Reisekrankheit (Kinetose, Motion Sickness) beim Hund

Von Ralph Rückert, Tierarzt

Uns selber hat es bisher nie erwischt. Entweder haben wir Glück gehabt oder wir machen irgendwas richtig, was andere Hundebesitzer falsch machen. Aber bei jedem neuen Welpen habe ich anfangs subtil Schiss, denn wenn man als ständig (und sogar zum Spaß, Pfui!) mit dem Auto rumfahrender Mensch an einen Hund gerät, der zur Reisekrankheit neigt, dann hat man echt die Pest am Hals.

Eigentlich sind die Chancen ganz gut, dass man sein ganzes Leben lang Hunde hält, ohne dass sich einer als KFZ-Problemfall entpuppt, denn über den Daumen gepeilt ist nur jeder fünfte bis sechste Hund betroffen. Passiert es aber, kann das Leben hochgradig mobiler Besitzer plötzlich und dauerhaft sehr, sehr kompliziert werden.

Für uns persönlich wäre ein Kinetose-Hund erst mal eine echte Katastrophe, da wir – wie gesagt – sehr viel mit dem Auto fahren müssen und wollen. Jeden Tag geht es zweimal in die Praxis und zurück, jeweils 8 Kilometer einfach. Und eines unserer Freizeitvergnügen ist das Cabrio, mit dem wir vorwiegend – nicht zuletzt wegen der schönen, aber übelkeitsfördernden Kurven – im Alpenraum und in unseren Mittelgebirgen unterwegs sind. Darüber hinaus haben wir keine Freude an einem Urlaub ohne Hund, was mit sich bringt, dass er auch lange Urlaubsfahrten gut erträglich finden muss.

Ich habe also bisher dankenswerterweise keine persönlichen Erfahrungen mit einem reisekranken Hund machen müssen. Aus meiner Praxistätigkeit weiß ich aber natürlich genau, wie gemein und leider oft schwer therapierbar dieses Problem sein kann. Es fällt mir sehr leicht, mich in diese bedauernswerten Patienten hinein zu versetzen, weil ich selber eine Neigung zur Kinetose habe und als Kind sogar ganz schlimm betroffen war. Autofahren und nach spätestens einer Dreiviertelstunde Kotzen waren für mich bis zum Alter von zwölf, dreizehn Jahren buchstäblich Synonyme. Bis heute komme ich ohne entsprechende Medikamente nicht auf einem Schiff von Sylt bis Helgoland, ohne dass es sehr unerfreulich wird, und in einen Fernreisebus bringen mich keine zehn Pferde!

Mit diesen persönlichen Anmerkungen möchte ich nur rüberbringen, dass Reise- bzw. Seekrankheit, eben Kinetose, für den Betroffenen, ob nun Mensch oder Hund, was wirklich Grausiges ist. An das Problem nach dem Motto „Da muss er jetzt eben durch!“ ranzugehen, ist KEINE Lösung! Ganz im Gegenteil!

Irgendwie scheue ich mich fast, jetzt die Symptome einer Kinetose beim Hund aufzuzählen, weil ich der Meinung bin, dass jemand, der nicht von selber merkt, dass es dem Vierbeiner beim Autofahren gar nicht gut geht, wahrscheinlich auch nicht spannen würde, wenn er ohne Hose aus dem Haus gegangen ist. Aber was soll’s, machen wir es halt, sozusagen als Pflichtübung:

Erregung oder Lethargie, Widerstand oder offensichtliche Angst schon vor dem Einsteigen, unablässiges Hecheln (trotz moderater Temperaturen oder Klimaanlage), Lautäußerungen von leisem Winseln über Bellen bis zum Schreien, Speicheln, gerötete Augen (besser: Bindehäute), hochrote oder blasse Schleimhäute, Erbrechen, in seltenen Fällen sogar Kot- und Harnabsatz. Alles in allem eine glasklare Sache, denke ich!

