Von Ralph Rückert, Tierarzt
Mittags gehe ich immer mit meinem Terrier Nogger durch „unseren“ Wald nach Hause. Der Kindergarten in der Nachbarschaft hat in diesem Wald eine Art Außenstelle, einen sogenannten Waldkindergarten. Manchmal begegnen wir den Kindern, die sich mit ihren Erzieherinnen am Vormittag im Wald aufgehalten haben, wenn sie zum eigentlichen Kindergarten zurücklaufen.
Bei diesen Begegnungen leine ich Nogger immer an, um irgendwelche Irritationen zu vermeiden. Meist bin ich bei diesen Mittagsspaziergängen gedanklich noch halb in der Praxis und eher nur beiläufig auf meine Umgebung konzentriert. Gestern dagegen habe ich die Reaktionen der Kinder aufmerksam beobachten können und war ein bisschen schockiert, denn letztendlich hat sich keines von ihnen wirklich normal verhalten.
Gleich als erstes kamen uns vier kleine Jungs entgegen, die bei unserem Anblick unter Ausstoßen agitiert wirkender Laute eine Reihe bildeten und uns mehr oder weniger zum Ausweichen an den Wegrand zu zwingen versuchten. Direkt beim Vorbeigehen sah einer der Jungs mit scheelem Blick zu uns rüber und verkündete mit wütender Stimme: „Ich hasse Hunde!“. Einer seiner Freunde bekräftigte das mit „Ich hasse Hunde auch, und wie!“. Die nächste kleine Gruppe, um eine Erzieherin geschart und vorwiegend aus Mädchen bestehend, wirkte eher ängstlich-ausweichend, mit hochgezogenen Händen, und warf besorgte Blicke Richtung Nogger. Zuletzt kamen nochmal mehrere Jungs, die sich bei Annäherung erkennbar aufgeregt verhielten. Einer wirkte zögerlich oder ängstlich, und genau dieser wurde bei der Begegnung mit uns von einem seiner Kumpel von hinten in Richtung Nogger geschubst, der durch einen schnellen Sidestep ausweichen musste. Der Junge, der den anderen gestoßen hatte, kommentierte das mit: „Siehste, der beißt dich nicht!“. Ich muss für diejenigen Leserinnen und Leser, die Nogger nicht kennen, noch hinzufügen, dass er beileibe kein furchterregendes Hunde-Monster, sondern ein gerade mal 9,7 kg schwerer Patterdale-Terrier ist, der bei weiblichen Teenagern regelmäßig Ist-der-süüüß-Quietschen auslöst.
Gut, an den Kindern waren wir also vorbei, die gemachten Beobachtungen beschäftigen mich aber immer noch. Sicher, nichts läge mir ferner, als von Kindergartenkindern rationales Verhalten zu erwarten. Aber die über 10 Millionen Hunde in Deutschland sind doch letztendlich genau so ein Fact of Life wie die vielen Autos. Es wird mit voller Berechtigung sehr viel Mühe darauf verwendet, Kindern von ganz klein auf sicheres Verhalten im Straßenverkehr beizubringen. Selbst bis in die Haarspitzen froschgrüne Baumumarmer-Eltern, die Autos vielleicht tatsächlich hassen, werden deshalb bei ihren Kindern nicht auf eine frühe Verkehrserziehung verzichten. Aber was ist mit sicherem Verhalten gegenüber Hunden? Läuft da etwas, was über individuelles Engagement Einzelner hinausgeht? Irgendwelche organisierten Bemühungen, kleinen Kindern einen wirklich entspannten und sicheren Umgang mit Hunden näher zu bringen? Sicher, ich weiß von verschiedenen Initiativen wie beispielsweise dem „Blauen Hund“, aber zeigen diese wirklich irgendeine Breitenwirkung? Die jungen Eltern, die ErzieherInnen und LehrerInnen unter meinen Lesern werden das wohl eher beantworten können als ich. Als Vater einer über 30jährigen Tochter bin ich am Thema Kindererziehung halt nicht mehr so richtig dran.
