stimulierende Hormon der Hirnanhangsdrüse).

Beim Verdacht auf eine subklinische SDU dagegen wird es gleich von Anfang an kompliziert und deutlich aufwändiger. Das Problem ist ja gerade, dass die Hormonwerte bei dieser – wir erinnern uns – unterschwelligen Erkrankung eben meist noch nicht so weit gesunken sind, dass sie außerhalb der klassischen Normbereiche liegen. Die drei oben genannten Messwerte können also durchaus noch völlig „normal“ sein, trotz bereits bestehender und ernster Verhaltensänderungen. Ohne jetzt wieder langweilig zu werden und alle aufzählen und erklären zu wollen: Es gibt neben den genannten noch einige Schilddrüsenwerte mehr, die man labordiagnostisch bestimmen kann, und beim Verdacht auf eine subklinische Hypothyreose kann es auch durchaus Sinn machen, gleich von Anfang an die ganze Breitseite abzufeuern. Die oftmals alles andere als lustigen Verhaltensänderungen, die mit einer subklinischen SDU einhergehen können, rechtfertigen diesen Aufwand allemal.

Es gibt keine eindeutig beweisende Labordiagnostik der subklinischen SDU. Wir dürfen nicht vergessen, dass noch nicht mal das Krankheitsbild an sich in der Tiermedizin endgültig wissenschaftlich anerkannt ist. Der ganze Vorgang erinnert an einen Indizienprozess, bei dem man alles, wirklich alles im Kopf zu einem Gesamtbild zusammenfügen muss. Je mehr Daten dafür zur Verfügung stehen, desto besser. Trotzdem wird man immer wieder vor der Situation stehen, dass der Hund ziemlich klare Anzeichen für eine subklinische Hypothyreose zeigt, die Laborwerte sich aber alle im Normbereich befinden. Was dann?

Nun, zum einen könnte bzw. sollte man als Tierarzt wohl im Kopf haben, dass die Normwerte, die von den Laboren angegeben werden, auch nicht unbedingt in Stein gemeißelt sind. Normwerte werden nach einer statistischen Methode (Gaußsche Normalverteilung) aus einer gewissen Anzahl der in dem jeweiligen Labor bisher getesteten Hunde ermittelt. Schilddrüsenwerte werden aber mit Vorliebe bei älteren oder erkennbar kranken Hunden getestet, was durchaus dazu führen könnte, dass die Normwerte gleich mal zu niedrig ausfallen. Es kursieren also sehr wohl Vorschläge, die Schilddrüsen-Normwerte deutlich nach oben zu verlagern, und die Diskussion darüber dauert an. Allerdings sollte man beim Warten auf diesbezügliche Veränderungen wohl besser nicht die Luft anhalten.

In der Zwischenzeit kann man sich mit einem Kompromiss behelfen und bei deutlichen Verhaltensauffälligkeiten kombiniert mit Schilddrüsenhormonwerten im unteren Drittel des Normbereiches von einer subklinischen Hypothyreose ausgehen. Das ist allerdings wissenschaftlich absolut nicht unumstritten, könnte mit einer gewissen Berechtigung sogar als unzulässig locker gesehen werden, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass eine probehalber eingeleitete Therapie mit Substitution von Schilddrüsenhormon (L-Thyroxin) ohne großes Risiko für den Patienten möglich ist. Geht es dem betreffenden Hund unter dieser Medikation eindeutig besser – sehr gut, Treffer, versenkt! Geht es ihm nicht besser oder gar etwas schlechter – kein wirklich schlimmes Problem. Dann war die Verdachtsdiagnose eben falsch und man schleicht sich aus der Hormonsubstitution wieder aus.

Natürlich ist das Medizin auf einer rein empirischen Basis, also etwas, was wir heute nicht mehr wirklich wollen, aber was hilft’s? Letztendlich hat der Patient im Hier und Jetzt ein echtes Problem und kann schlecht darauf warten, bis die unsichere wissenschaftliche Beweislage endlich geklärt ist, damit auch ja die reine Lehre eingehalten wird. Als Tierarzt, der sehr viel mit kleinen Heimtieren (Kaninchen und Nager) arbeitet, habe ich sowieso nicht so furchtbar viele Bedenken gegen diagnostische Therapieversuche. Bei den sehr kleinen Tierarten sind wir in Ermangelung bestimmter diagnostischer Möglichkeiten häufig auf so eine Vorgehensweise angewiesen.

