Das geriatrische Vestibularsyndrom des Hundes, kurz und knapp!

Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin

Wir erhalten von Leserinnen und Lesern unserer Texte regelmäßig Themenvorschläge, die wir natürlich in so eine Art Hit-Liste mit Ideen für künftige Artikel aufnehmen. Erstaunlicherweise führt das geriatrische Vestibularsyndrom diese Liste schon seit längerem mit weitem Abstand an. Also wird es wohl tatsächlich mal Zeit, ein paar Zeilen darüber zu schreiben.

Von selber wären wir wohl eher nicht darauf gekommen, dieses Thema zu bearbeiten, weil es sich beim geriatrischen Vestibularsyndrom um eine aus ärztlicher Sicht wenig herausfordernde Erkrankung handelt, die zwar blitzartig und mit häufig sehr beeindruckenden Symptomen auftritt, sich aber dann – Achtung: Spoiler! – in fast allen Fällen innerhalb relativ kurzer Zeit ganz von selbst wieder gibt.

Das Vestibularsyndrom ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen des Hundes, mit Einschränkungen auch der Katze. Es gibt da zwei Formen, die sich ganz grundlegend unterscheiden: Das (ziemlich seltene) zentrale und das (sehr häufige) periphere Vestibularsyndrom. Die zentrale Form betrifft das Gehirn, und meist steckt da irgendwas ziemlich Schreckliches dahinter. Die periphere Form spielt sich außerhalb des Gehirns im Innenohr (dem Gleichgewichtsorgan) ab. Das geriatrische VS gehört zu den peripheren Formen dieser Krankheit und trifft – wie der Name zum Ausdruck bringt – meist Tiere, die schon einige Jährchen auf dem Buckel haben. Zur Entstehung gibt es so einige Theorien, aber keine wissenschaftlich gesicherten Fakten, weshalb man das geriatrische VS auch als idiopathisches (fachchinesisch für „Nix wiss“!) VS bezeichnet.

Nun, wie auch immer: Für Sie als Besitzer:innen eines vom VS befallenen Tieres sind die spontan einsetzenden Symptome regelmäßig hochgradig erschreckend. Der Gleichgewichtssinn ist mehr oder weniger drastisch eingeschränkt. Dementsprechend kommt es zu seitenbetonten Erscheinungen wie Taumeln, Koordinationsstörungen, Verlust der Stehfähigkeit, Rollen über den Boden, Kopfschiefhaltung, rhythmischen Augenbewegungen (Nystagmus), Zittern, Erbrechen, Unfähigkeit zur Futter- oder Wasseraufnahme. Diese Symptome lösen bei den betroffenen Tieren in der Regel deutliche Stress- und Angstreaktionen aus.

An einem VS erkrankte Tiere werden aufgrund dieser erschreckenden Symptome meist sehr schnell in einer Tierarztpraxis vorgestellt, auch bei Nacht oder am Wochenende, was natürlich völlig berechtigt ist. Zwar ist ein geriatrisches VS kein wirklich lebensbedrohlicher Notfall, es muss aber bei den betroffenen Tieren von beträchtlichem Leiden ausgegangen werden. Halbwegs routinierte Tiermediziner:innen können durch eine gründliche Untersuchung anhand bestimmter Anzeichen mit hoher Sicherheit zwischen einem (seltenen und meist gefährlichen) zentralen und einem peripheren Vestibularsyndrom unterscheiden. Werden dann noch andere mögliche Ursachen wie zum Beispiel eine Otitis media (Mittelohrentzündung) ausgeschlossen, kommt man zügig zu dem Schluss, es höchstwahrscheinlich mit einem geriatrischen VS zu tun zu haben. Eine schnelle Blutuntersuchung (Entzündungszeichen, Schilddrüsenfunktion!) kann noch mehr Durchblick verschaffen. Wir haben es ja in diesem Zusammenhang in der Regel mit älteren Tieren zu tun, die durchaus mehrere Baustellen gleichzeitig aufweisen können.

Wie schon weiter oben erwähnt: Liegt man mit der Diagnose „Geriatrisches Vestibularsyndrom“ richtig, wird einem das durch den weiteren Verlauf bestätigt, weil sich die schweren Symptome ab dem Zeitpunkt des Auftretens stetig bessern und innerhalb von drei bis 14 Tagen meist völlig geben. In manchen Fällen bleibt eine leichte Kopfschiefhaltung zurück, die sich aber offensichtlich nicht lebensqualitätseinschränkend auswirkt. Man könnte also die Hände in den Schoß legen und gar nichts machen. Wäre aber nicht sehr nett gegenüber dem erkrankten Hund, weil ihm schwindlig und speiübel ist, er sich furchtbar ängstigt und insgesamt sicher ganz und gar beschissen fühlt. Eine symptomatische Behandlung, die sich gegen Übelkeit, Erbrechen und Angst richtet, ist also durchaus angezeigt. Auch macht es Sinn, einen solchen Patienten für einige Stunden an eine Infusion zu hängen, um die Flüssigkeits- und Elektrolytversorgung sicher zu stellen und die Durchblutung der betroffenen Innenohrstrukturen zu verbessern. Die Verschreibung des Wirkstoffs Propentofyllin (Handelsname Karsivan) ist in solchen Fällen unter Praktiker:innen (auch bei uns) beliebt. Man muss aber eingestehen, dass das zwar theoretisch was bringen könnte, dafür aber keine wissenschaftliche Evidenz vorhanden ist. Könnte also auch unter das Motto „Ut aliquid fiat“ fallen.

So wichtig wie diese symptomatische Therapie für den Patienten selbst ist die Beruhigung der jeweiligen Tierbesitzer:innen, die angesichts der schweren Symptome verständlicherweise meist völlig von der Rolle sind, was im Sinne eines Feedbacks wiederum die Angst des Tieres verstärken kann. Speziell bei einem geriatrischen VS kann man als Tiermediziner:in durchaus mal ordentlich Optimismus versprühen und eine günstige Prognose stellen.

Wichtig ist uns genau dieses optimistische Abwarten der fast unvermeidlichen Verbesserung, kombiniert mit der erläuterten symptomatischen Therapie. Es ist uns natürlich völlig klar, dass die Symptome eines geriatrischen VS in den Augen der meisten Menschen an einen katastrophalen Hirnschlag (Apoplex) denken lassen, bei dem die Prognose um Welten schlechter ausfallen würde. Lassen Sie sich da bloß nicht ins Bockshorn jagen! Wie gesagt: Man kann durch eine saubere Untersuchung anhand bestimmter Symptome sehr gut zwischen einem zentralen (also das Gehirn betreffenden) und einem peripheren Geschehen unterscheiden. Eine spontane Euthanasie nach dem Motto „Wir wollen sie / ihn nicht länger so leiden lassen“ wäre bei einem geriatrischen Vestibularsyndrom eine totale und dramatische Fehlentscheidung!

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,

Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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