Von Ralph Rückert, Tierarzt
Der erste Teil meiner Serie über bösartige Kunden und den gar nicht zu unterschätzenden Schaden, die sie dem Einzelnen und dem tiermedizinischen System im Ganzen zufügen, endete mit dem Zitat einer Tiermedizinstudentin, in dem klar zum Ausdruck kommt, dass diese junge Kollegin sich schon jetzt, knapp vor dem Ende ihres Studiums, vor ihrem zukünftigen Berufsalltag fürchtet. Sie hat Angst! Und das in einer Lebensphase, in der sie sich eigentlich mit Fug und Recht wie Bolle freuen sollte, dass sie jetzt dann bald dieses knallharte Studium hinter sich haben und in ihrem gewählten Beruf loslegen können wird. Als Tierarzt aus einer anderen Generation, einer Generation vor Internet-Shitstorms, vor Bewertungsportalen, in denen sich noch der letzte grenzdebile Maulheld fast beliebig Luft machen kann, vor der heute üblichen Verrohung des zwischenmenschlichen Umgangs, finde ich das unbeschreiblich traurig.
Zu Anfang wollte ich eigentlich nur über das im ersten Teil beschriebene und empörende Ereignis schreiben. Der Kommentar der jungen Kollegin hat mich aber dazu gebracht, mich weiter mit diesem Thema auseinander zu setzen, so dass ich für die Aufarbeitung jetzt wohl drei Artikel benötigen werde. Für diesen Teil habe ich über die sozialen Medien viele Kolleginnen und Kollegen gefragt, ob es Ereignisse mit Kunden gibt, die sie als praktizierende TiermedizinerInnen dauerhaft verändert oder gar beschädigt haben. Liest man alles, was ich als Antworten erhalten habe, in Folge durch, hat man danach das dringende Bedürfnis nach Alkohol oder Antidepressiva. Für unsere Zwecke sollen uns ein paar schlaglichtartige Zitate genügen. Keine Angst, sehr, sehr lang (wie in meinem Blog meistens) wird es trotzdem. Einige Zitate wurden von mir zwecks besserer Lesbarkeit leicht verändert oder gekürzt.
Steigen wir doch ruhig gleich mal ganz oben ein, beim Schlimmsten überhaupt. Die Tiermedizin ist inzwischen ein vorwiegend weiblicher Beruf, es stehen also mehr und mehr Frauen direkt an der Front, auch nachts und am Wochenende. Viele dieser Kolleginnen haben inzwischen durch eigene Erfahrungen oder aufgrund der Erlebnisse anderer eine für mich sehr verständliche Angst vor sexuell motivierten Übergriffen, Gewalt und Bedrohung.
„Polizeibekannter Kunde verklagt mich zuerst haltlos (wegen eines Fundkaninchens!) auf Schadenersatz und passt mich unmittelbar nach dem klar verlorenen Prozess auf dem Parkplatz hinter der Praxis ab, knallt mich (in der 24.Schwangerschaftswoche) mit einem Judogriff auf den Asphalt, würgt mich, fixiert mich mit Knie im Bauch am Boden und fügt mir eine Tibiakopffraktur zu.“
