Berge, Kühe, Hunde, Wanderer – Das österreichische Schlamassel

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Am 30. Juli 2014 habe ich den Blog-Artikel „Kuhherde tötet Wanderin“ veröffentlicht. Den sollten Sie vielleicht noch schnell lesen, weil ich dann nicht alles wiederkäuen muss, was ich damals geschrieben habe. Der Artikel ist für meine Verhältnisse recht kurz und enthält zudem einige für berg- und kuhunerfahrene Städter ganz nützliche Tipps im Umgang mit aufdringlichen oder gar erzürnten Almrindern. Also bis gleich…

.

.

.

Fertig? Gut, dann weiter im Text! Damals war der aktuelle Anlass der unglückliche Tod der Wanderin, Familienmutter und Hundehalterin. Und jetzt hat das Innsbrucker Landesgericht ein (noch nicht rechtsgültiges) Urteil von höchster Brisanz gefällt, das DAS Wanderurlaubsland Österreich nach meiner Einschätzung so richtig in die Bredouille bringt.

Das Gericht erkannte (trotz laut Gutachter völlig ausreichender Warn-Beschilderung) auf Fahrlässigkeit des Landwirts, weil er seine Tiere nicht eingezäunt hatte, und verurteilte ihn, an den Ehemann und den Sohn der Beklagten eine Sofortentschädigung von 177000 Euro PLUS monatlich 1550 Euro Rente zu zahlen. Wie schon erwähnt, ist das Urteil noch nicht höchstinstanzlich bestätigt; sollte das aber passieren, ist das für den Landwirt natürlich ruinös. Ich weiß nicht, wie gut man sich als Bauer gegen so ein Vorkommnis versichern kann.

Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass ein österreichisches Gericht dem eigenen Land derartig hemmungslos ins Knie schießen würde. Das Urteil würde bei realistischer Betrachtung mehr oder weniger das Ende der Almwirtschaft in Österreich bedeuten. Die Argumentation des verurteilten Bauern, dass er ja wohl kaum (in alpinem Gelände!) jedes Frühjahr 18 Kilometer Zaun ziehen und im Herbst wieder abbauen könne, ist für mich einleuchtend. Da könnte er stattdessen auch gleich seine Kühe im Tal lassen und spaßeshalber ein paar Tausend Euro im Aschenbecher verbrennen.

Zu dieser Schlussfolgerung werden auch alle anderen Almbauern kommen, wenn dieses Urteil je rechtskräftig werden sollte. Almbewirtschaftung ist aber nun mal kein reines Privatgeschäft der betreffenden Landwirte, sondern eine für die Ökologie des Alpenraum immens wichtige Angelegenheit von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, die deshalb von der EU auch mit Prämienzahlungen gefördert wird. In Österreich werden Hunderttausende Rinder im Sommer auf Almen gehalten, und diese Tiere führen eigentlich genau das Leben, das wir ihnen wünschen, wenn wir unsere Milch trinken oder unseren Käse essen. Würde die Almbewirtschaftung aufgrund eines solchen Urteils für die Bauern zu einem unberechenbaren Risiko, würde in Österreich ein ganzer Wirtschaftszweig buchstäblich in sich zusammenbrechen.

Damit ist aber noch lange nicht Schluss. Die österreichischen Alpenregionen sind ganz entscheidend vom Wander-Tourismus abhängig. Die Bergwanderer haben natürlich gewisse Erwartungen, und zu diesen berechtigten Erwartungen gehören nicht zuletzt das typische Landschaftsbild (mit eben nicht bis 1500 Meter lückenlos bewaldeten Bergen), der Anblick und das Geräusch glockentragender Rindviecher und bewirtschaftete Almen, auf denen man Rast machen und eine zünftige Brotzeit bekommen kann. Damit hätte es sich dann auch, wenn kein Bauer sich mehr trauen kann, seine Tiere im Sommer auf die Alm zu treiben.

Die andere Alternative, nämlich die Sperrung der traditionell nur geduldeten Wanderwege durch die Grundstücksbesitzer, die Almbauern, würde für sehr viele beliebte und bekannte Wanderrouten das Aus bedeuten und die österreichischen Tourismusbüros vor unlösbare Probleme stellen.

Die Österreicher haben nach meinen Erfahrungen recht eindrückliche Schilder, die vor den Gefahren warnen, denen man sich zwangsläufig aussetzt, wenn man ein Almgebiet durchwandert, auch und gerade mit einem Hund. Im Netz findet man kurze und einprägsame Video-Clips, die den gleichen Zweck verfolgen. Auch ist es ja beileibe nicht so, dass jedes Jahr Dutzende von Touristen durch zornige Kühe getötet werden.

Halten Sie mich jetzt bitte nicht für herzlos! Die deutsche Familie hat mit dem Verlust der Ehefrau und Mutter eine echte persönliche Tragödie erlitten und natürlich mein vollstes Mitgefühl. Wäre die Frau aber gestolpert und abgestürzt oder von einem unvermuteten Steinschlag getroffen worden, wäre das als eine von einer Berglandschaft normalerweise ausgehende Gefahr bewertet worden. Kühe auf Almen gehören aber nun mal seit Hunderten von Jahren ebenfalls zu den Alpen. Das und die dadurch entstehenden Gefahren sind meiner Meinung nach von den Touristen zu akzeptieren und zu respektieren. Man kann nicht einen ganzen traditionellen und immens wichtigen Wirtschaftszweig ruinieren, der zudem dem Ideal artgerechter Tierhaltung noch mit am nächsten kommt, um solche extrem unglücklichen und seltenen Vorkommnisse komplett auszuschließen und auch noch dem letzten ahnungslosen Städter ein risikoloses Rumstolpern in den Bergen zu ermöglichen.

