Warum überweisen wir so schnell und häufig?

Von Ralph Rückert, Tierarzt

So manchem langjährigen Stammkunden unserer Praxis mag aufgefallen sein, dass wir seit einigen Jahren viel häufiger und schneller an Spezialisten überweisen als früher. Selbst Operationen oder diagnostische Maßnahmen, die ich technisch durchaus drauf habe, schicken wir gelegentlich weiter. Warum ist das so?

Die Antwort ist ganz simpel: Wir machen das, weil es inzwischen einfach genug Spezialisten in erreichbarer Entfernung gibt, die Überweisungen auch so handhaben, wie wir das sehen wollen. Dazu kommt, dass die nach unserer Einschätzung immer stärkere emotionale Bindung zum Haustier bei vielen Besitzern eine deutlich höhere Bereitschaft auslöst, für eine optimale Behandlung auch etwas weitere Wege und höhere Kosten auf sich zu nehmen.

Das war nicht immer so. Zum einen waren Spezialisten der einzelnen Fachrichtungen früher deutlich dünner gesät, zum anderen waren die, die es gab, oft nicht wirklich darauf eingerichtet, „Langstrecken-Überweisungen“ kundenfreundlich zu managen. Man kann jemand, der einen stundenlangen Weg hinter sich hat, nicht behandeln wie jemand aus dem lokalen Kundenkreis. Ewige Wartezeiten zum Beispiel werden von Leuten, die über mehrere Hundert Kilometer termingerecht angekommen sind, einfach nicht akzeptiert. Und notwendige Voruntersuchungen, diagnostische Maßnahmen und allfällige operative Eingriffe müssen in solchen Fällen oft sehr eng zusammengefasst bzw. in einem Aufwasch erledigt werden.

Die schnelle Informationsübermittlung im Rahmen der Rücküberweisung zur Weiterbehandlung an den Haustierarzt war früher gern mal ein extrem wunder Punkt, weil die interne Organisation der Kliniken und Spezialpraxen darauf oft nicht sorgfältig genug ausgerichtet war. Da konnte es bei manchen Kliniken schon mal eine Woche dauern und mehrere Anrufe brauchen, bis das Rücküberweisungs-Fax endlich eintraf, und in der Zwischenzeit war man bezüglich der Weiterbehandlung so richtig schön am Schwimmen.

Aber auch von Seiten der Besitzer bekam man früher noch öfter den Vogel gezeigt, wenn man die Konsultation eines Spezialisten in mehr als 50 Kilometer Entfernung vorgeschlagen hat.

In diesen Jahren blieb einem als Praktiker also oft nichts anderes übrig, als Eingriffe, bei denen man sich eigentlich nicht wirklich sattelfest fühlte, selber vorzunehmen. Das ging durchaus so weit, dass man auch OPs, die man selbst noch gar nie gemacht hatte, mit dem aufgeschlagenen Chirurgie-Atlas neben sich und mit viel Schweiß auf der Stirn durchgezogen hat. In der Regel hat das auch geklappt, denn ein gut ausgebildeter Tierarzt ist aufgrund seiner anatomischen und chirurgischen Kenntnisse durchaus improvisationsfähig, aber – und das ist ein klarer Nachteil – solche Eingriffe haben wegen der fehlenden Erfahrung oft zwei- oder dreimal länger gedauert als bei einem Spezialisten. Routine bringt nun mal – wie eigentlich überall – Tempo und Sicherheit, was wiederum die Komplikationsrate senkt.

Wie die meisten Tierärzte meiner Generation war ich über lange Zeiträume auf mein Improvisationstalent angewiesen und musste mit dem daraus resultierenden Stress irgendwie umgehen. So richtig Freude hatte ich an diesen schweißtreibenden Tänzen auf der Rasierklinge aber nie. Deshalb habe ich heutzutage nicht das geringste Problem damit, relativ schnell an Spezialisten zu überweisen. Ich freue mich sogar, dass das inzwischen in vielen Fällen eine gangbare Alternative darstellt.

Ich bin Allgemeinmediziner mit ein paar speziellen Schwerpunkten (Zahnmedizin, Anästhesie, Internistik, Endokrinologie, Bauch- und Weichteilchirurgie, etc.), also der klassische Hausarzt mit im Vergleich zur Humanmedizin stark erweitertem Kompetenzspektrum. Als ihre erste Anlaufstelle in allen Tiergesundheitsfragen kann und darf ich mich gar nicht zu sehr in irgendeine Richtung spezialisieren, weil die dafür aufgewendete Zeit woanders fehlen und ich genau den Überblick verlieren würde, der es mir ermöglicht, Ihr Tier als Ganzes zu sehen und sein Problem erfolgreich einzuordnen. Es kratzt also überhaupt nicht an meinem Stolz, wenn ein Spezialist, der sich völlig auf ein Fachgebiet konzentrieren kann, mir in diesem Teilbereich haushoch überlegen ist.

Es kann sogar vorkommen, dass ich diagnostische Schritte wie Röntgen und Ultraschall, für die wir eigentlich ausgestattet sind, gleich an Spezialisten abgebe, die auf der Basis der damit ermittelten Ergebnisse dann weiter vorgehen müssen. Es macht für den Patienten und seine Besitzer oftmals einfach mehr Sinn, wenn das alles in einer Hand liegt und nicht noch groß Informationen ausgetauscht werden müssen oder gar die eine oder andere diagnostische Maßnahme (etwa gar in Narkose) noch einmal durchgeführt werden muss, weil sie den spezifischen Anforderungen des Spezialisten nicht genügt.