„Also wir hatten Notdienst, ich, eine Tierpflegerin und irgendein Student. Es war viel zu tun und irgendwann hatten wir den letzten Hund abgefertigt. Ein Hund mit einer infizierten Bissverletzung. Der Besitzer hatte geduldig gewartet und war ein ganz netter, freundlicher Typ. Wir sind dann alle zusammen zu dem Ausgang gegangen. Es war draußen stockdunkel, und ich Trottel sag zu der Pflegerin und dem Studenten, sie sollten schon mal zur Station vorgehen, um dort die Patienten zu machen. Ich wollte eben den Mann mit Hund rauslassen. Die beiden gehen zur Station und verschwinden im Dunkeln auch hinter so einer großen Tür. Ich lasse den Mann raus und muss erst Tür 1 und dann Tür 2 aufschließen. Als die zweite Tür auf ist, packt mich der Typ mit einer Hand wie mit einem Schraubstock und mit der zweiten Hand ist er gefühlt überall, aber unter den Klamotten. Wir waren da in dem Zwischenraum allein und haben ein Ringkämpfchen gemacht mit Treten, Beißen und Haarereißen, und ich hab gehofft, dass noch ein Notfall kommt oder die Kollegen aus der Pferdeklinik zufällig rausgucken. Aber es war niemand da. Scheißsituation. Der Typ hat mich dann aber plötzlich losgelassen und ist weggegangen. Mir ist weiter nichts passiert aber ich weigere mich bis heute alleine Notdienst zu machen. (…) Ich mach nichts mehr allein. Darum ist es auch teurer und muss teurer sein.“
„Wir hatten einen Typ, dem hat es nicht gepasst, dass wir seinem Hund einen Maulkorb aufsetzen mussten. Er ist sehr ausfällig geworden, und da wir ihn darauf der Praxis verwiesen haben, hat er sich zu meinem Ohr runter gebeugt und geflüstert: Dich treffe ich draussen schon noch!“
„Mir wurden in Notdienst Schläge wegen 80!!!! Euro angedroht (war noch vor Notdienstgebühr). Ich war ganz allein in der Praxis, Besitzerin hatte auf Anmeldeformular unterschrieben, dass im Anschluss an die Behandlung bezahlt werden muss. Ist dann völlig ausgeflippt und hat mit Schlägen gedroht. Seitdem mache ich keinen Notdienst mehr.“
„Tierklinik (nicht aktuelle Arbeitsstelle). Ein lauschiger Abend mit bisher drei Magendrehungen. Zwei davon parallel gerade auf dem Tisch. Haustierarzt überweist Hund mit Dyspnoe (Anmerkung: Atemnot). TFA (Anmerkung: Tiermedizinische Fachangestellte) hat Hund angeschaut, Schleimhäute rosa (Anmerkung: Spricht gegen Atemnot), und ins Wartezimmer gesetzt (ca. noch 10 wartende Notfälle… oder auch Nichtnotfälle). Hund verschlechtert sich und TFA zieht Hund vor. Türkischstämmiger Kollege diagnostiziert die vierte Magendrehung des Abends. Hund verstirbt in Narkose. Besitzer schreit im Wartezimmer: Ich fahre jetzt nach Hause, komme wieder und schieße dem Türken in den Kopf und die Chirurgin steche ich ab! Haustierarzt informiert – dieser hatte gerade die Drohung bekommen, dass seine Praxis wegen Fehldiagnose brennen werde.“
„Ich hatte mal wieder Notdienst. Ohne vorherigen Anruf standen zwei Typen vor der Tür mit einem kleinen Hund auf dem Arm. Beide kamen direkt in das Behandlungszimmer, da es die Situation und die Schilderung der beiden erforderte. Meine TFA (Anmerkung: Tiermedizinische Fachangestellte) war auf der überfüllten Station und wollte gleich zu mir stoßen, was sich aber dann wegen eines krampfenden Epileptikers leider verzögerte. Schon die Anamneseerhebung verlief holprig. Die beiden relativ breit gebauten Männer (es stellte sich raus, dass es sich um Vater und Sohn handelte) kicherten wie kleine Schulmädchen, was ich auf ihre deutlich wahrnehmbare Fahne zurückführte. Schließlich bei der Untersuchung angekommen, versuchte der kleine panische Hund immer wieder vom Tisch herunter zu kommen – Hilfe konnte ich von den beiden Besitzern nicht erwarten. Um zu verhindern, dass der Hund vom Tisch springt, musste ich mich quer über den Tisch beugen. Da bemerkte ich die Hand des Vaters an meinem Gesäß. Ich drehte mich um und sagte forsch „Ich hoffe, das war nur ein Versehen!