Meiner Meinung nach (ich war ein Allgäuer Dorfkind!) ist man als Bergwanderer – auch und gerade mit Hund – in einer Bringschuld. Man muss sich in den Bergen einfach von vornherein mehr Gedanken machen als beim Sonntagsspaziergang durch den Stadtpark. Wie ist die Geländebeschaffenheit und reichen meine Fähigkeiten dafür, wie wird das Wetter, bin ich korrekt ausgerüstet, wie weit kann ich meinen Hund tragen, wenn er sich verletzen sollte, UND: Führt der Weg über Almgebiete mit Rindern oder gar Mutterkuhherden? Sowas kann man lokal – im Hotel, in der Pension oder beim Tourismusbüro – durchaus erfragen, ohne dass einem ein Zacken aus der Krone fällt.

Zudem kann man sich die Basics im Umgang mit Almrinderherden problemlos VOR dem Wanderurlaub reinziehen. Dann weiß man auch, dass man speziell um Mutterkühe einen großen Bogen schlagen sollte und dass man im Fall eines drohenden Angriffs den Hund sofort laufen lassen sollte. Der kann nämlich im Gegensatz zu uns Menschen deutlich schneller rennen als eine Kuh und zieht dabei meist erfolgreich die Aufmerksamkeit der Wiederkäuer auf sich.

Und zu guter Letzt: In den Bergen gibt es keine „Wegegarantie“! Man bewegt sich dort nicht auf einer von seinen Steuergeldern gebauten Autobahn. Man muss auch mal ein Ziel aufgeben können, wenn man bemerkt, dass Weitergehen mit zu viel Risiko verbunden ist. Sei es ein überraschend aufziehendes Gewitter oder eben eine nicht mit ausreichend Abstand zu umgehende Mutterkuhherde: Da dreht man halt einfach um! Schließlich ist man im Urlaub und nicht auf der Flucht!

Man kann da zweifellos anderer Meinung sein, aber ich finde, dass dieses Urteil ganz und gar falsch ist, und hoffe sehr, dass es vor Österreichs höchster Instanz keinen Bestand haben wird.

Edit: Aufgrund einiger Argumente in der Diskussion des Artikels auf Facebook füge ich noch ein paar Zeilen hinzu.

Nein, ich bin nicht der Meinung, dass die getötete Frau viel falsch gemacht hat. Sie war auf dem Pinnistalweg unterwegs, ist also nicht quer über irgendeine Almwiese gelaufen. Dieser Weg ist eher eine Staubstraße und wird auch von Taxis genutzt. Aber dieser Weg (oder diese Straße) verläuft durch Almgebiet, was auch entsprechend ausgeschildert ist. Das ist in Österreich alles andere als ungewöhnlich. Wer regelmäßig über das Timmelsjoch, das Hahntennjoch oder auch nur von Grän runter nach Pfronten fährt, musste sicherlich auch schon mal anhalten, weil Almrinder brettlesbreit im Weg rumstanden, öffentliche Straße hin oder her.

Die Frau hat ihren Hund angeleint geführt, was ja erst mal völlig korrekt ist, und der Hund hat wohl auch beim Passieren der Herde kein Theater gemacht. Aber sie hat die Hundeleine um die Hüfte geschlungen und mit einem Karabiner so fixiert. Im Gegensatz zum Gericht, das diese Tatsache als vernachlässigbar bezeichnet hat, sehe ich genau darin die Hauptursache für den grausigen Verlauf der Unglücks. Auf den typischen Warnschildern findet man regelmäßig den unmissverständlichen Hinweis, dass man den Hund bei aggressivem Verhalten der Kühe sofort laufen lassen soll. Das war in diesem Fall nicht mehr möglich. Der Hund konnte sich offenbar erst selbst befreien, als die Frau schon zu Boden gegangen war. Hätte sie den Hund schnell genug losgelassen bzw. loslassen können, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach außer ein bisschen Hektik und Geschrei gar nichts passiert. Die Hinweise auf den Warnschildern nicht einfach zu ignorieren und bei Annäherung an die Herde die Leine vorsorglich von der Hüfte zu lösen, das wäre genau ein Teil dessen, was ich oben als „Bringschuld“ des sich im Almgebiet bewegenden Touristen bezeichnet habe.

Aber auch das möchte ich nicht als echte Schuldzuweisung an die ums Leben gekommene Wanderin verstanden wissen. Das Ganze ist extrem blöd gelaufen, in einer dieser berühmten Verkettungen unglücklicher Umstände. Und genau das wäre meiner Meinung nach die richtige Entscheidung gewesen: Blöd gelaufen, keiner ist wirklich schuld im juristischen Sinne!

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

Sie können jederzeit und ohne meine Erlaubnis auf diesen Artikel verlinken oder ihn auf Facebook teilen. Jegliche Vervielfältigung oder Nachveröffentlichung, ob in elektronischer Form oder im Druck, kann nur mit meinem schriftlich eingeholten und erteilten Einverständnis erfolgen. Von mir genehmigte Nachveröffentlichungen müssen den jeweiligen Artikel völlig unverändert lassen, also ohne Weglassungen, Hinzufügungen oder Hervorhebungen. Eine Umwandlung in andere Dateiformate wie PDF ist nicht gestattet. In Printmedien sind dem Artikel die vollständigen Quellenangaben inkl. meiner Praxis-Homepage beizufügen, bei Online-Nachveröffentlichung ist zusätzlich ein anklickbarer Link auf meine Praxis-Homepage oder den Original-Artikel im Blog nötig.

Nach oben scrollen