Von Ralph Rückert, Tierarzt
Jeder Hund hat mal Erbrechen und/oder Durchfall, in schwereren Fällen sogar mit Blutbeimengungen. Das ist erst mal nicht so beunruhigend wie bei uns Menschen. Ein Abfallsammler wie der Hund, der buchstäblich überall seine Nase reinsteckt, muss sowas abkönnen. Es gibt aber auch Hunde, die nicht nur einmal, sondern immer wieder mit solchen Symptomen beim Tierarzt aufschlagen, die monate- und sogar jahrelang Verdauungsprobleme, reduzierten Appetit und allgemeine Kraft- und Energielosigkeit zeigen, und die dann urplötzlich buchstäblich zusammenklappen und zu sterben drohen. Diese Hunde könnten eine Addison-Krise haben, und ihr Überleben hängt in erster Linie davon ab, ob diese heimtückische Erkrankung rechtzeitig erkannt wird.
1855 veröffentlichte Thomas Addison, Chefarzt des heute noch bestehenden Guy’s Hospitals in London, mit der Arbeit „On the Constitutional and Local Effects of Disease of the Supra-renal Capsules“ die allererste Beschreibung der Symptome der Nebennierenrindeninsuffizienz (NNRI, Hypoadrenokortizismus) beim Menschen, und machte damit seinen Namen in der Krankheitsbezeichnung Morbus Addison unsterblich.
Die Nebennieren sind paarig angelegte Hormondrüsen, die sich an den cranialen (kopfwärts gewandten) Pol der Nieren anschmiegen. Sie produzieren verschiedene und für eine ungestörte Körperfunktion ungemein wichtige Hormone, von denen uns für dieses Thema aber nur das Mineralokortikoid Aldosteron und das Glukokortikoid Cortisol beschäftigen sollen.
„Huch! Cortisol!“ werden manche jetzt denken. „Das klingt ja wie Kortison, das die bösen Tierärzte unseren Schatzis reindrücken, um sie langsam zugrunde zu richten!“. Stimmt! Der Körper produziert und braucht unbedingt eine gewisse Menge körpereigenes Kortison, eben das Cortisol, um länger anhaltende Stresssituationen überhaupt erfolgreich bewältigen zu können.
Und was macht das Aldosteron? Es regelt über komplizierte und hier nicht näher zu erläuternde Regelkreise unter anderem den Blutdruck, den Natrium-Kalium-Stoffwechsel und die Wasserausscheidung. Letzteres hat dem Aldosteron auch den Namen „Dursthormon“ eingebracht, weil es bei Flüssigkeitsmangel vermehrt ausgeschüttet wird, um Wasser im Körper zurück zu halten.
Laufen die Nebennieren heiß und produzieren zu viele Hormone (Nebennierenüberfunktion, Hyperadrenokortizismus), bekommt man einen Morbus Cushing, eine Krankheit, die deutlich häufiger als der M. Addison ist und die bei weitem genug Stoff für einen eigenen Artikel hergibt. Schwächeln die Nebennieren aber und produzieren zu wenig der genannten Hormone, kommt es eben zum Morbus Addison.
Der wahrscheinlich bekannteste Addison-Patient der Welt dürfte der US-Präsident John F. Kennedy gewesen sein, der gleichzeitig auch ein fast perfektes Beispiel dafür ist, was diese Krankheit im Körper für ein Chaos anrichten kann. Kennedy wurde jahrelang wegen eines angeblichen Reizdarmes behandelt, der ihn auf regelmäßiger Basis mit schweren Bauchschmerzen und blutigen Durchfällen plagte, bis er endlich 1947 im Alter von 30 Jahren (ironischerweise in London, Addisons früherer Wirkungsstätte) seine Diagnose erhielt. Damit nicht genug, kann uns Kennedy gleich für noch eine weitere unangenehme Sache als Modell zur Verfügung stehen, nämlich das sogenannte Schmidt-Syndrom. Kennedy hatte neben dem Morbus Addison auch eine Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose), und diese problematische Kombination wird durchaus auch bei Hunden gesehen.