“. Der Sohn fing an zu lachen, der Vater entgegnete „Na, wenn es sich so anbietet, kann ich für nichts garantieren!“. Nun die typische Zwickmühle: Werde ich zu schnell zu sauer, spornt das die beiden vielleicht sogar noch an. Körperlich hätte ich allein natürlich keine Chance gegen die beiden gehabt. Immer im Hinterkopf die Hoffnung, dass meine TFA nun endlich nach vorne kommt oder vielleicht doch nicht, damit sie sich nicht in Gefahr begibt?! Der Gedanke, ob der Griff zum Telefon von den beiden toleriert werden würde … Das Gelächter der beiden hielt an. Ich wies sie an, sofort das Gebäude zu verlassen! Gleichzeitig machte ich zwei große Schritte Richtung Tür und verließ den Raum zügig Richtung Anmeldung und schloss die Tür hinter mir. Mit dem Finger auf dem Alarmknopf unterm Tresen und der vorgewählten 110 auf dem Telefon, hörte ich die beiden aus dem Behandlungszimmer kommen. Mit den typischen Sprüchen à la „Stell dich nicht so an!“, „bist doch selber Schuld!“, „es hätte dir mit Sicherheit auch gefallen!“ verließen die beiden zum Glück das Gebäude. Tja und da steht man nun. Keine Daten der beiden Arschgeigen, nicht mal das Nummernschild. Nein, es ist nichts „Schlimmes“ passiert. Ich wurde nicht vergewaltigt, und diese unangenehme Situation war nur von kurzer Dauer. Dennoch hielten das Unbehagen, die Angst vor einem erneutem Auftauchen der beiden und das dringende Bedürfnis zu duschen die gesamte Nachtschicht an. Kurz zu denen die sagen „Naja, war ja nicht so schlimm. Die soll sich mal nicht so anstellen!“: Verstehen werdet ihr es erst, wenn ihr eine solche Ohnmachtssituation selber einmal erlebt habt (was ich keinem wünsche!). Und nein, ich bin mit meinen knapp 1,80m, meiner relativ sportlichen Figur und meinem Selbstbewusstsein kein „typisches Opfer“, wie manche das vielleicht erklären wollen.“
Das waren jetzt nur fünf, sechs Zitate aus einer Vielzahl von Berichten, die mir auf meine Frage hin mitgeteilt wurden, und es waren keineswegs die schlimmsten, weil gerade die sich oft unter ganz spezifischen Umständen abgespielt haben, die bei Veröffentlichung ein eventuelles Wiedererkennen ermöglichen würden und eine neue Gefährdung provozieren könnten. Ist aber egal, muss ja hier kein Horrorwettbewerb werden. Mir geht es darum, dass Sie – die Sie höchstwahrscheinlich zu den 99 Prozent der Kunden zählen, denen sowas nie im Leben auch nur in den Sinn kommen würde – verstehen, unter welchem Druck man heutzutage als Helfer (und da spielt es offenbar keine Rolle, ob es um den Rettungsdienst, die Feuerwehr, die Human- oder die Tiermedizin geht) steht, wenn man neben seiner sowieso nicht einfachen Aufgabe, die eigentlich die volle Konzentration erfordert, auch noch mit sexuell motivierten oder gewalttätigen Übergriffen rechnen muss.
