Kastration auf Probe: Das Suprelorin-Implantat (Kastrations-Chip)

Kastration auf Probe: Das Suprelorin-Implantat (Kastrations-Chip)

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Während die Besitzer bei der Kastration weiblicher Tiere meist darauf hoffen, dass der Eingriff das Wesen der Hündin nicht großartig verändern möge, wird im Gegensatz dazu die Kastration von Rüden überaus häufig mit völlig unrealistischen Erwartungen bezüglich einer Verhaltensmodifikation verknüpft. Man möchte die Operation durchführen lassen, gerne auch auf Rat von „Experten“ wie Hundetrainern und Gassibekanntschaften, weil man hofft, dass der Rüde dadurch „sanfter“, „weicher“ und leichter zu handhaben wird.

Diese Erwartungen werden sehr häufig bitter enttäuscht, ohne dass sich dann noch etwas ändern ließe. Das Problem: Viele Leute glauben einfach lieber wer weiß wem als dem Tierarzt. Da kann man noch so deutlich davor warnen, dass durch die Kastration nur sexuell motiviertes Verhalten „gebessert“ werden kann, aber zum Beispiel territoriale Aggression oder Ressourcenverteidigung völlig unberührt bleiben, es ändert rein gar nichts am festen Vorsatz mancher Rüdenbesitzer(innen). Und genau das ist der Hauptgrund, warum ich als Gegner pauschaler Kastrationen das Suprelorin-Implantat (gerne auch „Kastrations-Chip“ genannt) zu schätzen gelernt habe, denn ich kann damit Rüden sozusagen auf Probe kastrieren und auf diese Weise so einige davor retten, ihre Hoden unwiederbringlich auf dem Altar völlig überspannter Erwartungen opfern zu müssen.

Zeit für ein bisschen trockene Theorie: Das Suprelorin-Implantat enthält den Wirkstoff Deslorelin. Deslorelin gehört zur Gruppe der GnRH-Agonisten. GnRH ist die Abkürzung für Gonadotropin-Releasing-Hormon. Es wird im Hypothalamus gebildet und regt in der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) die Ausschüttung von Gonadotropinen an, also von Hormonen, die wiederum die Keimdrüsen (Eierstöcke bei weiblichen, Hoden bei männlichen Tieren) stimulieren. Der Witz an der Sache ist der: Gebe ich eine einzelne Dosis eines GnRH-Agonisten wie Deslorelin, so kommt es in Folge zu einer vermehrten Ausschüttung von Gonadotropinen aus der Hypophyse und damit zu einer verstärkten Anregung der Keimdrüsen. Sorge ich aber dafür, dass ständig eine relativ kleine Menge eines GnRH-Agonisten im Körper zirkuliert, kommt es zum gegenteiligen Effekt, nämlich einer Übersättigung der Rezeptoren und damit zu einer sogenannten Downregulation, also einem Herunterfahren der Aktivität der Keimdrüsen. Und genau das macht das Suprelorin-Implantat: Es setzt ständig eine kleine, aber über einer gewissen kritischen Grenze liegende Menge an Deslorelin frei und legt damit die Hoden des Rüden lahm. Der Testosteronspiegel sowie die Libido und die Fortpflanzungsfähigkeit werden herabgesetzt.

Die vom Hersteller genannte Wirkungsdauer beträgt für das Implantat mit 4,7 mg Deslorelin sechs und für das mit 9,4 mg zwölf Monate. Diese Angaben beziehen sich ausdrücklich nicht auf Hunde unter 10 und über 40 Kilogramm Körpergewicht, bei denen die Wirksamkeit deutlich verlängert bzw. verkürzt sein kann. Ich selbst habe bei einem Rüden mit 9,8 kg schon eine Wirkdauer des kleineren Implantats von 14 Monaten beobachten können. Bei sehr kleinen Rüden mit weniger als 5 kg wäre ich mit der Anwendung des Produkts sehr zurückhaltend und würde den Besitzer darüber aufklären, dass ich ein gewisses Risiko für eine irreversible Hemmung der Hodenfunktion sehe. Ebenso vorsichtig wäre ich bei der Anwendung an einem Rüden, der noch zur Zucht eingesetzt werden soll. Hierbei sollte der Besitzer darüber informiert sein, dass labordiagnostisch messbare Einschränkungen der Keimdrüsenfunktion (und damit auch der Zeugungsfähigkeit) weit über die angegebene Wirkungsdauer hinaus anhalten können. Das Implantat benötigt bis zu sechs Wochen, um die volle Wirksamkeit zu erreichen. In dieser Anflutungs-Phase kann es zu einem kurzzeitigen Anstieg des Testosteronspiegels kommen. Ob dabei auch mit Auswirkungen wie zum Beispiel gesteigerter Aggressivität zu rechen ist, wurde bisher nicht systematisch untersucht. Nach meiner persönlichen Erfahrung scheint das aber eher selten der Fall zu sein.