Nun, für den Moment genug von Medizingeschichte und toten Präsidenten (später kommt erstaunlicherweise auch noch Ronald Reagan ins Spiel), sehen wir uns die Sache bei unseren Patienten an. Es geht dabei vor allem um den Hund, bei dem der Morbus Addison zwar grundsätzlich selten (1 – 3 Fälle pro 1000?), aber doch regelmäßig auftaucht. Hündinnen stellen mit etwa 70 Prozent die Mehrzahl der Fälle. Die Krankheit tritt vorwiegend bei größeren Rassen im jungen bis mittleren Alter auf. Bezüglich Katzen kann man die Fallberichte in der internationalen tiermedizinischen Literatur fast an den Fingern abzählen. Eventuell braucht man noch die Zehen dazu, aber Katzen scheinen wirklich extrem selten betroffen zu sein.
Beim Hund ist eine scheinbar steigende Inzidenz in den letzten Jahrzehnten fast mit Sicherheit darauf zurück zu führen, dass die Krankheit inzwischen deutlich häufiger erkannt wird als früher. Nichtsdestotrotz gehört der Morbus Addison nach wie vor sicher zu den Top Five der nicht oder fehldiagnostizierten Krankheiten in der Kleintierpraxis. Der Begriff „The Great Pretender“ in der Überschrift bezieht sich genau darauf. Inzwischen sind Schätzungen im Umlauf, dass sich hinter jedem dreißigsten Fall von schwerem Durchfall ein Morbus Addison verstecken könnte.
Man sollte also – nicht nur als Tierarzt, sondern auch als Hundebesitzer – immer im Kopf behalten, dass ein futtermäkeliger Hund mit immer wiederkehrenden Bauchbeschwerden inklusive Erbrechen/Durchfall, der Probleme hat, sein Gewicht zu halten, der einem außerdem müde, kraft- und lustlos vorkommt und eventuell Muskelzittern zeigt, dessen Fellstruktur sich verändert hat und der vielleicht auch vermehrt trinkt und pinkelt, durchaus an einem Morbus Addison leiden könnte. Normalerweise bin ich kein Freund davon, dass man als Laie versucht, einem Mediziner seinen Beruf zu erklären, aber in solchen Fällen könnte es sich auszahlen, den Begriff Addison einfach mal zu erwähnen.
Warum? Ganz einfach: Die Krankheit ist trotz der inzwischen unterstellten höheren Häufigkeit doch so selten, dass sie manche Kolleginnen und Kollegen einfach nicht auf dem Schirm haben. Sie ist immerhin so rar, dass man unter Umständen Tausende von Laborbefunden gelesen hat, bis man mal wieder auf einen M. Addison stößt. Und wenn man ihn nicht auf dem Schirm hat, wird man nie einen diagnostizieren, und dann hat man ihn erst recht nicht auf dem Schirm.
Die Frage dabei ist natürlich: Woran mag es liegen, dass es so einigen Hunden, die mit einem nicht diagnostizierten M. Addison an Erbrechen, blutigem Durchfall und anderen Störungen leiden, nach dem Tierarztbesuch trotz nicht korrekt gestellter Diagnose besser geht? Es gibt unter Medizinern einen sarkastischen Spruch, der mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthält: „Wenn du nicht weiter weißt, gib ein Antibiotikum und Kortison. Eines von beiden wird schon helfen.“ Und genau das stimmt natürlich bei einem Addison-Patienten, der ja unter einem schweren Mangel an Cortisol leidet. Dem geht es tatsächlich entschieden besser, wenn man ihm einen Schuss Methylprednisolon oder Dexamethason verpasst. Und da viele Praktiker zu solchen Kortisonpräparaten mit langer Wirkungsdauer neigen, hält diese Besserung sogar einige Zeit lang an. Hat der Patient dann mit etwas Glück ein paar Wochen keine besonderen Stresssituationen zu bewältigen, wird der nächste Krankheitsanfall nicht mehr mit dem vorhergehenden in Verbindung gebracht, so dass kein wirkliches Gesamtbild entsteht.