Es glaube bitte keine(r), dass das seltene oder exotische Ereignisse wären. Bedrohungen, Gewalt und sexuell motivierte Übergriffe haben in den letzten zehn Jahren gefühlt stark zugenommen. Noch schlimmer ist diese Tendenz allerdings bezüglich dessen, was ich als psychische Gewalt bezeichnen würde. Viele der Kolleginnen und Kollegen, die ihre Erlebnisse beschrieben haben, stellen eine als enorm belastend wahrgenommene Verrohung im zwischenmenschlichen Umgang fest. Wieder ein paar wenige Beispiele:
„Es ist ja zum Teil fast schon üblich, dass man von Kunden angebrüllt und beschimpft wird. Weil man nicht sofort da ist, weil man zur Euthanasie rät, weil man nicht einfach so einschläfern will, weil man es nicht umsonst macht … es gibt tausend Gründe.“
„Neuer Vogel aus der Zoohandlung war dann krank. Ich sei schuld, weil er sich bestimmt beim Erstvogel angesteckt hätte. Sollte Hausbesuch machen, um den Vogel einzufangen, damit wir schuld seien. wenn der stirbt. Als ich mich geweigert habe, wurde meine TFA als „behinderte Fotze“ bezeichnet am Telefon und ich als „feige Sau“, weil ich ja nicht selbst ans Telefon gegangen bin, sondern die TFA. Und wenn ich das so alles lese, weiß ich, warum ich langsam echt müde werde von dem Job und das wahrscheinlich auch nicht ewig machen kann …“
„Nichtzahler kommt in übervolles Wartezimmer, möchte mit Chef sprechen, dieser wollte diesen Mann in Behandlungsraum begleiten, um dort weiter zu diskutieren. Besagter Mann nimmt die Rechnung, zerfetzt sie vor seinen Augen, wirft die Schnipsel auf den Boden und spuckt meinem Kollegen ins Gesicht.“
„Der volljährige Sohn brachte die Katze vorbei und holte sie auch wieder ab und bat, die Rechnung seiner Mutter zuzustellen. Gesagt, getan, die Mutter weigerte sich aber, die Rechnung zu zahlen, denn ihr Sohn habe diese doch bei Abholung der Katze beglichen mit dem Geld, das sie ihm mitgegeben hatte. Hatte er aber nicht, also bestand ich auf Bezahlung. Sie kam dann entrüstet selbst in der Praxis vorbei, um mich zu beschimpfen, und da ich zu dem Zeitpunkt gerade sichtbar schwanger war, wünschte sie mir, ich möge das Baby lieber heute als morgen verlieren.“
Speziell beim letzten Beispiel stockt mir persönlich fast der Atem. Eine Frau, eine Mutter, wünscht einer anderen Frau, dass sie ihr ungeborenes Kind verlieren möge, und das wegen einer kleinen Tierarztrechnung! Und solche Ungeheuerlichkeiten kommen durchaus immer wieder mal von Leuten, die nicht etwa von vornherein einen völlig asozialen oder abnormen Eindruck machen. Die wirken ganz zivilisiert und nett, aber nur genau so lang, bis irgendwas nicht perfekt so läuft, wie sie es sich vorstellen. Dann brechen schlagartig buchstäblich alle Dämme, und diese Leute entpuppen sich als echte Monster, die man für solche Formen psychischer Gewalt eigentlich gleich mal einsperren müsste.
Machen wir uns nichts vor: Ich bin privilegiert! Ich bin ein Mann, 61 Jahre alt, mit weißem Bart und Lesebrille, 1,86 Meter groß und mehr oder weniger das, was man als tiermedizinischen „Silberrücken-Gorilla“ bezeichnen könnte. Was sexuell motivierte Übergriffe angeht, bin ich damit natürlich von vornherein so ziemlich raus. Auch Bedrohungen mit körperlicher Gewalt habe ich all die Jahre nur als absolute Ausnahmefälle erfahren. Aber mir läuft es kalt den Rücken runter, wenn ich mir vorstelle, was der überwiegend weibliche und eventuell noch unerfahrene Nachwuchs in unserem Beruf im Alltag inzwischen so alles aushalten muss.
Wovon wir alle miteinander, ob weiblich oder männlich, ob jung oder alt, tagtäglich betroffen sind, ist die inzwischen übliche und völlig pervertierte Bewertungs-, Shitstorm- und Existenzvernichtungs-„Kultur“. Wie so was im Einzelfall unter Zuhilfenahme von Lügen, Halbwahrheiten und Auslassungen mit eventueller Assistenz durch gewissenlose Zeitungsschreiberlinge inszeniert wird, habe ich ja im ersten Teil meiner Artikelserie näher beleuchtet, aber lassen Sie mich noch ein paar Zitate zu diesem Thema bringen.
