Das Boreout-Syndrom! – Altersbedingte Vernachlässigung beim Hund (Teil 2)

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Einige der älteren Hunde, die man draußen beim Spaziergang melancholisch hinter ihren Besitzern hertrotteln sieht, haben natürlich gesundheitliche Probleme, die sie schlecht zu Fuß machen. Auf dieses Thema bin ich ja in Teil 1 eingegangen. Bei der Mehrheit dürfte der Grund für dieses Verhalten aber darin zu suchen sein, dass sie einfach geistig erstarrt, völlig unterfordert und bezüglich der immer gleichen täglichen Routine vor Langeweile schier um den Verstand gebracht worden sind, also – neudeutsch ausgedrückt – unter einem ausgewachsenen Boreout-Syndrom leiden.

Lassen wir mal den alten Goethe ran, weil der das eben kann, mit einem Zitat aus „Torquato Tasso“, das mir meine Trauzeugin damals zu unserer Hochzeit geschenkt hat:

„Mit fremden Menschen nimmt man sich zusammen,

Da merkt man auf, da sucht man seinen Zweck

In ihrer Gunst, damit sie nutzen sollen.

Allein bei Freunden läßt man frei sich gehn,

Man ruht in ihrer Liebe, man erlaubt

Sich eine Laune; ungezähmter wirkt

Die Leidenschaft, und so verletzen wir

Am ersten die, die wir am zartsten lieben.“

Die Zeilen beschreiben ganz treffend, um was es mir in diesem Artikel geht, wenn es auch beim älteren Hund weniger um ungezähmtere, sondern eher um erkaltende Leidenschaften geht. Man denke mal zurück an die Welpen- und Junghund-Zeiten: Was man da für Kopfstände gemacht hat, wie viel Zeit und Mühe man investiert hat in das hohe Ziel des wohl erzogenen, des perfekt an einen gebundenen, des „funktionierenden“ Hundes.

Man hat sich eventuell Urlaub genommen, man ist mehrmals pro Woche zu den Welpengruppen der diversen Hundeschulen gerannt, man hat krampfhaft die Gesellschaft anderer Hundehalter gesucht, damit der kleine Hund nur ja ordentlich sozialisiert werden möge. Selbst neben der Arbeitstätigkeit wurden jeden Tag viele Stunden für Aktivitäten mit dem faszinierenden neuen Familienmitglied reserviert. Alles war so neu, so unendlich spannend!

Jeden Tag hat sich der Welpe oder Junghund verändert und einen vor neue Herausforderungen gestellt, auf die man schleunigst und korrekt reagieren musste, weil einem ja von allen Seiten versichert wurde, wie schnell man einen Schaden fürs Leben anrichten kann, wenn man da was versemmelt. Der junge Hund bekam letztendlich für eine gewisse Zeit mehr konzentrierte Aufmerksamkeit ab als die Kinder. Bei der Erziehung der eigenen Brut verlässt man sich ja gern auf seine Instinkte, traut genau diesen Instinkten aber bei der Aufzucht einer anderen Spezies mit einer gewissen Berechtigung nicht so recht über den Weg.

Kurzum: Für die ersten zwei Jahre dreht sich in frischgebackenen Hundehalter-Familien wirklich fast alles um den Hund. Man ist – auch hormonell nachweisbar – buchstäblich frisch verliebt. Man erfreut sich an des Hundes jugendlicher Schönheit, seinem Temperament und an seinen Erfolgen in der Erziehung. Man geht in seinem Drang, dem Hund (und damit natürlich auch sich selbst) immer neues Entertainment zu bieten, oft genug sogar zu weit.

Dann – analog zu unseren eigenen innerartlichen Beziehungen – kühlt die erste Leidenschaft ab und muss transformiert werden in etwas Ruhigeres, idealerweise auch Beständigeres. Dabei hilft einem der Hund, denn dessen Leidenschaft für uns nutzt sich nicht so leicht ab. Wir Menschen sind und bleiben nun mal zwangsläufig sein Lebensinhalt. Man kann nun getrost „in seiner Liebe ruhen“, weil diese allemal sicher ist und weil man – ist nicht irgendwas schiefgelaufen – inzwischen den erträumten „funktionierenden“ Hund hat. Man muss nicht mehr viel Mühe investieren. Der Hund begleitet einen – genau so, wie man sich das anfangs vorgestellt hatte – als perfekter Kumpel durchs Leben.

Dieses unser Leben ist aber nun mal sehr, sehr dominant: Der Beruf, die damit verbundenen Probleme und Sorgen, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, unsere Kinder, die alt werdenden Eltern, die eigene Gesundheit, das alles nimmt uns schwer in Beschlag und raubt viel von unserer Zeit. Und irgendwie kippt da irgendwann irgendwas um, so in etwa zeitgleich mit den ersten grauen Haaren um die Schnauze des Hundes.