Früher ging man selbst bei einer nur kurzzeitigen Substitution von L-Thyroxin von einer so nachhaltigen Schädigung der Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse aus, dass mit einer Erholung der Schilddrüse nach Absetzen der Medikation nicht gerechnet werden könnte. Ich habe den Verdacht, dass diese Vorstellung irgendwann mal aus dem Bereich des professionellen Bodybuildings kam, wo sich tatsächlich Wettkampfteilnehmer durch zum Zwecke des Fettabbaus eingenommene und unklug hohe Dosen von L-Thyroxin „die Achse zerklopft“ hatten, wie sie das selbst nannten. Heute wissen wir, dass die Schilddrüse gar kein Problem damit hat, nach dem korrekten Absetzen einer (vernünftig dosierten!) Substitutionstherapie ihre Arbeit wieder aufzunehmen.

Die Gemengelage wird bedauerlicherweise noch unübersichtlicher, denn nicht nur um Mode, um Pop-Stars oder um neue Diäten entstehen Hypes, sondern auch um Krankheiten, und zwar keineswegs nur bei Menschen, sondern auch bei unseren Haustieren. Wenn ich labordiagnostisch einer bestimmten Verdachtsdiagnose nachgehe, wünscht sich der Tierbesitzer in der Regel und verständlicherweise, dass ich nichts finden und das Tier also nicht krank sein möge. Gehe ich dem Verdacht auf eine Hypothyreose nach, bekomme ich – nicht immer, aber immer öfter – das Gefühl vermittelt, dass ich jetzt besser was finden sollte, weil ich sonst die längste Zeit diesen Hund betreut habe. Die Besitzer scheinen zu wollen oder sich buchstäblich zu wünschen, dass ihr Hund an einer Schilddrüsenunterfunktion leidet. Unausgesprochen steht da manchmal der Satz im Raum: „ICH weiß, dass mein Hund eine Hypothyreose hat. Wenn du zu inkompetent bist, um das zu bestätigen, dann geh ich zu einem, der das kann!“ Das ist noch am ehesten vergleichbar mit der Borreliose-Hysterie vor ein paar Jahren, scheint mir aber rein vom Ausmaß her noch deutlich krasser. Das mag natürlich insofern seine Berechtigung haben, dass es so gut wie keine borreliosekranken Hunde gibt, während Hunde mit Hypothyreose durchaus ziemlich häufig sind.

Wir haben da ein echtes Problem. Es werden fleißig Vorabdiagnosen gestellt, sowohl von Hundetrainer(innen), die mit ihrem Latein am Ende sind, als auch von Hundebesitzer(innen), die sich durch die Kommunikation in Internet-Foren oder Facebook-Gruppen ganz sicher sind, ihrem jeweiligen Tierarzt in dieser Frage voll überlegen zu sein. Dabei wird leider und oft grob fahrlässig bis vorsätzlich übersehen, dass Verhaltensauffälligkeiten oder auch krasse Erziehungsdefizite bei der Mehrzahl der betroffenen Hunde keineswegs von einer subklinischen Hypothyreose verursacht werden. Die Aussicht aber, dass man alle seine Probleme mit seinem Hund auf eine Krankheit schieben und dann mit ein paar Tabletten lösen könnte, scheint einen großen Reiz auszuüben.

Dem gegenüber steht die Tierärzteschaft, gespalten in drei Lager und damit sehr leicht unter Beschuss zu nehmen. Der größte Teil der Kolleginnen und Kollegen lehnt (wissenschaftlich absolut korrekt) bis zum Beweis des Gegenteils die Existenz einer subklinischen Hypothyreose ab und ist nur dann für eine L-Thyroxin-Substitution zu haben, wenn die Laborwerte und das klinische Bild einer klassischen Schilddrüsenunterfunktion entsprechen. Nach dem ehrenwerten Motto „Nihil nocere“ (niemals schaden!) weigern sie sich, ein Medikament einfach versuchsweise zu verschreiben und dann mit angehaltenem Atem zu warten, ob das was bringt.

Eine weitere Gruppe, und zu der würde ich mich selbst zählen, geht das Problem flexibler an und ist bei entsprechender Vorgeschichte und Symptomatik plus dazu passenden Laborwerten „im unteren Drittel“ durchaus einem diagnostischen Therapieversuch nicht abgeneigt. Allerdings nicht um jeden Preis, nicht übers Knie gebrochen und schon gar nicht allein auf Kundenwunsch. Wenn sogar auf Verhaltensmedizin spezialisierte Kolleginnen und Kollegen berichten, dass sie teilweise von Tierhaltern wüst beschimpft werden, wenn sie eine Substitution nicht für angezeigt halten, dann muss man das leider so deutlich zum Ausdruck bringen.