Ist ein Kinetose-Hund noch jung (unter einem Jahr), können Sie als Besitzer darauf hoffen, dass sich das Problem sozusagen verwächst. Ähnlich wie damals bei mir selbst, sorgt das Erwachsenwerden oft für teilweise oder vollständige Linderung. Allerdings wäre es sehr riskant (und außerdem gemein gegenüber dem jungen Hund!), sich nur auf diesen Effekt verlassen zu wollen. Zeigt ein Hund Anzeichen einer Kinetose, ist es überaus sinnvoll, sofort und energisch etwas zu unternehmen. Es könnte sonst passieren, dass der Traum vom gemeinsamen Urlaub mit dem Hund für immer ausgeträumt ist!

Was tun? Bei Diskussionen dieses Themas in Hundegruppen und -foren wird oft sofort auf die Verhaltensschiene abgehoben. Es werden Erziehungsmaßnahmen und die sofortige Einschaltung von HundetrainerInnen empfohlen, meist im gleichen Atemzug, mit dem Medikamente („pöhse Chemiekeule!“) verdammt werden. Leider Bullshit, denn das eine funktioniert meist nicht ohne das andere! Es hilft nun mal kein bisschen, wenn ich mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen gegen eine Angst ankämpfe, die dann nach wenigen Metern Fahrt wieder durch unweigerlich aufkommendes Elend verstärkt wird. Natürlich gibt es Hunde, die – aus welchen Gründen auch immer – Angst vor dem Autofahren an sich haben und sich deswegen in die oben genannten Symptome reinsteigern. Die meisten Autokotzer aber haben gar nicht wirklich Schiss vor dem Autofahren, sondern vor dem, was es mit ihnen anrichtet. Um wieder den Bezug zu uns Menschen herzustellen: Meint wirklich jemand ernsthaft, dass mir damals als Kind eine Verhaltenstherapie hätte helfen können? Nicht wirklich, oder?

Nein, das muss Hand in Hand gehen! Zum einen muss die durch das Autofahren entstehende Übelkeit möglichst effektiv ausgeschaltet werden, zum anderen muss das Fahren durch entsprechende Maßnahmen in etwas Positives und Erfreuliches umgewandelt werden. Und das muss sofort und unverzüglich passieren, bevor es zu spät ist. Es gibt nämlich tatsächlich eine „Angst vor der Angst“, und die führt dann unweigerlich in einen Teufelskreis, aus dem man so leicht nicht mehr rausfindet.

Von der Vorstellung, dass man da ruckzuck auf einen grünen Zweig kommt, kann man sich allerdings gleich verabschieden. Das braucht Geduld und systematisches Vorgehen! In der Woche vor dem Start nach Benidorm in der Tierarztpraxis aufzuschlagen und eine Instant-Lösung des schon seit wer weiß wie lange bestehenden Problems zu verlangen, ist NICHT sinnvoll!

Also, gehen wir es systematisch an:

Erst mal muss ich wissen, ab welcher Strecke oder nach welcher Zeit im Auto der Hund in ernsthafte Schwierigkeiten kommt. Diese Strecke oder Zeitspanne darf anfangs in keinem Fall überschritten werden. Lässt es sich aus irgendwelchen Zwängen heraus nicht vermeiden, müssen Medikamente zum Einsatz kommen, und zwar jedes Mal.

Zu Beginn wird das Auto idealerweise überhaupt nicht bewegt. Der Hund muss auch gar nicht einsteigen, sondern sich nur annähern und ein Weilchen beim Auto verweilen. Ist das Tier nicht schon an dieser Stelle endgestresst und noch in der Lage, etwas zu sich zu nehmen, kann und sollte man Futterbelohnungen einsetzen. Klappt das, lässt man den Hund in das stehende Auto einsteigen, dort verweilen und eventuell etwas futtern. Dann fährt man mal die Einfahrt unter und wieder rauf. Ich denke, dass das Prinzip klar sein sollte: Der Hund muss als erstes lernen, dass sich absolut nicht jedes Einsteigen in die Familienkutsche zu einer für ihn unendlich wirkenden und schrecklichen Erfahrung auswächst.