Er ist inzwischen auch nicht mehr so fordernd wie in seiner Jugendzeit und hat sich – das ist ja seine große Spezialität – endgültig an uns und unseren Lebensstil angepasst. Er akzeptiert es eben, dass die Spaziergänge aufgrund anderer Anforderungen kürzer und kürzer ausfallen, dass sie immer auf den gleichen Wegen stattfinden, dass wir dabei mehr auf unsere Smartphones schauen als auf ihn. Er nimmt es hin und rollt sich neben uns zusammen, wenn wir abends (man wird ja selber auch nicht jünger!) erschöpft von der Arbeit nach Hause kommen und nach einer kurzen Pinkelrunde um den Block nur noch eine Tiefkühlpizza, den Fernseher und danach das Bett im Kopf haben.

Bis hierhin habe ich mich eher allgemein ausgedrückt, weil ich eigentlich ziemlich sicher bin, dass das zwar nicht bei allen, aber doch bei vielen Hundebesitzern genau so läuft. Da ich aber nicht fahrlässig etwas unterstellen möchte, wechsle ich nun in die Ich-Form, in meine persönliche Erfahrungswelt. Ich kann nicht einschätzen, wie vielen von Ihnen es so geht wie mir. Wer sich nicht angesprochen fühlt und diese Gedankengänge weit von sich weist, soll sich halt einfach freuen, dass er dieses Problem offenbar für sich erfolgreich gelöst hat.

Ab und zu trifft mich nämlich ein Blick meines Terriers, und zwar mitten ins Herz! Klar, da kommt jetzt wieder elend viel Vermenschlichung ins Spiel, aber ich kann mich halt manchmal auch nicht retten und fange an zu interpretieren. Schlechtes Gewissen spielt da sicher eine große Rolle, denn ich bilde mir diesen Blick immer in Situationen ein, in denen ich früher mit dem Hund irgendwas für ihn Sensationelles gemacht habe, jetzt aber aufgrund alltäglicher Anforderungen bei der üblichen und starren Routine bleibe. Er scheint zu sagen: „Hier haben wir doch immer Verstecken gespielt. Könnten wir nicht…?“. Oder: „Früher bist du nicht den ganzen Samstag vor dem PC gesessen und hast geschrieben. Da sind wir doch auf Berge gestiegen oder den ganzen Tag um den großen See gelaufen. Das war doch toll, oder? Könnten wir nicht…?“. Oder: „Früher hast du mir abends immer (mit ganz vielen Leckerchen!) was Neues beigebracht, statt nur in deinem Buch zu lesen. Könnten wir nicht…?“. Und dann wendet sich sein Blick wieder ab, und ich interpretiere voller Schuldbewusstsein resignierte Akzeptanz in dieses Abwenden rein.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Nogger geht es zweifellos gut bei uns! Er bekommt (ABAM!) viele feine Sachen zu futtern, er ist immer den ganzen Tag mit uns zusammen, muss nie alleine bleiben, kommt auf jede Reise, in jeden Urlaub mit und hat logischerweise Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung. Aber das ist halt nicht alles, speziell für eine Terrier-Rakete wie ihn. Sensorischer Input und neue Herausforderungen sind ebenfalls Grundbedürfnisse eines erfüllten Hundelebens, und da habe ich ihn – ebenso wie alle meine Hunde vor ihm – in der alltäglichen Routine meines Lebens zeitweise schon irgendwie vernachlässigt.

Vielleicht mache ich mir auch zu viele Sorgen. Die bisher veröffentlichten systematischen Beobachtungen von selbstbestimmt lebenden Straßenhunden haben ja gezeigt, dass sie – wenn die Ernährung gesichert ist – bis zu 18 Stunden am Tag nur abhängen und schlafen und auch den Rest der Zeit eher gemächlich unterwegs sind. Spielverhalten wurde nur bei Jungtieren beobachtet.

Trotzdem: Es ist leider allzu leicht, einen gut funktionierenden und älter werdenden Hund einfach so neben her laufen zu lassen. Das ist nicht wirklich fair, und ich versuche, mich mit aller Kraft gegen diese Tendenzen zu wehren, mal mehr, mal weniger erfolgreich.

Wie oben schon angedeutet: Das soll nur ein sanfter Denkanstoß sein, ganz ohne Unterstellungen. Ich glaube es zwar nicht, aber vielleicht geht es ja nur mir persönlich so, mit meinem High-Speed-Beruf, meiner Blog-Schreiberei und meinen anderen Aktivitäten. Es muss also bei der Facebook-Diskussion des Artikels niemand beleidigt aufjaulen und sich selbst als perfekten Hundehalter darstellen, dem das nie und nimmer passieren könnte. Dafür gibt es wirklich keinen guten Grund!

An den Lösungsansätzen derer, die das eventuell ähnlich wie ich empfinden, bin ich allerdings lebhaft interessiert.

Zum Abschluss vergehe ich mich noch an Goethe. Hoffentlich erscheint er mir nicht heute Nacht im Traum und zieht mir die Ohren lang!

„Mit jungen Hunden nimmt man sich zusammen,

Da merkt man auf, da sucht man seinen Zweck

In ihrer Gunst, damit sie nutzen sollen.

Allein bei alten läßt man frei sich gehn,

Man ruht in ihrer Liebe, man erlaubt

Sich eine Laune; abgekühlter wirkt

Die Leidenschaft, und so verletzen wir

Am ersten die, die wir am zartsten lieben.“

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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