...und vergib uns unsere Schuld!

…und vergib uns unsere Schuld!

Von Ralph Rückert, Tierarzt

In der Einleitungssequenz des Dokumentarfilms „Tough Love: A Meditation on Dominance & Dogs“ aus dem Jahr 2012 erzählt meine inzwischen leider verstorbene Kollegin Sophia Yin, eine der besten Verhaltensspezialistinnen der USA, von einem ihrer ehemaligen Hunde, dem Boxer Max. Sophia beschreibt, dass Max dazu neigte, auf Anforderungen mit Aggressionen zu antworten, und erzählt dann, mit welch brutalen Methoden man damals auf so ein Problemverhalten reagierte, was für eine gute Schülerin sie (leider) in der Anwendung dieser Methoden war, wie sie scheiterte und letztendlich doch noch Trainer fand, die durch eine modernere Vorgehensweise einen Teilerfolg ermöglichten. Ab etwa Minute 1:30 des Films aber erzählt Sophia, zuerst noch ganz nüchtern, dass Max nie mehr zu dem Hund wurde, der er hätte sein können, weil sie es zuvor vermasselt hatte und weil selbst bei den moderneren Trainern immer noch zu viele Korrekturen (sprich Strafen) zum Einsatz kamen. Bei Minute 1:55 kommen Sophia vor Trauer über das, was sie ihrem Hund damals aus Unkenntnis angetan hat, die Tränen, und sie kann nicht mehr weitersprechen.

Ich habe beileibe nicht nah am Wasser gebaut, aber wenn ich daran denke, wie wir damals unseren ersten Hund Watzmann, den Rauhaardackel, erzogen und insgesamt behandelt haben, geht es mir ganz ähnlich. Wenn es das Land jenseits der Regenbogenbrücke wirklich gibt, dann können wir nur hoffen, dass er uns von dort verzeiht, was wir ihm angetan haben. Wir können zu unserer Rechtfertigung nur anführen, dass wir – wie Sophia – wirklich nicht wussten, was wir taten.

Es war 1985, als wir beschlossen, dass wir gerne einen Hund hätten. Für die „Küken“ unter meinen Leserinnen und Lesern: Das war vier Jahre vor dem Mauerfall! Damals gab es natürlich noch kein Internet, mit dessen Hilfe man sich hätte gründlich informieren und umschauen können. Außerdem waren wir wirklich in jeder Beziehung ahnungslos, jung und sehr spontan. Im Kleinanzeigenblättchen unseres damaligen Wohnortes Augsburg fanden wir ein Inserat mit Rauhaardackelwelpen in Donauwörth. Kurzentschlossen riefen wir an, stiegen noch am gleichen Tag in den Zug und fuhren da hin. Die Welpen waren das Ergebnis eines privaten Zufallswurfes. Einer von ihnen, Watzmann eben, fiel uns durch sein sehr unabhängiges Verhalten auf. Er war der eine Welpe unter acht, der einfach sein Ding machte, ohne sich groß um die Geschwister zu kümmern. Das hat uns gut gefallen, also haben wir ihn unter den Arm geklemmt und sind mit dem Zug nach Hause gefahren.

Dass wir in Sachen Hundeerziehung keine Ahnung hatten, war uns durchaus bewusst. Also führte uns der erste Weg nicht in die Zoohandlung, sondern in den Buchladen. Da fanden sich aber beileibe nicht wie heutzutage zwei laufende Regalmeter Hundeerziehungsratgeber. Aber immerhin ein Buch über die Erziehung von Jagdhunden. Das erschien uns als sinnvoll. Dackel sind schließlich zweifellos Jagdhunde. Nach schnellem Blättern in den ersten Kapiteln stand auch die Einkaufsliste für den Zooladen fest: Neben diversem anderen Zubehör eine Führleine, eine Feldleine, ein Würgehalsband und ein Korallenhalsband, wie man die Stachelwürger beschönigend nannte.