Im nächsten Schritt soll der Hund umsetzen, dass am Ende einer (möglichst kurzen!) Fahrt in den allermeisten Fällen etwas sehr Erstrebenswertes und Positives auf ihn wartet. Was das ist, hängt individuell von Ihrem Hund ab. Das Problem ist nämlich, dass gerade Besitzer von Kinetose-Hunden jede Autofahrt fürchten wie der Teufel das Weihwasser und den Hund nur dann einladen, wenn es absolut nicht zu vermeiden ist. Und wo geht es dann normalerweise hin? Entweder (Horror hoch Drei!!!) zum Tierarzt oder zu einer ganz dringenden Erledigung, wo der Hund gleich im Auto bleiben muss. Nein, in dieser Phase der Therapie ist unbedingt darauf zu achten, dass über 90 Prozent der kurzen Fahrten ein für den Hund ganz tolles Ziel haben!

Mit solchen viel Geduld erfordernden Maßnahmen erreichen Sie aber nur, dass der Hund allmählich ein besseres Bild vom Autofahren bekommt, verhindern aber definitiv nicht, dass ihm ab einer gewissen Fahrtstrecke (natürlich auch abhängig von Fahrstil und Streckenführung) sterbenselend wird. Um das zu vermeiden und damit das Image des Autofahrens weiter zu verbessern, sind Sie in den meisten Fällen auf Medikamente angewiesen. Nimmt der Hund mehrmals (sicher sehr erleichtert!) zur Kenntnis, dass er sich überraschenderweise nicht übergeben musste, ist das selbstredend mehr als hilfreich. Erst dann wird die Angst vor dem Autofahren wirklich langsam besser werden können.

Was für Medikamente stehen uns zur Verfügung?

In milden Fällen (aber wirklich nur in diesen) kann ein Versuch mit Ingwer unternommen werden. Ingwer wirkt bei Mensch und Hund durchaus übelkeitsunterdrückend, aber halt nicht wirklich zuverlässig. Ich empfehle gern Ingwer in Kapselform, weil leichter einzugeben, also zum Beispiel Zintona-Kapseln. Diese sollte man etwa zwei Stunden vor Fahrtantritt eingeben. Die Wirkung hält mehrere Stunden an. Wie gesagt: Einen Versuch wert, aber für viele Hunde nicht ausreichend wirksam.

Schon lange für diesen Zweck in Anwendung sind die Antihistaminika, vor allem mit den zwei bekanntesten Vertretern dieser Medikamentenklasse: Diphenhydramin und Dimenhydrinat. Die Antihistaminika sind eigentlich für die Behandlung der Kinetose eine sehr gut geeignete Möglichkeit. Neben der Unterdrückung von Übelkeit und Erbrechen wirken sie nämlich auch sedierend, was ja in diesem Zusammenhang durchaus wünschenswert sein kann. Die beiden genannten Wirkstoffe fungieren zudem auch noch als Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, was sich stimmungsaufhellend auswirken kann. Klingt gut, war auch gut!

Warum war? Wie schon in anderen Artikeln erwähnt, haben wir Tierärzte nach der sogenannten EU-Kaskadenregelung immer Medikamenten den Vorzug zu geben, die für einen bestimmten Anwendungszweck bei einer bestimmten Tierart zugelassen sind, und schon seit einigen Jahren ist mit dem Wirkstoff Maropitant ein für die Behandlung der Reisekrankheit beim Hund spezifisch zugelassenes Medikament auf dem Markt. Damit sind die Antihistaminika als First-Line-Medikament natürlich rein rechtlich aus dem Rennen. Das wäre an sich ziemlich ärgerlich, aber dankenswerterweise wirkt Maropitant ebenfalls ausgesprochen zuverlässig bzw. noch zuverlässiger gegen Erbrechen. Allerdings hat es keine sedierende Nebenwirkung und ist auch nicht gerade billig. Wie auch immer: Maropitant ist im Moment der Wirkstoff der ersten Wahl!

Zuletzt sei noch das Neuroleptikum Acepromazin erwähnt, das neben seiner ausgeprägten Sedierungswirkung ebenfalls Erbrechen effektiv unterdrückt. Ich halte diesen Wirkstoff angesichts der vorhandenen Alternativen für nicht mehr wirklich zeitgemäß. Neben den oft ausgeprägten und nicht wirklich ungefährlichen Nebenwirkungen auf die Kreislauffunktion ist es vor allem die sehr lange Wirkungsdauer, die ich abschreckend finde. Unter Acepromazin-Sedierung in den Urlaub kutschierte Hunde sind oft noch bis zum übernächsten Tag so richtig neben der Spur, und das ist ja auch nicht der Sinn der Sache. Über die Anwendung bei kürzeren Fahrten muss man unter diesen Voraussetzungen erst gar nicht diskutieren.