Mit welchen Nebenwirkungen müssen wir rechnen? Von gelegentlichen lokalen Reaktionen des Unterhautbindegewebes am Implantationsort abgesehen, sehen wir uns mit den gleichen potentiellen Nebenwirkungen konfrontiert, wie sie auch durch eine Kastration ausgelöst werden können: Haarkleidveränderungen (besonders bei langhaarigen Rassen), gesteigerte Fresslust und entsprechende Gewichtszunahme, Harninkontinenz und Aktivitätsverminderung (Trägheit). Es muss auch damit gerechnet werden, dass es zu einer für andere Hunde bemerkbaren Geruchsveränderung kommt, die zu Verwirrungen in der innerartlichen Kommunikation führen kann. Andere Hunde vermögen nicht korrekt einschätzen, mit was sie es bei einem Kastraten oder einem mit Suprelorin behandelten Rüden zu tun haben, was gelegentlich Anlass zu Irritationen auf beiden Seiten bis hin zu Beißereien bieten kann. Weitere unerwünschte Nebenwirkungen im Verhaltensbereich können vermehrte Ängstlichkeit, Unsicherheit und sogar pauschal gesteigerte (statt gedämpfte) Aggression umfassen. Der Hersteller warnt in der Gebrauchsinformation ausdrücklich: „Hunde mit soziopathischen Störungen und mit Episoden intraspezifischer (Hund zu Hund) und/oder interspezifischer (Hund zu anderer Spezies) Aggression sollten daher weder chirurgisch noch mittels Implantat kastriert werden“.

Ob die im Vergleich zu einer tatsächlichen Kastration nur kurzzeitige Hemmung der Keimdrüsenfunktion irgendwelche langfristigen Negativ-Effekte wie die Begünstigung bestimmter bösartiger Tumor-Erkrankungen verursachen kann, ist bisher nicht bekannt. Der klare Vorteil des Implantats im Vergleich zur echten Kastration ist natürlich der, dass jedwede unerwünschte Nebenwirkung nur zeitlich begrenzt auftritt. Ich habe schon mehrfach Besitzer erlebt, die darüber sehr glücklich waren, zum Beispiel beim Auftreten von Harninkontinenz. Der Hormon-Chip ermöglicht also den Besitzern und mir die Durchführung eines Testlaufes, und dies nicht nur bezüglich der Hauptwirkung, sondern auch der Nebenwirkungen.

Nicht selten kann man im Netz Erfahrungsberichte von Besitzern lesen, bei deren Hunden das Implantat keine erkennbare Wirkung gezeigt hat, weder was die Hodengröße noch das Verhalten anging. Hierfür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder wurde das Implantat innerhalb weniger Stunden oder Tage durch den Stichkanal hindurch wieder abgestoßen oder aber es wurde so implantiert, dass es in Fettgewebe zu liegen kam. Ist der Chip komplett von Fett umgeben, kann die Wirkstoffabgabe nie die kritische Grenze erreichen. Bei der Implantation, die wie eine normale Injektion (ohne irgendeine Betäubung) durchgeführt wird, ist also darauf zu achten, dass erstens der Einstichkanal nach dem Herausziehen der Nadel für mindestens 30 Sekunden komprimiert wird, um ihn zuverlässig zu verschließen, und dass zweitens das Implantat sauber subkutan und keinesfalls in einer Fettschicht zu liegen kommt.