„Familie mit Teenager-Kindern, alte Hündin mit einer Pyo (Anmerkung: Tiermedizinischer Slang für „Pyometra“, also Gebärmuttervereiterung) und noch ein paar Baustellen mehr. Großes Drama, OP oder nicht, sie wollen sich beraten. Am nächsten Tag kommen die Eltern und lassen die Hündin einschläfern (war wirklich okay aufgrund der vielen Baustellen). Monate später, wir haben gerade eine Schülerpraktikantin und eine Pyo-OP, sie fragt, ob diese Hündin das denn überleben wird, weil doch die Hündin der Familie XY die OP nicht überlebt hat…..?????…. Ja, der Sohn der Familie hat ihr erzählt, dass die Eltern die Hündin operieren lassen haben, und sie sei bei uns auf dem Tisch geblieben (Anmerkung: Medizinischer Slang für „Exitus in tabula“, also das Versterben während einer Operation). Da hatten doch diese feigen Eltern, die das Geld für die OP nicht mehr ausgeben wollten und das vor ihren Kindern nicht zugeben wollten, den Teenies ein Lügenmärchen über eine bei uns missglückte OP aufgetischt und die Kids haben das fröhlich auf dem örtlichen Gymnasium rumerzählt (wussten es ja nicht besser). So schnell habe ich selten zum Telefonhörer gegriffen und das Wort Verleumdungsklage durch den Hörer gebrüllt.“
„Anruf Montagabend 17 Uhr bei meiner Auszubildenden (die melden sich auch so!) im 1. Lehrjahr. Hund hat seit 2 Monaten (!) einen Knubbel am Rücken, den er bitte anschauen lassen möchte. Nach Rückfrage mit meiner Ersthelferin einen Termin am Mittwoch Vormittag angeboten – BRÜLLT DER MANN MEINE HELFERIN AM TELEFON AN, dass es ja eine Unverschämtheit wäre, so lange auf einen Termin warten zu müssen etc, legt dann auf. Kurz danach eine 1-Sterne-Bewertung mit dem sinngemäßen Text: unmögliche Praxis, Hund mit Knubbel am Rücken, man würde sich ja Sorgen machen und zum Glück gibt es andere Tierärzte, die den Hund GLEICH angeschaut haben und SIE BERUHIGEN KONNTEN, DASS ES NICHTS SCHLIMMES WAR!“
„Hatte in meinem ersten Berufsjahr nachts Notdienst in einer kleinen Praxis und habe im Hotel übernachtet, da ich zu weit weg gewohnt habe. Bin dann immer mit dem Fahrrad in die Praxis gefahren, ca. 10 Minuten. Eine Besitzerin rief nachts an, dass ihr Hund heute Mittag schon beim Haustierarzt war (Kardiomyopathie im Endstadium), jetzt der Hund in Seitenlage läge und ich sofort kommen solle, ihn retten. Ich sagte, dass ich kein Auto hätte und auch wegen Rufbereitschaft nicht weg dürfte und sie bitte kommen sollen, da ich in der Praxis mehr Möglichkeiten habe. Nach ewiger Diskussion sagten sie stinksauer, sie würden kommen… Als sie ankamen war der Hund in Totenstarre. Ich versuchte, die Besitzer zu beruhigen, und erklärte wie leid mir das täte, aber dass ich sicher auch vor Ort nichts mehr hätte machen können… Sie schrien mich an, warum ich ihn nicht abhören würde (kalter, starrer Hund!). Ich tat dies dann einfach so, damit sie Ruhe geben. Am übernächsten Tag gab es einen Zeitungsartikel mit Beschuldigungen und Verurteilung meines angeblich schlechten Handelns (nicht abgehört!), der sich gewaschen hatte… Natürlich hatte die Redaktion sich vorher nicht bei mir erkundigt… Das hat mich auch erst mal stark zurückgeworfen, und man hat Angst, irgendwas falsch zu machen, aber mittlerweile versuche ich, solche Vorfälle von mir weg zu schieben.“
