Von Ralph Rückert, Tierarzt
Wenn Sie auch nur halbwegs meiner Altersgruppe angehören, werden Sie das kennen: Man kommt mit einer Erkrankung in eine Arztpraxis oder – noch schlimmer – für eine OP ins Krankenhaus, und plötzlich steht da ein halbes Kind vor einem und erklärt, dass die Durchführung der geplanten Maßnahme in seinen Händen liegen wird. Unwillkürlich denkt man sich mit mühsam unterdrückter Panik: Du? Kannst du denn schon lesen und schreiben? Ich will sofort den Chef sprechen!!!
Jeder von uns will gute, wenn nicht gar perfekte Ärzte für sich und auch für seine Tiere. Wie junge Mediziner aber gut oder gar perfekt werden, nämlich durch viel, viel Übung am lebenden Objekt, blendet man gerne aus. Sollen doch gefälligst andere dafür herhalten! Niemand, absolut niemand will Assistenz(tier)ärzte an sich oder seinem Tier üben lassen.
Dabei geht es gar nicht mal um medizinisches Wissen, denn davon hat der Nachwuchs durchaus jede Menge abgespeichert, wenn er frisch und voller Tatendrang von der Universität ins Berufsleben entlassen wird. Nein, es geht natürlich um Erfahrung, um den Umgang mit Patienten (auf Englisch so schön als „bedside manners“ bezeichnet) und es geht um schlichte manuelle Geschicklichkeit bei bestimmten Tätigkeiten am Patienten, von einfachen Blutentnahmen bis hin zu schwierigsten Operationen.
Um Geschicklichkeit und Routine zu erlangen, gibt es nur drei Möglichkeiten: Erstens Übung, zweitens Übung und drittens Übung! Und zwar Übung am lebenden Patienten! Die medizinischen Fächer haben natürlich jede Menge über die Jahrhunderte erworbene Erfahrung darin, wie man Nachwuchs möglichst lange von lebenden Patienten fernhält, indem man ihn diverse Prozeduren nur an toten Körpern üben lässt, aber das hat seine Grenzen. Irgendwann müssen lebende und fühlende Patienten herhalten, da beißt die Maus keinen Faden ab.
In dieser Ausbildungsphase versucht man durch genaueste Anleitung und strengste Aufsicht Schaden von den Patienten abzuwenden, die als Übungsobjekte herhalten müssen. Die Bezeichnung „Assistenz(tier)arzt“ bringt das auch so zum Ausdruck: Der junge (Tier-)Arzt lernt in erster Linie dadurch, dass er bei Behandlungen und Operationen einem erfahreneren und ihm vorgesetzten Mediziner assistiert, bis ihm die Abläufe wirklich vertraut geworden sind. Aber auch das hat wieder seine Grenzen.
Das Gefühl in den Fingern, wenn eine Kanüle in eine Vene rutscht, die Zugkraft, mit der der Knoten einer Darmnaht angezogen werden darf, der Druck, den man auf ein Skalpell ausüben muss, damit es gerade die Haut und nicht noch andere Schichten darunter durchtrennt, das alles (und noch viel mehr!) kann man nur „hands-on“ lernen, also indem man die Tätigkeit selber aktiv ausübt. Dabei entstehen für die Patienten oft Unbequemlichkeiten, Verunsicherungen, Verzögerungen und – seien wir offen – auch mal Fehler.
Und damit kommen wir – aus Patienten- bzw. Tierbesitzersicht – zu einer bitteren Wahrheit: Das muss man so akzeptieren! Ließe man nur medizinische Silberrücken-Gorillas an sich oder seine Tiere ran, gäbe es in zehn oder zwanzig Jahren keine guten (Tier)Ärzte mehr. An wem hätte der Nachwuchs denn auch seine Erfahrungen sammeln können? Ja, es tut eindeutig mehr weh, wenn ein Anfänger aus Angst viel zu flach in die Vene sticht, weil die Nadelspitze dabei natürlich mehr Schmerzrezeptoren erwischt. Und ja, manchmal ist eine Naht nicht so schön wie sie sein könnte. Und ja, sehr selten (aber ab und zu eben doch) kommt es zu gefährlichen Situationen mit ungewissem Ausgang. Das lässt sich aber nun mal nicht ändern und wird sich auch in naher Zukunft nicht ändern lassen.
Vor wirklich fatalen Fehlern werden die Patienten durch das grundsätzlich seit langen Zeiten bewährte Aufsichtssystem in der Medizin normalerweise gut beschützt. An die Sachen, bei denen es um Kopf und Kragen geht, lässt man den Nachwuchs erst in einer sehr späten Phase der Ausbildung ran. Aber etwas mehr Gefummel und eventuell auch etwas mehr Schmerzen durch zitternde Anfängerfinger bei Alltagsprozeduren wird man (möglichst mit Anstand!) akzeptieren müssen. Unter dem Motto der Überschrift ist nun mal keine Ausbildung von Medizinern möglich.
Ach ja, „mit Anstand“ habe ich gerade geschrieben. Ich schwöre Ihnen, dass Sie sich der ewigen Dankbarkeit eines Assistenten versichern können, indem sie NICHT anfangen, ihn unter Druck zu setzen, wenn er gerade mit hochrotem Kopf zum dritten Mal vergeblich versucht, an Ihrem Tier eine Vene zu punktieren. Ich habe in meinen über dreißig Jahren als praktizierender Tierarzt sicher in weit mehr als 100 000 Venen gestochen. Trotzdem treffe ich auch heute bei etwa jedem zwanzigsten Fall aus welchen Gründen auch immer nicht aufs erste Mal. So manches ist – speziell für Anfänger – einfach deutlich schwieriger als es aussieht.
Kommen wir abschließend noch zum Verhalten gegenüber Kunden, den oben schon erwähnten „bedside manners“. Seien Sie bitte auch da tolerant! Nehmen Sie es um Himmels Willen nicht krumm, wenn Assistenten entweder sehr ernst und schweigsam oder aber „mucho macho“ auftreten und dabei jede Lockerheit vermissen lassen. Ich kann mich gut daran erinnern, dass man in den Anfangsjahren derartig darauf konzentriert ist, nur ja nichts falsch zu machen oder zu übersehen, dass man für den eigentlich gebotenen Umgang mit dem Besitzer auch nicht eine Hirnwindung mehr frei hat. Das ist nicht böse gemeint, auch nicht unhöflich, sondern schlicht unvermeidlich. Multi-Tasking gilt in der Medizin schon an sich als gefährlich, und das Aufteilen der Aufmerksamkeit zwischen einem nervösen und sofortige Aufklärung fordernden Besitzer und seinem eventuell auch noch unkooperativen Tier gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Tiermedizin. Das hat man erst nach jahrelanger Erfahrung wirklich im Griff.
Fazit: Ich kann mich durchaus in Patienten und Patientenbesitzer reinfühlen (siehe Einleitung), denen es nicht gerade angenehm ist, wenn sich erkennbar unerfahrene Nachwuchskräfte an ihnen oder ihren Tieren zu schaffen machen. Wirklich wollen tut das keiner. Sie müssen aber einfach Vertrauen darin haben, dass die jeweiligen Vorgesetzten sehr wohl entscheiden können, was für die junge (Tier-)Ärztin oder den jungen (Tier-)Arzt machbar ist und auch geübt werden MUSS! In der Medizin können wir – so hart das klingen mag – den Patienten diesbezüglich nur ein sehr begrenztes Mitspracherecht einräumen, weil wir sonst die Ausbildung der jungen Leute auch gleich aufgeben könnten.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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