Speziell was die durch die Zulassungsbedingungen durchaus erlaubte wiederholte Applikation des Chips angeht, hält sich im Netz hartnäckig das Gerücht, dass das Implantat sich nicht komplett auflösen würde. Das ist nicht richtig. Es löst sich durchaus vollständig auf, allerdings erst lange nach Beendigung der Wirkungsdauer. Wiederholte Anwendungen des Produkts sind also problemlos möglich, machen aber in meinen Augen – von ganz speziellen Fallkonstellationen mal abgesehen – wenig Sinn. Innerhalb der Wirkungsdauer des Implantats sollte eigentlich klar werden, ob die dabei auftretenden positiven oder negativen Effekte eher für oder eher gegen eine endgültige Kastration sprechen. Bei einer Entscheidung für den operativen Eingriff sollte dieser meiner Meinung nach idealerweise noch vor dem Abklingen der Suprelorin-Wirkung durchgeführt werden, um dem Rüden eine hormonelle Achterbahnfahrt mit all ihren Auswirkungen zu ersparen.

Thema Off-Label-Use: Mit diesem Begriff wird die Anwendung eines Medikaments außerhalb seiner Zulassungsbedingungen bezeichnet, für deren Folgen der durchführende Tierarzt die volle Verantwortung trägt. Das Implantat wird auch bei Hündinnen mit Erfolg zur Läufigkeitsunterdrückung eingesetzt, was angesichts des oben erläuterten Wirkprinzips nicht überraschen kann. Neben der dafür (noch?) nicht gegebenen Zulassung bringt dieser Anwendungsbereich allerdings einen weiteren wesentlichen Nachteil mit sich: Die Implantation löst in der Regel gleich zu Anfang eine Läufigkeit aus, bevor die die Keimdrüsen unterdrückende Wirkung dann zum Tragen kommt. Ein weiterer erwähnenswerter Off-Label-Use ist die Anwendung bei sowohl weiblichen als auch männlichen Frettchen. In manchen Ländern besteht sogar eine Zulassung des 9,4mg-Implantats für Frettchen-Rüden.

Um es abschließend noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die Zulassung des Suprelorin-Implantats nennt nur eine einzige Indikation, nämlich die „Erzielung einer vorübergehenden Unfruchtbarkeit bei gesunden, nicht kastrierten, geschlechtsreifen Rüden“. Da ist also absolut nicht die Rede von der mühelosen, chemischen Lösung aller möglichen Verhaltensprobleme, wie sie aus Genetik, Prägung, Sozialisierung und Erziehung entstehen können. Das Implantat eröffnet uns aber die attraktive Möglichkeit, über einen mehr oder weniger präzise definierten Zeitraum die positiven und negativen Auswirkungen einer Kastration zu beurteilen, und erweitert damit ganz beträchtlich die Datenbasis, aufgrund derer dann eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann. Ich persönlich halte diese Vorgehensweise für so sinnvoll, dass ich mich in vielen Fällen weigere, einen Rüden zu kastrieren, bei dem die Auswirkungen nicht vorher durch die Implantation eines Suprelorin-Chips getestet worden sind.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

Sie können jederzeit und ohne meine Erlaubnis auf diesen Artikel verlinken oder ihn auf Facebook bzw. GooglePlus teilen. Jegliche Vervielfältigung oder Nachveröffentlichung, ob in elektronischer Form oder im Druck, kann nur mit meinem schriftlich eingeholten und erteilten Einverständnis erfolgen. Von mir genehmigte Nachveröffentlichungen müssen den jeweiligen Artikel völlig unverändert lassen, also ohne Weglassungen, Hinzufügungen oder Hervorhebungen. Eine Umwandlung in andere Dateiformate wie PDF ist nicht gestattet. In Printmedien sind dem Artikel die vollständigen Quellenangaben inkl. meiner Praxis-Homepage beizufügen, bei Online-Nachveröffentlichung ist zusätzlich ein anklickbarer Link auf meine Praxis-Homepage oder den Original-Artikel im Blog nötig.

Nach oben scrollen