„Und eine andere Kundin stand ohne Termin mit ihrem seit langem kranken Frettchen in der Praxis. Ich war gerade im OP und hab um das Leben einer verunfallten Katze gekämpft, die wild geblutet hat. Sie musste also ca. 1/2 Stunde warten, bis ich mich kümmern konnte. Habe das Frettchen eingeschläfert, weil der inzwischen faustgroße Tumor jetzt ulzeriert war. In der Praxis noch alles nett und freundlich abgelaufen. Ab dem Nachmittag dann ein Mega-Shitstorm im betrunkenen Zustand, schlechte Bewertungen auf wirklich allen Foren, die möglich waren, und per WhatsApp und SMS, nächtlicher Telefonterror etc. Bekomme selbst jetzt noch immer mal Droh-SMS an mich UND meinen Mann gerichtet auf die Festnetznummer der Praxis mit den Worten: „ich werde dass nie vergessen“ und so, echt gruselig.“
„Aber die größte Angst besteht tatsächlich vor Rufmord im Netz. So gab es einen Anruf bei meinem Kollegen, 4 Uhr früh, Katze Durchfall. Hat schon so angefangen, dass gefragt wurde, ob man ihn aufgeweckt hätte: Nona! (Anmerkung: Österreichisch für „Na, was denkst du denn?“). Dann nach kurzem Telefonat entschieden, gleich um 8 Uhr zu kommen. Katze hatte anscheinend anderes Problem, ist verstorben, und in allen Hundeforen unseres Bundeslandes wurde negativ gepostet und tatsächlich dazu aufgerufen, es gleich zu tun. Und natürlich findet sich der eine oder andere, dem die Rechnung nicht bekommen ist, etc., und der dann voll drauf eingestiegen ist. Es wurde unter anderem sogar unterstellt, man habe einen Katzenwelpen deshalb eingeschläfert (tatsächlich hatte er bereits Schnappatmung und war mehr drüben als da), nur um weiter schlafen zu können???!!! Man hat eine Angestellte in einem anderen Bundesland auf einer Fortbildung darauf angesprochen, was denn bei uns los sei. Auch haben Besitzer bei Anruf auf der Notrufnummer, als sie hörten, bei wem sie sind, gesagt, hier würden sie nicht hinkommen. Es hat tatsächlich weite Kreise gezogen. Besagte Verursacherin hat eine Anzeige bekommen und musste eine Unterlassungserklärung unterschreiben, sollte durch sie wieder was auftauchen (wie soll man das kontrollieren), würde sie eine Strafe bekommen. Tatsächlich hat aber ihre Hetzkampagne bereits Tausende von Menschen erreicht. Das bringt schlaflose Nächte, Bauchschmerzen und tatsächlich Existenzängste. Wir sind gut und wir sind nett und professionell und haben so viele Kunden wie nie zuvor, aber diese Phase vor ca. 3 Jahren war bestimmt nicht angenehm.“
Wie gesagt: Diesen Scheiß kennen wir alle! Mit einem gelegentlichen „Zu teuer, da geht es nur ums Geld, nicht ums Tier“ und anderen stereotypen und wenig originellen Kritiken kann jeder von uns locker leben. Aber nach (nicht nur) meiner Einschätzung gilt bei wirklich rufschädigenden Negativbewertungen – und zwar um so mehr, je ausführlicher sie formuliert sind – der berühmte Grundsatz von Dr. House: Everybody lies!