Ein besonderes „Gschmäckle“ bekam das von mir beobachtete und in meinen Augen unangemessene Verhalten der Kinder dadurch, dass sie sich den Vormittag über in einem Waldkindergarten aufgehalten hatten. Wenn man sich über Waldkindergarten-Pädagogik informiert, stößt man regelmäßig auf das Schlagwort des „Erlebens der Natur“. Was ich auf mehreren Websites zu diesem Thema aber vergeblich gesucht habe, war die Erwähnung von Tieren als Teil dieser Natur. Seltsam!
Es muss ja beileibe nicht jeder ein Hunde-Fan sein. Man muss Hunde nicht zwangsläufig mögen. Wer kein Hundemensch ist, muss Hunde auch nicht wirklich en détail verstehen können. Wegen mir darf man Hunde auch „hassen“, wobei man Hass auf ein Tier wohl eher im psychopathologischen Bereich einsortieren muss. Und sicherlich liegt es vor allem in der Verantwortung jedes einzelnen Hundehalters, dafür zu sorgen, dass es – gerade was Kinder angeht – zu keinen gefährlichen Zwischenfällen mit dem eigenen Hund kommt. Aber so eine gewisse Grundkenntnis einer den Menschen nun mal ständig begleitenden Haustier-Spezies wäre schon trotzdem irgendwie sinnvoll und wünschenswert, schon allein aus Sicherheitsgründen, oder?
Das Ausmaß an Unkenntnis, auf das man als Hundehalter bei Nicht-Hundemenschen manchmal stößt, kann geradezu absurde Züge annehmen. Letzten Sommer in Meran waren wir mit Freunden auf der Tappeiner-Promenade unterwegs, einem mehrere Kilometer langen Spazierweg oberhalb der Stadt. Wir hatten für die stark gehbehinderte Senioren-Hündin unserer Freunde einen Hunde-Buggy dabei. Da Nogger durch eine am Vortag erlittene Schnittwunde an der Pfote auch nicht gut zu Fuß war, lag er bequem und lässig oben auf dem Buggy und ließ sich von mir durch die Gegend schieben. An einer etwas engeren Stelle des Weges kam uns eine junge Mutter mit Kinderwagen entgegen. Ich wich mit dem Buggy ganz auf die Seite aus und bot der Frau freien Durchgang an. Darauf forderte sie mich zu meiner größten Verblüffung streng auf, Nogger zu fixieren, und erläuterte mir in erregtem Tonfall, dass man ja nicht sicher sein könne, dass er nicht von da oben in den Kinderwagen springen und ihr Baby meucheln würde. Ich muss immer noch lachen, während ich das schreibe.
Aber jetzt wieder ernsthaft: Was eine Mutter mit solchen Vorstellungen von Hunden einmal an ihr Kind weitergeben wird, mag ich mir gar nicht vorstellen. Wir wissen, dass Kinder doppelt so häufig von Hunden gebissen werden wie Erwachsene. Leider werden sie aufgrund ihrer Körpergröße auch überdurchschnittlich häufig im Gesicht verletzt und dadurch im schlimmsten Fall für ihr ganzes Leben entstellt. Das ist beileibe nicht immer durch Fehlverhalten der Kinder verursacht, teilweise aber eben doch.
Es gibt ziemlich genau gleich viele Kinder und Hunde in Deutschland. Kontakte und Interaktionen zwischen Kindern und Hunden sind somit unvermeidlich und unter pädagogischen Gesichtspunkten ja auch auf ganzer Linie wünschenswert. Deshalb sollten ALLE Kinder die „Bare Essentials“ des sicheren Verhaltens gegenüber Hunden beigebracht bekommen, und zwar sowohl durch die Eltern als auch den Kindergarten und die Schule. Übrigens dürfen sich da durchaus auch viele Hundehalter-Eltern angesprochen fühlen, speziell die, die in Sozialen Medien idiotische Videos posten, in denen ihre Sprösslinge den Familienhund in einer Art und Weise malträtieren, dass einem dabei die Haare zu Berge stehen.
Wir alle – Eltern, Hundehalter, Nicht-Hundehalter, Hundehasser, Erzieher und Lehrer – sollten dazu beitragen, dass diese Kind-Hund-Kontakte so erfreulich und unfallfrei wie möglich gestaltet werden. Eine Integration dieser Überlegung in die kindliche Früherziehung halte ich für unerlässlich!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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