Von Ralph Rückert, Tierarzt
Cora war eine fünfjährige, mittelgradig übergewichtige Kätzin mit einem Problem. Ein unter Eröffnung des Wurzelkanals abgebrochener Eckzahn mit resultierender Kieferentzündung bereitete ihr chronische Schmerzen. Der Zahn musste raus, weshalb Cora vorgestern in Narkose gelegt wurde. Ihr Gebiss wurde professionell gereinigt und der Eckzahn entfernt. 24 Stunden später starb Cora. Was war geschehen?
Während des etwa einstündigen Eingriffs waren die Überwachungswerte der Patientin im grünen Bereich, alles verlief programmgemäß. Erst nach Abschluss der Narkose, in der sogenannten Aufwachphase, zeigten sich alarmierende Anzeichen eines Zwischenfalls. Cora war nicht wie üblich nach knapp fünf Minuten so weit erwacht, dass wir den Luftröhrentubus hätten ziehen können. Erst nach etwa 15 Minuten war der Schluckreflex wieder feststellbar, worauf der Tubus entfernt wurde. Pulsfrequenz und Sauerstoffsättigung waren die ganze Zeit im Normbereich, die Katze kam aber nicht wieder zu sich. Kurz darauf zeigte sich ein schwerer Krampfanfall, der vor allem die langen Rückenmuskeln und die Beinstrecker umfasste. Coras Körper streckte sich mit weit in den Nacken gezogenem Kopf und steifen Beinen. Dies ist ein mögliches Symptom für die extrem seltene, aber gefürchtete Propofol-Unverträglichkeit, die sowohl bei Mensch als auch bei Tier auftreten kann.
Propofol ist heutzutage aufgrund seiner hervorragenden Eigenschaften eine wichtige Komponente so gut wie jeder Narkose sowohl in der Human- als auch der Kleintieranästhesie. Wie es der Zufall will, hatten sowohl ich als auch meine Frau in den letzten 14 Tagen jeweils eine Propofol-Narkose hinter uns, ganz ohne jedes Problem. In sehr seltenen Fällen, irgendwo im Wahrscheinlichkeitsbereich von über 1:10000, kann Propofol aber eine schwere Unverträglichkeitsreaktion auslösen, die zu heftigen, über Stunden oder sogar Tage andauernden Krämpfen, anhaltender Bewusstlosigkeit und im schlimmsten Fall zu einem tödlichen Lungenödem führen kann. Es gibt keinen sinnvollen Screening-Test, der dazu in der Lage wäre, diese Reaktion vorherzusehen.
Wir leiteten eine Intensivbetreuung ein: Cora wurde infundiert, bekam Sauerstoff und Medikamente zur Krampflösung und zur Unterdrückung der vermuteten anaphylaktischen Reaktion. Auch gegen das bei diesem Krankheitsbild als tödliche Komplikation gefürchtete Lungenödem ergriffen wir vorsorgliche Gegenmaßnahmen. Es war uns zwar möglich, die immer wieder aufflackernden Krämpfe zu kontrollieren und sowohl Kreislauffunktion als auch Sauerstoff-Versorgung sicherzustellen, Cora kam aber nicht wirklich zu Bewusstsein. In der Humanmedizin gibt es Berichte über Propofol-Unverträglichkeiten, die länger als 10 Stunden anhielten, weshalb wir die Hoffnung nicht zu früh aufgeben wollten. Ich verbrachte die Nacht auf der unseren Kunden wohl bekannten Couch im Wartezimmer, schlief in kurzen Etappen und versorgte dazwischen Cora mit den notwendigen Medikamenten. Sobald deren Wirkung nachließ, drohten jedes Mal erneute Krämpfe einzusetzen. Am Vormittag des nächsten Tages bildete sich dann trotz aller unserer Bemühungen ein Lungenödem, das wir nicht mehr beheben konnten, so dass Cora etwa 24 Stunden nach ihrer Zahnoperation verstarb.
Ein echter Albtraum für alle: Die Patientin verliert ihr Leben wegen eines vergleichsweise harmlosen Eingriffs; die Besitzer werden erst wie von einem Blitz aus heiterem Himmel von der Nachricht eines gefährlichen Zwischenfalls getroffen, leiden sich durch eine Nacht voll Angst um ihr geliebtes Tier und müssen sich dann mit seinem Tod abfinden; das Praxisteam ist über Tage deprimiert und der Tierarzt (also ich) muss irgendwie damit klar kommen, dass er den Tod eines ihm für einen Routineeingriff anvertrauten Patienten nicht verhindern konnte. Es ist mit das Schrecklichste, was man in der Medizin erleben kann, und führt zu überfordernden emotionalen Reaktionen bei allen Beteiligten.
Solche Vorfälle sind – dem Himmel und der Wissenschaft sei Dank – so selten, dass man diesbezüglich keine Routine entwickeln kann. Es fällt mir auch nach einem Vierteljahrhundert Berufsausübung extrem schwer, damit umzugehen. Nach meiner praxisinternen Statistik kommt es bei mir mit etwa 800 Narkosen pro Jahr nur ungefähr alle sieben Jahre zu einem anästhesiebedingten Todesfall. Es bleibt aber nun mal eine sowohl von Arzt als auch Patient bzw. Patientenbesitzer wohl oder übel zu akzeptierende Tatsache, dass es hundertprozentige Sicherheit nicht geben kann und dass es sehr selten, aber trotzdem immer wieder zu einem medizinrechtlich so genannten „schicksalshaften Ereignis“ mit tödlichem Ausgang kommen kann. Dies gilt grundsätzlich für so gut wie alle Lebensbereiche wie zum Beispiel das Überqueren einer Straße, aber natürlich im besonderen Maße für Narkosen, die ja nichts anderes sind als eine sorgfältig kontrollierte Vergiftung. Das Narkoserisiko ist seit Aufnahme meiner Berufstätigkeit kontinuierlich immer kleiner geworden, ganz auf Null werden wir es aber auch mit größtem Aufwand leider niemals senken können.
Ich kann mir gut vorstellen, dass so mancher unter Ihnen sich nun wünschen mag, diesen Artikel nie gelesen zu haben. Man verschließt ja gern die Augen vor solch mehr als unangenehmen Tatsachen. Ich habe mir aber zum Ziel gesetzt, Ihnen mit diesem Blog einen nicht nur unterhaltsamen und informativen, sondern auch möglichst offenen und ehrlichen Einblick in die Welt der modernen Tiermedizin zu geben.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Ralph Rückert