Haben die weiter oben geschilderten und oft hochdramatischen sexuellen oder gewalttätigen Übergriffe das Potential, bei den Betroffenen schon mit einem einzigen solchen Ereignis permanenten und lebensverändernden Schaden anzurichten, so geht es bezüglich solcher übler und verlogener Nachreden eher um eine Art von intermittierendem Störfeuer, vor dem man sich zu keinem Zeitpunkt sicher fühlen kann und das sich bei nicht ganz perfekter Resilienz (landläufig auch „dicke Haut“ genannt) als extrem zermürbend erweisen kann. Reden wir nicht lang drum herum: Shitstorms können im schlimmsten Fall Existenzen vernichten und tatsächlich Menschen dazu bringen, sich das Leben zu nehmen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass TiermedizinerInnen die höchste Suizidrate ALLER Berufe zu verzeichnen haben, und zwar in etwa drei- bis viermal so hoch wie die Normalbevölkerung. Wird diese Tatsache in Netzdiskussionen erwähnt, kann man regelmäßig ohne lange Verzögerung verrohte und unmenschliche Kommentare wie diesen lesen: „Wenn man das nicht aushält, kann ich nur sagen: Falsche Berufswahl!“. Nein, wenn sich eine Tierärztin oder ein Tierarzt wegen einer oder mehrerer erlittener Verleumdungskampagnen umbringt, dann liegt das nicht an einem Fehler bei der Berufswahl. Wir haben diesen Beruf ergriffen, um Tieren zu helfen. Dass es da draußen tatsächlich Leute gibt, die nicht das geringste Problem damit haben, wenn sie mit ihren hemmungslosen Lügengeschichten und unqualifizierten Anschuldigungen Existenzen, Arbeitsplätze und Leben zerstören, hat uns vorher wirklich keiner gesagt. Damit muss man sehr, sehr mühsam umzugehen lernen, und das schaffen beileibe nicht alle. Mehr oder weniger schlimm beschädigt werden wir alle durch dieses schleichende Gift, auch bei ausgeprägter Resilienz, und sei es nur, dass man mit den Jahren immer härter, kompromissloser, zynischer und misanthropischer wird.
Es ist noch nicht mal so, dass es an Zuspruch, Lob und Anerkennung der normalen bzw. der netten Kunden fehlen würde, aber leider braucht man nur sehr, sehr wenig Arsen, um eine wunderschöne, große Schwarzwälder Kirschtorte zu vergiften.
„Ich finde eine gewisse (gesunde) Ernüchterung und Distanziertheit beschreibt es ganz gut. Ich bin normalerweise sehr empathisch und schaue da bei Euthanasie oder Beratungen bei schwierigeren Entscheidungen nicht auf die Uhr, das hat sich definitiv verändert. Ich arbeite nicht mehr, wenn ich krank bin, ich gehe, wenn ich mir was fix vorgenommen hab. Sprich, ich würde eben nicht mehr alles für den Beruf tun oder stehen und liegen lassen. Ich spreche Geld nun immer direkt und sofort an, und dann auch eher den ausgedehnten Rahmen, sowie die Zahlungsmodalitäten, was schon manchen aufstößt. Ich spreche mehr über Komplikationen. Und ich bin wesentlich zurückhaltender geworden, was persönliche Äußerungen und Nähe zu Patienten betrifft. Viele wollen Empathie und Nettigkeit und persönliche Einfärbung, wenn aber was nicht läuft wie erwartet (v.a. finanziell), dann isses vorbei mit der Freundlichkeit. Man könnte also sagen, ich habe das Herzblut zurückgeschraubt und lasse mich nicht mehr zu sehr persönlich auf jeden Patienten ein. Nicht immer, man hat ja auch einfach tolle Kunden, aber deutlich weniger als noch vor 10 Jahren. Is schade, aber ich will mich nicht ständig angreifbar machen.“