Es gibt dazu keine Statistik, aber man kann annehmen, dass nicht wenige Hunde auf diese Weise über Monate oder sogar Jahre vor sich hineiern, bis es urplötzlich brandgefährlich wird: Sie kommen in die sogenannte Addison-Krise. Um es mal volkstümlich auszudrücken: Dabei haut’s den Hund so richtig aus den Latschen. Da ist dann alles geboten, was schlecht und teuer ist: Erbrechen, Durchfall, schwere Schmerzen, völlige Entkräftung, erhöhte Nierenwerte, niedriger Blutdruck, Austrocknung, Bradykardie (verlangsamter Herzschlag), Schocksymptome und so weiter. Es droht akute Lebensgefahr. Wird die Diagnose an diesem Punkt immer noch nicht gestellt, hat der Patient ein sehr hohes Sterberisiko. Selbst bei korrekter Diagnose ist der Ausgang der Krise ungewiss und kann oft erst nach tagelanger Intensivtherapie abgesehen werden.
Eine Addison-Krise lässt einem als Tierarzt nicht viel Zeit. Der bestürzend schnelle Verlauf mag gern mal an eine Vergiftung denken lassen, so dass ich fest davon ausgehe, dass es viele tote Addison-Hunde gibt, auf deren Grabstein sozusagen eingemeißelt steht, dass sie vergiftet wurden. Bei wahrscheinlich eben so vielen wurde fälschlicherweise von einem Nierenversagen ausgegangen. Das ist bedauerlich, denn der klassische M. Addison ist in meinen Augen eigentlich nicht so schrecklich schwer zu diagnostizieren. Man muss ihn nur – wie oben erwähnt – auf dem Schirm haben. Und da gibt es keine Ausreden: Das ist keineswegs nur eine Aufgabenstellung für spezialisierte Endokrinologen, sondern für jeden Praktiker da draußen, denn nur dort kann der Verdacht entstehen und dann bestätigt werden. Es ist meiner Meinung nach nicht notwendig, dass wir Praktiker alle Virtuosen in der doch nicht ganz einfachen Therapie der Addison-Patienten sind. Das kann man ja nach Diagnosestellung ruhig den Spezialisten überlassen oder auch denen, die sich mit besonderem Interesse der Endokrinologie widmen. Aber den Verdacht schöpfen, die Anzeichen erkennen – das sollten wir alle drauf haben. Allerdings mit einer Ausnahme, den atypischen Addison-Fällen, bei denen eventuell vorwiegend ein Mangel an Cortisol vorliegt und für deren Entdeckung man schon eine ordentliche Spürnase und relativ viel endokrinologisches Fachwissen benötigt. Dieser Fallbericht der Universität Zürich bringt ein wenig „real life“ in diese Aussage.
Wie erkennt man nun einen typischen Morbus Addison? Man achtet bei jedem Laborbefund, der von einem Hund stammt, der auch nur andeutungsweise die oben genannten Symptome zeigt, ganz besonders auf die Natrium- und Kaliumwerte. Durch den Mangel an Aldosteron ist der Körper eines Addison-Patienten in der Mehrzahl (zu 90 Prozent?) nicht mehr in der Lage, diese Werte korrekt einzustellen. Man stößt dann in der Regel auf erhöhte Kalium- und erniedrigte Natrium-Werte. Ist der Natrium-Kalium-Quotient unter 27, besteht Verdacht auf einen M. Addison, unter 25 könnte bereits eine Addison-Krise vorliegen. In der Hälfte der Fälle liegen zusätzlich eine Anämie (Blutarmut, Mangel an roten Blutkörperchen) und eine Azotämie (erhöhte Nierenwerte) vor, und ein Drittel der Patienten zeigt außerdem Besonderheiten im weißen Blutbild (Eosinophilie und Lymphozytose). Zusätzlich mag es Sinn machen, in Verdachtsfällen den Cortisol-Basalwert zu bestimmen. An sich ist dieser Wert sowohl in Bezug auf Überfunktion (M. Cushing) als auch Unterfunktion (M. Addison) chronisch unzuverlässig, aber er kann doch zum Gesamtbild beitragen.
Da gibt es schon noch das eine oder andere Anzeichen mehr, aber so sehr müssen wir jetzt im Rahmen eines Blog-Artikels nicht in die Tiefe gehen. Wichtig ist, dass wir bei einem sich aus den Laborwerten und dem klinischen Bild ergebenden Verdacht eine sehr zuverlässige diagnostische Methode zur Verfügung haben, den ACTH-Stimulationstest. Dabei wird zuerst eine Blutprobe entnommen, um daraus den Cortisol-Basalwert zu bestimmen. Danach bekommt der Patient eine bestimmte Dosis adrenocorticotrophen Hormons (ACTH) gespritzt, das die Nebennieren zur Produktion anregen soll. Aus einer danach entnommenen Blutprobe wird wieder der Cortisol-Wert ermittelt, der dann bei einem gesunden Hund stark, bei einem Addison-Patienten aber nur wenig angestiegen wäre.
