Von Ralph Rückert, Tierarzt
Es ist enorm, was sich in den dreißig Jahren meiner Berufstätigkeit an Fortschritten in Wissen und Technik ergeben hat, wie sehr sich der State of the Art verändert hat, wie sehr Behandlungsstandards stetig nach oben geschraubt wurden.
Lassen Sie uns einen für alle Tierbesitzer bekannten und eigentlich recht banalen Vorgang, eine Zahnbehandlung, als Beispiel hernehmen, um diese Entwicklung zu verdeutlichen. Warum speziell bei der Katze? Weil sich bei dieser Tierart noch mehr getan hat als beispielsweise beim Hund und weil in erster Linie die Katze von den verheerenden Resorptivläsionen betroffen ist, die den Anlass für sehr viele Zahnbehandlungen darstellen.
Indikationsstellung und Voruntersuchung
Damals: Man musste als Katzenbesitzer schon ordentlich Glück haben, um einen Tierarzt zu erwischen, der a) bei Routineuntersuchungen überhaupt ins Maul der Katze geschaut hat und b) das, was er da zu sehen bekam, auch entsprechend einzuschätzen wusste. Katastrophale Zahnbefunde wurden entweder ganz ignoriert oder nach dem Motto gehandhabt, dass man „da mal was machen müsste“. Zu diesem Zweck wurde ein Termin vereinbart und am betreffenden Tag der Katze ruckzuck und ohne weitere Umstände eine Narkose verpasst.
Heute: Die Untersuchung der Mundhöhle und der Zähne ist für mich einer der allerwichtigsten Punkte eines Check-Ups. Wir wissen heute sicher, dass locker die Hälfte aller Katzen über fünf Jahren (sehr viele schon deutlich früher!) an extrem schmerzhaften Resorptivläsionen leidet. Wir wissen auch, dass sich viele dieser Defekte an der Zahnfleischgrenze oder gar darunter abspielen, und achten deshalb auf kleinste Anzeichen wie punktförmige Rötungen des Zahnfleisches, einseitigen Zahnsteinansatz oder Berührungsangst der Katze. Es wird nicht nur ein pauschaler Blick in die Mundhöhle geworfen, sondern möglichst jeder Zahn in Augenschein genommen, um nur ja nichts zu übersehen. Der geringste Verdacht auf das Vorliegen von Resorptivläsionen reicht für mich aus, um die Vereinbarung eines Zahnbehandlungstermins zu empfehlen. Und da Zahnprobleme naturgemäß häufiger bei älteren Tieren auftreten, gehören präanästhetische Blutuntersuchungen zur Erkennung versteckter Narkoserisiken schon lange zum Standard.
Die Narkose
Damals: Das Gewicht der Katze wurde meist über den Daumen geschätzt und dann eine intramuskuläre Mischspritze mit den berühmten Medikamenten Rompun (Xylazin) und Ketamin verabreicht. Wenn die Katze nach 15 Minuten weggetreten war, wurde sie auf den Tisch gelegt und mit der Behandlung begonnen. Dauerte die Angelegenheit so lang, dass die Wirkung der intramuskulären Narkose nachließ, was an Schmerzreaktionen erkennbar war, wurden die gleichen Medikamente einfach nachgegeben. Schmerzmedikamente, die über die Narkosedauer hinaus wirken, wurden nicht eingesetzt. Eine rudimentäre Überwachung der Narkose erfolgte allenfalls über die grobsinnliche Beobachtung der Schleimhautfarbe, der Atmung und des Pulses.
Heute: Nach einer erneuten körperlichen Untersuchung, die sicherstellen soll, dass sich seit der letzten Vorstellung nichts Wichtiges geändert hat, wird das Gewicht der Katze bis auf zwei Stellen hinter dem Komma genau bestimmt, um die diversen zur Anwendung kommenden Medikamente auch korrekt dosieren zu können. Danach wird der Katze ein Venenkatheter (venöser Zugang) gelegt und über diesen die Narkose eingeleitet, nicht mit einer pauschalen Dosierung, sondern nach Wirkung. Nach dem innerhalb von Sekunden erfolgenden Bewusstseinsverlust wird das Tier intubiert, um die Atemwege zu sichern und die Aspiration (Einatmung) von Erbrochenem, Kühlwasser, Bakterien und Fremdkörpern wie Zahnsteintrümmern und ganzen Zahnteilen zu verhindern. Das klingt banal, aber die Klinik des Kollegen Staudacher in Aachen hat vor einiger Zeit eine Rückschau auf eine ganze Anzahl von Fällen veröffentlicht, in denen die Klinik Katzen behandeln musste, bei denen solche Fremdkörper wegen nicht durchgeführter Intubation in die Lunge geraten waren und teilweise hochdramatische Komplikationen ausgelöst hatten.