Wir haben damals dieses Buch nie ernsthaft hinterfragt. Dass es zur Hundeerziehung unterschiedliche Standpunkte und Methoden geben könnte, kam uns gar nicht in den Sinn. Jäger müssen es schließlich wissen, die haben bekanntermaßen immer sehr folgsame Hunde. Ich habe eigentlich bis heute keine Ahnung, ob es damals schon Ratgeber gegeben hätte, die für uns und vor allem für unseren Welpen besser geeignet gewesen wären.

Einiges haben wir aus dem Bauch heraus richtig gemacht, und darüber bin ich bis heute froh. Wir haben es als verkehrt empfunden, den kleinen Welpen – wie angeraten – bei Nacht in einen anderen Raum zu verbannen und sein Gewinsel einfach zu überhören. Nein, er kam in einen kuschligen Karton neben dem Bett und hat dort – ganz in unserer Nähe – noch monatelang die Nächte verbracht. Als Resultat war Watzmann sehr schnell stubenrein und hatte nie ein Problem mit Verlassenheitsangst.

Schnell stubenrein zu werden, war damals aber auch noch sehr wichtig für Welpen, denn – jeder weiß, was jetzt kommt – man wurde tatsächlich angehalten, den Kleinen für jedes ins Haus gesetzte Geschäft drastisch zu bestrafen, entweder durch Eintunken mit der Nase oder durch Nackengriff mit Schütteln. Letzteres galt sowieso als Allheilmittel für jede denkbare Untat, denn – so war damals die Theorie – auf diese Weise würden Welpen auch von ihrer Mutter bestraft. Man kann mit Fug und Recht annehmen, dass nie irgend jemand wirklich gesehen hat, wie eine Hundemutter einen Welpen am Nacken geschüttelt hätte. Trotzdem galt es als feststehende Tatsache, dass dieses Schütteln die absolut korrekte Art wäre, einen Hund zu bestrafen.

Leinenführigkeit wurde in unserem Buch – wieder im Gegensatz zu heute – äußerst knapp abgehandelt. Einfach anleinen und loslaufen war die Devise. Das gab ein großes Gezappel und dann auch Geschrei, aber da müsse man eben durch, hieß es. Hat ja auch geklappt. Dackel sind schlau, und nach zehn Metern in der Nähe des Erstickungstodes hat Watzmann klar erkannt, dass er seinen Widerstand besser aufgeben sollte. Thema Leinenführigkeit abgehakt! Nach ein paar Monaten hatte er auch keine erkennbare Angst mehr vor dem Anleinen.

Ein Problem mit dem Bei-Fuß-Gehen oder mit Ziehen an der Leine gab es auch nicht. Dafür kam der kleine Stachelwürger zum Einsatz. Man sagte laut und bestimmt „Fuß“, und wenn der Welpe vom rechten Weg abkam, wurde er mit einem heftigen Ruck wieder zurückbefördert. Die Korrektur sollte von Anfang an kraftvoll und entschieden eingesetzt werden, hieß es. Durch plötzliche Richtungswechsel ohne jede Ankündigung sollte der Hund lernen, seinen Besitzer sauber im Auge zu behalten. Auch das hat funktioniert. Nach einigen Schmerzschreien lief der Welpe sehr sauber bei Fuß, und das verlor sich auch nie wieder. Allerdings war Watzmanns Schwanz in dieser Situation noch sehr lange mehr oder weniger eingeklemmt. Und freudig neben uns hergelaufen ist er für den Rest seines Lebens nie.

Auch die Kommandos für Sitz und Platz lernte Watzmann im Rekordtempo. Man sagte „Sitz“ und drückte gleichzeitig auf die Kruppe. Wenn der Welpe das beim dritten Mal noch nicht gerafft hatte, gab es einen kräftigen Klapps auf die selbe Stelle. Auch das „Platz“ lernte der Hund durch direkte körperliche Einwirkung, also Runterdrücken. Ging der Hund nicht schnell genug runter, wurde dazu geraten, bei angelegtem Stachelhalsband mit dem Fuß kräftig auf die durchhängende Leine zu treten.