Der Test gilt wie gesagt als sehr aussagekräftig. Man kann dieses Verfahren als Tierarzt aber auch vermasseln, und zwar durch die voreilige Gabe von Kortikosteroiden wie zum Beispiel Prednisolon. Das passiert nicht selten bei Hunden in der Addison-Krise, denen es leicht erkennbar so richtig dreckig geht. Da wird gern reflexartig zu Prednisolon gegriffen, was auch häufig zu einer schnellen Verbesserung des Befindens führt. Die Möglichkeit der Durchführung eines ACTH-Tests zur sicheren Diagnosestellung wird dadurch allerdings für längere Zeiträume zunichte gemacht. Nicht gut! In solchen Fällen ist Besonnenheit ein guter Ratgeber.
Bei Verdacht auf eine Addison-Krise sollte also erst mal zackig mit einer schnell laufenden Dauertropfinfusion begonnen werden, vorzugsweise mit physiologischer Kochsalzlösung, der bei sehr hohen Kaliumwerten Glukose hinzugefügt wird, weil Glukose durch eine Verstärkung der Insulinausschüttung die Aufnahme von Kalium in die Zellen fördert. Dann wird sogleich der ACTH-Test durchgeführt. Das dauert nur eine Stunde, danach kann bedenkenlos Prednisolon verabreicht werden.
Gerade mal eine Stunde dauert es aber nur, wenn die Praxis das für den ACTH-Test notwendige Präparat Tetracosactid (Synacthen) vorrätig hält, was ich für sehr sinnvoll halte. Mit einem Hund in der Addison-Krise auf dem Tisch bleibt in der Regel keine Zeit, erst noch das Präparat zu besorgen. Wenn Sie also als Patientenbesitzer eine leicht boshafte Ader und die dazugehörige Chuzpe haben, könnten Sie in Ihrer Tierarztpraxis ja mal spontan fragen, ob man dort jederzeit ein, zwei Ampullen Synacthen vorhält.
Ganz kurios wird es übrigens, wenn sich Besitzer abfällig (Geldschneiderei!) über Kollegen äußern, die einen ACTH-Test bei ihrem Hund durchgeführt haben, der dann keine Addison-Diagnose ergab. Ich halte es für ein Zeichen großer Sorgfalt und Sachkunde, also nachgerade für eine Empfehlung, wenn beim geringsten Verdacht so ein Test durchgeführt wird. Sicherlich wird nur maximal einer von zehn ACTH-Tests einen M. Addison aufdecken, aber dass überhaupt daran gedacht wird, nach dieser Krankheit zu suchen, kann absolut nur positiv gewertet werden.
Wenn man nun einen Morbus Addison diagnostiziert hat – idealerweise bevor der Hund eine Addison-Krise erleidet – was dann? Wie wird die Krankheit behandelt? Ich möchte an dieser Stelle nur einen kurzen Überblick über die Therapie geben, weil mir sonst jeder Leser abspringt, dessen Hund keinen M. Addison hat, und zusätzlich auch noch jeder, dessen Hund bereits in Behandlung ist und der sich deshalb zwangsläufig selber schon sehr gut auskennt. Wie bereits angedeutet, ist der Zweck des Artikels nicht, eine erschöpfende Abhandlung über den M. Addison zu schreiben, was sowieso nur in Buchform möglich wäre. Es geht mir in erster Linie darum, ein gewisses Bewusstsein für diese eventuell doch nicht ganz so seltene Erkrankung zu wecken.
Wie immer bei Unterfunktionen von endokrinen Drüsen wird substituiert (von außen in Form von Medikamenten hinzugefügt), was die Drüsen nicht ausreichend produzieren: Beim Diabetes mellitus (der Zuckerkrankheit) wäre es das Insulin der Bauchspeicheldrüse, bei der Hypothyreose das Thyroxin der Schilddrüse. Beim Morbus Addison müssen wir unglücklicherweise gleich zwei Hormongruppen substituieren, nämlich die Gluko- und die Mineralokortikoide, und die beiden auch noch in ein immer etwas prekäres Gleichgewicht zueinander bringen.