Ein weiterer Grund für häufigere Überweisungen ist die technische Entwicklung. Als ich mich 1989 niedergelassen habe, gab es durchaus noch Praxen, die nicht mal ein Röntgengerät hatten. Später wurde die Ultraschalldiagnostik so gebräuchlich, dass sie inzwischen in einem Großteil der Praxen zur Anwendung kommt. Bis zu diesem Punkt konnten die Allgemeinpraxen noch rentabel mithalten. Heutzutage aber sind auch die Computer- und die Magnetresonanztomographie für die Diagnostik unverzichtbar geworden. Diese Geräte sind so teuer (auch im Unterhalt), dass sie immer auf große tiermedizinische Einrichtungen beschränkt sein werden, die genügend Fälle für eine wirtschaftliche Auslastung überwiesen bekommen. Dadurch, dass CT und MRT aber bei bestimmten Fragestellungen Standard geworden sind, muss man solche Patienten überweisen und ist auch froh, dass das inzwischen gut möglich ist.

Zu spät oder gar nicht überwiesen zu haben, ist nach meinem Gefühl einer der schlimmsten Vorwürfe, die man einem Mediziner machen kann. Dementsprechend verhalte ich mich. Wie gesagt: Nicht, weil ich ein Hasenfuß oder irgendwie inkompetent wäre, sondern weil die immer weiter fortschreitende Spezialisierung und technische Entwicklung, kombiniert mit relativ guter Erreichbarkeit, es einfach möglich und damit auch ethisch geboten macht.

Konkurrenzdenken oder Futterneid dürfen da keine Rolle spielen. Tun sie bei mir auch nicht, denn ich habe mit dem, was ich gut kann, also meinen Kernkompetenzen, alle Hände voll zu tun. Das ist aber – und es schmerzt mich schon, das sagen zu müssen – nicht immer so. Wir sind seit Jahrzehnten für die Endoskopie verschiedener Organe eingerichtet. Damals, nach der Anschaffung der Geräte, haben wir alle lokalen Praxen schriftlich informiert, dass wir nun in der Lage wären, endoskopische Verfahren anzubieten, was leider nichts daran geändert hat, dass uns immer wieder Patienten unterkamen, denen wegen eines verschluckten Fremdkörpers, der sich mit dem Gastroskop leicht und unblutig hätte entfernen lassen, der Bauch und der Magen aufgeschnitten worden waren. In Anbetracht der Schmerzen und Risiken, die eine Magen-OP für den Patienten mit sich bringt, muss man da schon mal trocken schlucken.

In einer idealen Welt sollte es vielleicht nicht so sein, aber in der Realität sind dann wohl mal wieder Sie als Tierbesitzer zum aktiven Mitdenken aufgefordert. Ich sehe folgende Gründe, warum ein Tierarzt zu spät oder gar nicht überweist:

– Er überschätzt sich oder schätzt die Lage falsch ein: Kann und wird immer wieder vorkommen, ist nachgerade unvermeidlich. In diesem Beruf ist man durchgehend auf ein gutes, wenn nicht sogar übersteigertes Selbstbewusstsein angewiesen, wenn man überleben will. Allzu viele Selbstzweifel können schwere Nebenwirkungen haben. Wir (da schließe ich mich wirklich in aller Deutlichkeit mit ein) stehen immer wieder vor Fällen, wo man am Ende mit der im Rückblick grundsätzlich hundertprozentigen Sehschärfe einräumen muss, dass man wohl besser überwiesen hätte. Damit wird man sich abfinden müssen, so lange Menschen diese Arbeit besser machen als Roboter.

– Er weiß gar nicht, dass es ein bestimmtes, in die Hände des Spezialisten gehörendes Verfahren gibt, das in diesem speziellen Fall sinnvoll wäre: Auch das ist möglich und nicht in allen Fällen zu vermeiden. Man kann beim besten Willen nicht in allen Bereichen zu jeder Zeit tipptopp informiert sein. Auch damit wird man leben müssen, besonders bei ungewöhnlichen oder seltenen Krankheitsbildern.

– Futterneid: Hoffentlich selten, weil das wäre wirklich mies. Wenn ich mir als Mediziner vorsätzlich (!) ein Verfahren oder einen Eingriff unter den Nagel reiße, obwohl ich dafür eigentlich fachlich oder technisch nicht gerüstet bin, stelle ich mich außerhalb des grünen Bereichs der Medizin-Ethik. Nicht akzeptabel! Ebenso inakzeptabel ist es, einen bestimmten Weg einzuschlagen, obwohl man ganz genau weiß, dass das Ziel auch schonender und ungefährlicher für den Patienten erreicht werden könnte, wenn man denn überweisen würde.

Was können Sie als Tierbesitzer da machen? Ganz klar: Vor schwerwiegenden Entscheidungen ruhig noch eine Zweit- oder sogar eine Drittmeinung einholen. Kostet natürlich auch den einen oder anderen Taler, ist aber sicher besser als mit Volldampf auf oben genannte Klippen aufzulaufen.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen

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