Nachdem diese Punkte schnell abgehandelt waren, ging man zu den Kommandos über, bei denen eine Ferneinwirkung notwendig war. Den Rückruf hat Watzmann so gelernt: Den Stachelwürger um den Hals, die Feldleine eingehakt, den Hund „Sitz“ machen lassen, sich bis zum Ende der Feldleine entfernt, dann „Hier“ gerufen und unmittelbar darauf kraftvoll und schnell die Feldleine eingeholt, so dass der Welpe ordentlich rennen musste, damit es nicht weh tat. Hätte das nicht einwandfrei funktioniert, hätte man immer noch problemlos auf die damals noch an jeder Ecke erhältlichen Teletakt-Geräte zurückgreifen können. Die galten aus damaliger Sicht als sehr fortschrittlich und eher zu neumodisch bzw. weich. Jäger haben zu der Zeit bei ihren eigenen Hunden den Begriff Ferneinwirkung gern mal als Ladung Schrot in den Hintern interpretiert. Falls diese Äußerung mal wieder jemandem aus der grünen Zunft aufstößt: Ich darf das sagen, denn ich gehöre noch zu der Generation von Tierärzten, die bei mehreren Jagdhunden die Schrotkugeln wieder rausfummeln mussten.

Das Bleiben im Sitz oder Platz war ein wenig komplizierter. Dazu benötigte man einen Erdanker mit Öse. Dieser Anker wurde neben dem Hund in den Boden gedreht und die Feldleine durch die Öse geführt. Versuchte der Welpe, seine Position zu verändern oder aufzustehen, wurde er durch einen scharfen Ruck an der Feldleine und damit am Stachelhalsband korrigiert. Genau diese Methode scheint nach meinen Informationen bei ehrgeizigen Menschen, die sich auf die Begleithundeprüfung vorbereiten, leider immer noch aktuell zu sein.

Hunde wurden zu dieser Zeit noch sehr schnell und hart bestraft, wenn sie aus Sicht ihrer Menschen etwas falsch gemacht hatten. Neben dem Schütteln am Nacken gab es natürlich den bis heute berüchtigten Alpha-Wurf, bei dem der Hund gegen seinen Willen auf den Rücken gedreht bzw. geworfen wurde. Und man hat, ohne dass deswegen auch nur irgendwer die Augenbrauen gehoben hätte, bei entsprechendem Anlass seinen Hund durchaus heftig und öffentlich mit der Leine vertrimmt. Für das Anknurren von Kindern zum Beispiel, die den Hund (ob mit oder ohne Erlaubnis) begrapschten, gab es auf der Stelle eine richtige Tracht Prügel.

Wenn Watzmann mal bei einem lauten Kommando vor Schreck eingefroren ist und nicht gleich das gemacht hat, was gefordert war, wurde er am Kragen gepackt und auf den Rücken gedreht. Als er erwachsen war, hat er als Reaktion darauf auch durchaus öfter hässlich geknurrt, was aber nur dazu führte, dass wir Menschen die Situation weiter eskalierten, auch mit Schlägen, bis der Hund endlich aufgab. Von allen Seiten wurde einem eingebläut, dass man niemals nachgeben dürfe, dass der Hund permanent nach der Führungsposition im Rudel strebe und dass man bereits – mit den schrecklichsten Konsequenzen – verloren hätte, wenn man sich auch nur ein einziges Mal vom Hund übervorteilen ließe. Die Hunde, die sich diese Zumutungen nicht gefallen lassen wollten, wurden sehr schnell und bedenkenlos getötet.

Der Hund durfte keinesfalls auf für Menschen gedachte Sitz- und Liegemöbel, denn das war als Griff nach der Weltherrschaft zu verstehen. Lag er zufällig quer im Gang oder in einer Türe, war das eine Herausforderung, die man nicht dulden durfte. Durch Engstellen hatte immer der Mensch als Erster zu gehen, um seinen Führungsanspruch in jeder Minute deutlich zu machen. Hunde durften nie und auf gar keinen Fall ihre Mahlzeiten vor den Menschen zu sich nehmen, denn der Ranghöhere frisst schließlich immer zuerst. Diese und noch einige andere „Regeln der Dominanz“ waren noch bis weit in die 1990er hinein ehernes Gesetz, das wir – in der Rückschau beschämenderweise – in der Praxis auch unseren Kunden vermittelten.