Und dann gibt es offenbar (leider?) noch Kolleginnen und Kollegen, die es sich zutrauen, zu solch komplexen Problemen Ferndiagnosen und -beratungen per Hotline oder Mailverkehr anzubieten, ohne den betreffenden Patienten je gesehen und untersucht zu haben, nach meinem Wissen einzig und allein aufgrund der von den Besitzer(innen) gelieferten Informationen und der Laborwerte. Bei so einem Vorgang müssen ferndiagnostische Fähigkeiten im Spiel sein, die sich meiner Vorstellungskraft entziehen. Oder handelt es sich dabei um das bewusste Ausnützen einer früh erkannten Marktlücke? Die Zukunft wird zeigen, ob das alles so einfach ist, dass man es über das Telefon managen könnte, oder ob ich mit meinen diesbezüglichen Bedenken richtig liege. Ein bisschen müssen wir uns als Tierärzteschaft leider selbst an die Nase fassen, denn dieses – ich nenne es jetzt mal so – Unwesen mit der Fernberatung wird natürlich durch unsere mehrheitlich ablehnende Haltung gegenüber der subklinischen Hypothyreose und ihrer Behandlung geradezu gefördert.

Das Problem ist absolut vergleichbar mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) beim Menschen. Ich bin durchaus davon überzeugt, dass es dieses Krankheitsbild gibt. Aber ebenso, wie es reichlich verhaltensauffällige Kinder gibt, die ganz sicher keine ADHS haben und trotzdem unter Ritalin gesetzt werden, gibt es genau so häufig verhaltensauffällige oder auch nur schwierige Hunde, die nicht an einer subklinischen SDU leiden und trotzdem regelmäßig L-Thyroxin in den Hals gestopft bekommen. Der einzige Unterschied ist der, dass L-Thyroxin aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit so vielen Nebenwirkungen behaftet ist wie Ritalin. Trotzdem: Im Netz kann man nicht selten Postings lesen, in denen Besitzer(innen) glasklare Symptome einer L-Thyroxin-Überdosierung schildern und darauf hin von anderen Diskussionsteilnehmer(innen) zur weiteren Steigerung der Dosis ermutigt werden. Ich muss wohl nicht betonen, dass so etwas der Gesundheit auf keinen Fall zuträglich ist.

So, ein langer Artikel ist das geworden, tut mir leid. Es ist halt ein wirklich schwieriges Thema. Was sollten Sie mitnehmen? In aller Kürze: Wir sind nicht blind und wir hören Ihnen aufmerksam zu. Bei so gut wie allen Routine-Blutuntersuchungen lassen wir Schilddrüsenwerte mitbestimmen, um eine klassische Schilddrüsen-Unterfunktion, die klinisch noch keine Symptome entwickelt hat, möglichst frühzeitig zu entdecken. Hat Ihr Hund schon Symptome, die Ihnen noch nicht aufgefallen sind, so werden wir sie wahrscheinlich wahrnehmen und eine entsprechende Verdachtsdiagnose stellen. Beim jährlichen Check-Up haben viele von Ihnen schon meine Frage gehört, wie sich Ihr Hund macht, ob alles klar ist. Ich gehe davon aus, dass Sie in letzter Zeit aufgetretene und irritierende Verhaltensprobleme erwähnen würden. In allen anderen Fällen hängt es an Ihnen: Sie wissen jetzt, dass es dieses Phantom, die subklinische Hypothyreose, aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich gibt. Bei den weiter oben geschilderten Verhaltensauffälligkeiten können wir uns nicht erlauben, NICHT an diese Möglichkeit zu denken. Sollte das Gesamtbild aus Symptomen und Laborwerten dann zu einer subklinischen SDU passen, bin ich der Letzte, der sich einem Therapieversuch entgegenstellen würde. Eines ist aber sicher: Ich werde mich nie per Telefon, per Mail oder sonstwie zur Schilddrüsen-Substitutions-Therapie eines Hundes äußern, den ich noch nie im Leben gesehen und untersucht habe.

Ich danke meiner lieben Freundin und Kollegin Sabine Schroll, die den Artikel gegengelesen und mir auch zusätzliche Anregungen gegeben hat.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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