Ich werde mich hier jetzt nicht festlegen, welches Präparat im Einzelfall zu bevorzugen und in welcher Dosierung zu verabreichen ist. Dafür müssen Sie sich bitte an den Tierarzt Ihres Vertrauens wenden, da es ja immer auch Vorerkrankungen, Wechselwirkungen und Unverträglichkeiten individuell zu beachten gilt. Wichtig ist mir vor allem die Botschaft, dass gut wirksame und verträgliche Medikamente auf dem Markt sind, die man bei Reisekrankheit einsetzen kann und sollte! Zu Anfang der Therapie müssen solche Präparate eventuell sehr häufig gegeben werden, was zum Beispiel bei Maropitant nachweislich ohne Schaden möglich ist. Sie haben diesen Artikel nun gelesen, also ist ab jetzt jedes Mal, wenn Ihr Kinetose-Hund ins Auto spuckt, eigentlich ein absolut vermeidbarer Rückschlag und ganz allein Ihr Fehler!

Kommen wir zuletzt zur Vorbeugung, denn die ist bekanntermaßen jeder Therapie überlegen. Kann man denn überhaupt vorbeugen? Ich denke schon! Womit wir wieder bei der Frage wären, ob ich mit meinen bisherigen Hunden nur Glück oder irgendwas richtig gemacht hatte. Unser Vorteil, in dessen Genuss natürlich nicht jeder kommt, war der, dass wir unsere Hunde immer als Welpen mit 8 bis 10 Wochen zu uns geholt haben. Wir hatten (mit einer Ausnahme) immer die Möglichkeit, auf die jeweiligen Zuchtstätten insofern einzuwirken, dass schon mit den noch kleinen Welpen ganz kurze Autofahrten zu irgendeiner attraktiven Unternehmung durchgeführt wurden. Beim Abholen des jeweiligen Hundes haben wir bei der meist längeren Heimfahrt mit Adleraugen auf jedes noch so kleine Anzeichen von Unwohlsein geachtet und dann sofort die Fahrt für eine längere Pause mit Erkundung einer netten Wiese oder Waldlichtung unterbrochen. Wir haben bisher auf diese Weise noch jeden unserer Welpen ohne Kotzerei nach Hause gebracht. Dort angekommen gehören bei uns anfänglich ganz kurze, dann aber schnell länger werdende Autofahrten mit für den Hund angenehmen Zielen und jeder Menge positiver Verstärkung fest zum Alltagsprogramm.

Von Mensch und Hund gleichermaßen wissen wir, dass es für Kinetose-Patienten eine große Rolle spielen kann, wo im Auto sie sich aufhalten und wie sie sich körperlich positionieren. Ich selbst darf zum Beispiel bis heute nicht längerfristig nach hinten aus einem Auto rausschauen oder gar gegen die Fahrtrichtung sitzen. Da müssen Sie bei Ihrem Hund rumprobieren, wo er am besten klar kommt, natürlich unter Beachtung der Ladungssicherungspflicht der StVO.

Abschließend und als Fazit nochmal: Wenn Sie das Pech haben, dass Ihr Hund unter einer Kinetose leidet, MÜSSEN Sie da zweigleisig ran, nicht nur auf der Verhaltensschiene. Sie können den besten Hundetrainer der Welt engagieren, aber das hilft alles nix, wenn dem Hund unweigerlich nach fünf Minuten Fahrt kotzübel wird. Wenn Sie da keine zuverlässig wirksamen Medikamente einsetzen, wird der Versuch einer alleinigen Verhaltenstherapie scheitern. Umgekehrt wird aber auch ein Schuh draus: Ohne verhaltenstherapeutische Begleitung ist die alleinige Anwendung der genannten Medikamente ungefähr so sinnvoll wie die Reparatur einer schadhaften Autobahnbrücke mit Moltofill!

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

 

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm

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