Es ging aber – wie im eingangs erwähnten Video von Sophia Yin berichtet – durchaus noch einige Stufen härter und grausamer: In den Anfangsjahren meiner Praxistätigkeit (da hat man noch viele Kunden, die man eigentlich lieber nicht kennen gelernt hätte), haben nicht selten die (ausschließlich männlichen) Besitzer von großen Schutzhunden mit deutlich erkennbarem Stolz berichtet, dass ihre Hunde „scharf wie Rasierklingen“ wären, weshalb man sie öfter mit der Leine aufhängen und bis zum Bewusstseinsverlust durchprügeln müsse, damit sie ihren „Herrn und Meister“ weiter „respektieren“. Dass so etwas damals überhaupt so offen kommuniziert wurde, zeigt ganz gut, wie völlig anders in diesen Jahren die allgemeine Denke war. Heute würde man solche Leute ohne Zögern anzeigen, damals wäre das sinnlos gewesen, weil auch der Amtstierarzt so eine Vorgehensweise zwar naserümpfend, aber letztendlich schulterzuckend als mehr oder weniger alltäglich eingestuft hätte.

So etwas haben wir natürlich nie gemacht. Aus heutiger Sicht aber waren wir definitiv viel zu hart, wenn nicht sogar grausam zu unserem kleinen Dackel. Wie gesagt: Das hat alles hervorragend funktioniert. Watzmann hat davon auch insofern profitiert, dass er nach dem Erlernen dieser Basics sehr viele Freiheiten genießen konnte. Er lief sowohl in Wald und Feld als auch in der Stadt meist ohne Leine, wartete vor Läden, in die er nicht mit rein durfte, unangeleint und wie festgeschraubt, und er hätte es – obwohl er unkastriert war – nie gewagt, wegen einer läufigen Hündin irgendein Kommando nicht zu befolgen. Er konnte also als erwachsener Hund ein recht freizügiges Leben führen, weil auf ihn wirklich Verlass war.

Aber er hat dafür von Anfang an einen hohen, einen viel zu hohen Preis bezahlt. Ich gehe davon aus, dass er uns – wie es nun mal die Art der Hunde ist – sein Leben lang geliebt hat. Er hat uns aber sicher auch jederzeit jegliche Schandtat zugetraut, uns für unberechenbar und gefährlich gehalten. Das tut mir bis heute schrecklich leid und wird mir auch für den Rest meines Lebens schrecklich leid tun. Wenn mir dabei fast die Tränen kommen, dann ist das kein Selbstmitleid. Es ist nur gerecht, dass ich mich diesbezüglich so richtig schlecht fühle. Nein, Mitleid habe ich nur nachträglich mit Watzmann. Er hätte es so viel schöner, so viel entspannter und so viel vertrauensvoller haben können, wenn wir nur mehr gewusst, mehr Erfahrung oder wenigstens so viel Selbstbewusstsein gehabt hätten, um auf unser Bauchgefühl zu hören.

Seitdem ich die Dominanztheorie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen gesehen habe, bin ich extrem zurückhaltend damit geworden, irgendwelche angeblich sicheren Erkenntnisse und Weisheiten der Hundeerziehung an meine Kunden weiterzugeben. Das war damals alles so falsch und so schrecklich unnötig roh! Heute kann man nur noch den Kopf schütteln. Es mag gut sein, dass im Moment das Pendel zu weit in die andere Richtung ausschlägt und wir in noch einmal 25 Jahren wieder den Kopf schütteln werden, aber immerhin werden wir uns dann nicht vorwerfen müssen, zu grausam gewesen zu sein und damit das Leben unserer Hunde ungewollt in eine kleine Hölle verwandelt zu haben.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen

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