Für die glucokortikoide Wirkung wird der Wirkstoff Prednisolon (in Tablettenform) verabreicht, für den mineralokortikoiden Effekt (bis vor Kurzem, siehe weiter unten) das Fludrocortison (ebenfalls als Tabletten). Fludrocortison hat eine begrenzte Glucokortikoid-(Neben)Wirkung, so dass manche Patienten auch ohne Prednisolongabe zurecht kommen. Auf den in vielen Fällen reichlich diffizilen Prozess der richtigen Einstellung und der fortlaufenden Kontrolle mit etwaigen Dosisveränderungen werde ich hier nicht eingehen.
Hochinteressant sowohl für Neu- als auch Altpatienten ist eine aktuelle Entwicklung auf dem Medikamentenmarkt. Vor kurzem wurde der Wirkstoff Desoxycortonpivalat unter der Produktbezeichnung Zycortal für den deutschen Markt zugelassen. Wenn Sie weiter oben dem Link zu der Patientengeschichte von Chessy gefolgt sind, haben Sie schon gelesen, was das Besondere an diesem Medikament ist: Es reicht in der Regel eine Injektion alle 25 Tage aus, um den Aldosteron-Mangel eines Addison-Hundes auszugleichen. Die Wirkung scheint (wie auch in dem Bericht über Chessy beschrieben) bei den meisten Patienten deutlich befriedigender zu sein als die tägliche Substitution mit Fludrocortison-Tabletten, so dass schon vor der Zulassung von Zycortal in Deutschland viele Besitzer von Addison-Hunden monatlich in die Schweiz gefahren sind, wo das Präparat (wie in einigen anderen Ländern, z.B. den USA) unter dem Namen Percorten-V schon lange zugelassen war.
Zu Percorten (bzw. hierzulande Zycortal) gibt es eine interessante Geschichte zu erzählen, und an dieser Stelle kommt – wie weiter oben schon beiläufig angekündigt – der zweite ehemalige US-Präsident, nämlich Ronald Reagan, ins Spiel. Der Addison-Patient John F. Kennedy wurde seinerzeit mit genau diesem Medikament behandelt. Sein Leben hing von Percorten-Injektionen alle 25 Tage ab. Ende der 60er-Jahre aber wurde das Fludrocortison in Tablettenform entwickelt. Eine tägliche Tabletteneinnahme ist natürlich für einen Menschen weit komfortabler als alle drei, vier Wochen für eine Injektion zum Arzt pilgern zu müssen. Demzufolge gingen die Verkaufszahlen von Percorten in den nächsten 20 Jahren so drastisch zurück, dass der Hersteller Ciba-Geigy in den 80ern beschloss, es vom Markt zu nehmen.
Diese Nachricht führte aber zu einem Aufschrei von Tierärzten, die Percorten die ganze Zeit und sehr erfolgreich zur Behandlung von Hunden verwendet hatten. Wie es der Zufall wollte, litt der Hund der Tochter von Ronald Reagan an M. Addison und wurde mit monatlichen Percorten-Injektionen behandelt, so dass auch die Präsidentenfamilie ihrer Sorge angesichts der Produkteinstellung öffentlich Ausdruck verlieh. Angeblich war die tiermedizinische Verwendung von Percorten Ciba-Geigy bis zu diesem Moment nicht bewusst. In Absprache mit der amerikanischen Kontrollbehörde FDA (Food and Drug Administration) stellte Ciba Geigy (heute Novartis) unter der Überschrift „Compassionate Use“ („mitfühlende Anwendung“) Percorten weiterhin provisorisch für die Anwendung beim Hund zur Verfügung und begann gleichzeitig mit dem langwierigen Prozess der Zulassung für den Veterinärbereich. 1998 erteilte die FDA Novartis schließlich die Genehmigung, Percorten-V (V für Veterinär) offiziell auf den Markt zu bringen.