Der Tubus ermöglicht dann im weiteren Verlauf auch die sichere Zuführung von Sauerstoff und Narkosegas. Während des (oftmals langwierigen) Eingriffs bekommt die Katze eine Dauertropfinfusion, um eventuelle Flüssigkeitsdefizite auszugleichen, die Fließeigenschaften des Blutes zu verbessern und die Nierendurchblutung zu gewährleisten. Die Katze wird für die Dauer der Narkose an einen Monitor angeschlossen, der fortwährend den Puls, die Sauerstoffsättigung des Blutes, die Atemfrequenz und die CO2-Konzentration der Ausatemluft misst. Auch die Körpertemperatur wird überwacht und bei Bedarf Wärme zugeführt. Ist oder wird klar, dass Zähne extrahiert werden müssen, bekommt das Tier ein 24-Stunden-Schmerzmittel und eine Single-Shot-Antibiose gespritzt.
Röntgendiagnostik
Gestern: Einfache Sache: Gab es nicht! Was sich im Wurzelbereich der Zähne abspielte, wussten wir schlicht nicht. Es wurde auch ganz sicher kein Zahnschema erstellt und dokumentiert.
Heute: Mit dem digitalen Dentalröntgengerät werden detaillierte Aufnahmen aller Zähne angefertigt, wodurch selbst kleinste Ansätze odontoklastischer Resorptivläsionen zu diagnostizieren sind. Die pauschale Notwendigkeit dieser Maßnahme ergibt sich immer wieder aus Fällen, in denen wir rein optisch eigentlich keine größeren Probleme unterstellt hätten, bei der Betrachtung der Röntgenbilder aber aus allen Wolken gefallen sind. Auf der Basis der nun in Narkose möglichen eingehenden Untersuchung der Mundhöhle und der erstellten Röntgenbilder wird ein Zahnschema angefertigt und dokumentiert, auf das man sich bei weiteren notwendigen Behandlungen in der Zukunft stützen kann.
Die professionelle Zahnreinigung
Gestern: Die Zähne wurden mit dem Ultraschall-Scaler von weichen und harten Belägen befreit.
Heute: Die Zähne werden mit dem Ultraschall-Scaler von weichen und harten Belägen befreit. Das ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit. Durch die zuvor angefertigten Röntgenbilder wissen wir, an welchen Stellen wir parodontale Probleme haben, und können diese gezielt behandeln. Nach der Reinigung mit dem Ultraschall- und den Handscalern werden die Zähne sorgfältigst glattpoliert.
Zahnextraktionen wegen fortgeschrittener Parodontitis oder FORL
Gestern: Es wurden Zähne extrahiert, die wegen Parodontitis schon mehr oder weniger am Wackeln waren oder die rein optisch erkennbare FORL-Defekte aufwiesen. Ersteres war natürlich denkbar einfach, letzteres dagegen meist sehr problematisch, weil gerade die von Resorptivläsionen befallenen Zähne oft eine innige Verbindung mit dem umliegenden Kieferknochen eingehen (ankylosieren). FORL-Zähne waren auf konventionellem Weg (nur mit Beinschen Hebeln und Zangen) meist nicht vollständig zu extrahieren, in der Regel blieben reihenweise Zahnwurzeln im Kiefer zurück. Darüber hat man sich hinweggetröstet mit dem Wissen, dass diese Wurzeln über kurz oder lang (und leider unter Schmerzen!) vom Körper resorbiert (aufgelöst) werden. Bei Katzen mit schlimmen Ankylosierungen hat man oft nur die Zahnkrone abgeknippst und darauf vertraut, dass Gras – sprich Zahnfleisch – über die Sache wachsen und der Körper sich irgendwie um den Rest kümmern würde. Nach der in auf Zähne spezialisierten Praxen weitreichenden Einführung von Zahnturbinen (Bohrer mit enorm hoher Drehzahl) hat man sich auch mit dem nach Tastgefühl erfolgenden Ausbohren der Zahnwurzeln zu helfen versucht. Ohne die Möglichkeit der Röntgenkontrolle hat man aber dabei mehr als oft einfach danebengebohrt und trotzdem Wurzelreste zurückgelassen. Extraktionswunden wurden im (meist durchaus berechtigten) Vertrauen auf die hervorragenden Heilungskräfte der Natur einfach offen gelassen. Alles irgendwie sehr unbefriedigend!