Compassionate Use! Wenn man das liest, kann man sich der bitteren Frage nicht erwehren, ob so etwas heutzutage überhaupt noch denkbar wäre. Die auf Shareholder-Value getrimmten Pharmakonzerne des neuen Jahrtausends nehmen schon seit Jahren ohne jede Rücksicht immer wieder Produkte vom Markt, die zwar für viele Tiere lebensnotwendig sind, aber keine befriedigende Rendite abwerfen. Aber das nur nebenbei.
Die Zulassung von Zycortal für den deutschen Markt hat auch die rechtlichen Rahmenbedingungen der Addison-Therapie entscheidend verändert. Die sogenannte Kaskadenregel verpflichtet uns Tierärzte gesetzlich, bei der Behandlung eines bestimmten Krankheitsbildes bei einer bestimmten Tierart immer in erster Linie ein Produkt zu verwenden, das genau für diese Krankheit bei genau dieser Spezies offiziell zugelassen ist. Vor Zycortal gab es kein zur Aldosteron-Substitution beim Hund zugelassenes Präparat, so dass der Zugriff auf Fludrocortison-Tabletten aus dem Human-Sektor im Sinne des sogenannten Therapie-Notstandes gestattet war. Damit ist jetzt Schluss. Ein neu diagnostizierter Addison-Hund ist rechtlich bindend mit Zycortal-Injektionen zu behandeln. Allenfalls bei Alt-Patienten, die befriedigend auf Fludrocortison eingestellt sind, kann eventuell (mit der einen oder anderen juristischen Verrenkung) eine fortgesetzte Verschreibung des Human-Medikaments argumentiert werden. Ich lese ab und an wütende Äußerungen von Patientenbesitzern in dem Sinne „Ich entscheide, was mein Hund für ein Addison-Medikament bekommt!“. Das ist NICHT korrekt! Mit dem Zeitpunkt der Zulassung von Zycortal ist die Verschreibung von für den Menschen zugelassenen Fludrocortison-Tabletten bei der Behandlung von Hunden ILLEGAL geworden.
Ich sehe das allerdings nicht als schlimm an. Nach den mir vorliegenden Informationen ist Zycortal (bzw. Percorten) bei den allermeisten Hunden der Anwendung von Fludrocortison klar überlegen. Zudem wird das Präparat zu einem offenbar recht vernünftigen Preis angeboten, so dass auch in dieser Hinsicht keine großen Nachteile für die Tierbesitzer entstehen dürften. Weiterhin ist durch die langjährigen Erfahrungen auf anderen Märkten wie den USA bekannt, dass viele Hunde abweichend von den Herstellerangaben auch mit einer deutlich niedrigeren Dosis gut eingestellt werden können, was die Attraktivität des Medikaments weiter steigert.
So! Für den eigentlich beabsichtigten kurzen Überblick ist der Artikel reichlich lang geworden, aber der M. Addison ist halt kein Thema, das man mal schnell im Vorbeigehen abhandeln könnte. Jetzt gilt es, noch eine ungewöhnliche Tatsache zu erwähnen. Wie Sie wissen, halte ich viele auf tiermedizinische Themen spezialisierte Facebook-Gruppen für dringend zu meidende Schlangengruben der Panikmache, des Halbwissens und entsetzlicher Profilneurosen. Dieser Artikel aber ist – für mich ein absolutes Novum – in Abstimmung und Zusammenarbeit mit der Facebook-Gruppe „Morbus Addison beim Hund“ entstanden. Die Gruppe zeichnet sich in meinen Augen durch ein kompetentes Moderatoren-Team und einen dementsprechend sehr zivilisierten Umgangston aus. Die Adminstratoren haben meinen Artikel vor der Veröffentlichung gegengelesen und mir mit Anregungen geholfen, wofür ich mich ganz herzlich bedanke. Den Besitzern eines Addison-Hundes sei diese Gruppe – ebenso wie die dazugehörige Website Addisonhun.de – also ausdrücklich ans Herz gelegt. Die Krankheit ist beileibe kein leichtes Schicksal und wird Sie und Ihren Hund ab Diagnosestellung bis ans Ende seines Lebens begleiten. Da kann man sich ruhig mal von Leuten mit Erfahrung helfen lassen, und sei es nur nach dem Motto „Geteiltes Leid ist halbes Leid“.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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