Heute: Es gilt (übrigens auch beim Hund) das englischsprachige Motto „Flaps are our friends!“, frei übersetzt „Eine Lappenplastik macht alles viel einfacher und besser!“. Wie in einem anderen Artikel (mit Videolinks!) vor kurzem schon einmal erläutert, werden sehr festsitzende und damit problematische Zähne heutzutage meist mit einer Flap-Technik extrahiert. Dabei werden Zahnfleisch und Periost (Knochenhaut) mit einem Periostschaber vom Kieferknochen gelöst. Dann kann der Knochen über den Wurzeln der zu entfernenden Zähne mit einer Lindemann-Turbinen-Fräse weggefräst werden, was die vollständige Extraktion der Wurzeln enorm erleichtert. Danach werden die Extraktionswunden schön sauber mit einer Zahnfleischnaht verschlossen. Ausgesprochen befriedigend!
Die Aufwachphase
Gestern: Katzen benötigten nach der oben beschriebenen Rompun-Ketamin-Narkose oft Stunden, wennn nicht halbe Tage, um wieder auf die Beine zu kommen. Manche Besitzer berichteten von lang anhaltenden, manchmal sogar permanenten Wesensänderungen der Tiere, was wir heute auf eine narkosebedingte Hypoxie (Sauerstoffunterversorgung) des Hirns zurückführen.
Heute: Die Katzen sind etwa eine Viertelstunde nach Abschluss des Eingriffes wieder wach, kurz darauf auch mobil. Durch die inzwischen übliche und suffiziente Schmerzmittelabdeckung sind die Tiere in der Regel auch sofort recht guter Dinge. Für den, der die „guten alten Zeiten“ noch miterlebt hat, ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Diese ganze Entwicklung kann man ja nur absolut positiv sehen, wenn da nicht ein letzter Punkt wäre, auf den Sie sicher schon gewartet haben:
Der Preis
Gestern: Der Vorgang hat damals nicht viel mehr als eine halbe Stunde gedauert, wurde in vielen Praxen ausschließlich von einer Tierarzthelferin durchgeführt und war für irgendwas zwischen 80 und 120 Mark (D-Mark!) zu haben.
Heute: Wenn – wie so häufig – Zähne extrahiert werden müssen, sind wir (ein Tierarzt plus Assistenz) regelmäßig drei- bis viermal so lang beschäftigt. Die Rechnungen dafür knacken meist locker die 500-Euro-Marke und können auch noch deutlich darüber liegen.
Tja, das ist sozusagen der Preis des Fortschritts. Dass Sie bzw. Ihre Katze für dieses Geld auch um Welten mehr bekommen, sollte durch meine Erläuterungen klar geworden sein. Blöd ist dabei nur eines: Die unter „Gestern“ beschriebene Vorgehensweise wird leider immer noch weit verbreitet angeboten und mit knapp dreistelligen Beträgen berechnet, so dass beim nicht sachkundigen Laien der Eindruck entstehen kann, dass Praxen, die in Bezug auf Katzenzahnheilkunde auf dem neuesten Stand der Technik und der Kunst arbeiten, Wucherer und Abzocker wären.
Es wird Ihnen also nicht erspart bleiben, sich sorgfältig über den Inhalt der gebotenen Leistungen zu informieren. Eines sollte klar sein: Ein Anruf in einer Tierarztpraxis mit der beliebten Frage „Was kostet bei Ihnen eine Zahnreinigung bei einer Katze?“ kann erstens nicht mal ansatzweise vernünftig beantwortet werden und verrät zweitens eigentlich nur, dass Sie zu träge waren, sich darüber zu informieren, was es da für himmelweite Unterschiede gibt und dass Zahnbehandlung nun mal nicht gleich Zahnbehandlung ist! Ausbaden muss solche im wahrsten Sinne des Wortes gestrigen Billig-Vorgehensweisen immer nur einer, nämlich die Katze!
Viel lieber höre ich die Frage: „Haben Sie ein Dentalröntgengerät?“, denn das verrät mir, dass der Kunde – das Wohlergehen seines Tieres im Kopf – sich wirklich darüber informiert hat, was nach heutigen Standards als absolut unverzichtbar gesehen wird.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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