„Ich kenne viele Kollegen/innen, die oft darüber nachdenken, etwas völlig anderes zu machen. Allein die Angst vor schlechten Bewertungen reicht aus, um mehrfach darüber nachzudenken, wieso man sich das alles gibt. Ich bin erst 5 Jahre in dem Beruf, und dennoch zermürbt es einen. Jede Situation, jede Euthanasie nehme ich mit nach Hause und lasse sie Revue passieren, umso schlimmer sind dann negative Kommentare, die teilweise sehr beleidigend sind und zum großen Teil so nicht der Wahrheit entsprechen. Oft habe ich mir schon vor Verzweiflung andere Stellen herausgesucht, doch die Arbeit mit den Tieren ist einfach das, was ich schon immer machen wollte. Fazit: Die Arbeit würde deutlich mehr Spaß machen, wenn die Menschen nicht wären.“
„Ich war mal eine empathische junge Frau, die gerne beruflich wie privat geholfen hat … nach 15 Jahren Tierarzt habe ich eine exzellente Rechtsschutzversicherung, keinen Not- oder WE-Dienst mehr, es wird jede Kleinigkeit voll abgerechnet, alles muss unterschrieben werden etc. Bei uns gibt es zu wenig Tierärzte, die Klinik ums Eck hat den Klinikstatus abgegeben, d.h. es gibt keinen Nachtdienst mehr, sie müssen in der Nacht in die Stadt fahren. Wenn wer über Preise mault, kann er ja gehen. Wenn ich mitbekomme, dass wer im Internet schimpft, wird er verklagt.“
„Eine Welt…. NEIN, meine ganze Welt ist vor mir zusammengebrochen…… Heute weiß ich, ich war zu höflich….. Ich bin zu höflich. Klar hätte ich nicht alleine als Anfänger den Patienten übernehmen dürfen, klar hätten wir einiges besser machen können. Aber… nach diesem Ereignis war der Job nicht mehr der Job, den ich leben wollte. Bestimmt war ich depressiv und habs nur nicht gecheckt. Hatt einige Kilo weniger. Erst Jahre danach merkte ich, wie sehr mich dieser Abend geprägt hat. Ich wollte raus aus der Klinik, ab in die Pharma, Schlachthaus, Hauptsache weg von den Menschen, rein in die Wissenschaft …“
„Mein Mann und ich haben seit 19xx eine Kleintierpraxis. Auch für uns war und ist sicherlich nie der finanzielle Aspekt im Vordergrund. Mein Mann war immer ein sehr guter Chirurg, mit viel Freude am Beruf. Er hat nach seinem Studium sechs Jahre an großen Kliniken gearbeitet, darunter vier Jahre in XX (Anmerkung: Bekannte Großstadtklinik). Nach einer ähnlichen Hexenjagd durch unzufriedene Kunden hat er komplett sein Selbstvertrauen und die Freude an der Arbeit verloren und operiert inzwischen nicht mehr. Ich selbst hatte vor x Jahren einen Burn-Out mit totalem Zusammenbruch und anschließendem Klinikaufenthalt.“
Im Rahmen dieses Artikels konnte ich nur wenige der vielen Berichte und Kommentare, die mich erreicht haben, verarbeiten. Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen, die sich die Mühe gemacht haben, mir ihre oftmals sehr berührenden Erlebnisse zu schildern.
Ein Zitat habe ich mir bis zum Ende und als Überleitung zum dritten Teil der Serie aufgehoben. Es stammt von einem Kollegen, der in meinen Augen zur Elite der praktizierenden Tierärzte in Deutschland gehört, ein sehr kompetenter und erfahrener Mann, im absolut positiven Sinne sorgfältig wie ein Finanzbuchhalter und zäh wie ein Pitbull, wenn es darum geht, seinen Patienten zu helfen. Ich hatte wie er das Glück, nie von einem dramatischen Einzelerlebnis mit bösartigen Kunden dauerhaft beschädigt worden zu sein, aber diese Beschreibung seiner Gefühlslage kann ich voll und ganz unterschreiben:
„Ich persönlich nehme – wie alle hier – für mich in Anspruch, dass ich nach der besten Lösung für den Patienten und dessen Besitzer suche. Kein einziger Patient ist mir egal und keine Sorge des Besitzers zu gering. Deswegen steckt in jeder Beratung und jeder Behandlung ein wenig Herzblut. Mein Unternehmen ist auf diesen Werten gegründet, und dieser Anspruch fließt durch alle Mitarbeiter wie das Blut durch den Körper – unsichtbar, aber lebensnotwendig. Daher ist es für mich unerträglich, mit welcher Leichtfertigkeit heutzutage vereinzelte Kunden Hand an die Seele der Tierärzte, deren Mitarbeiter und die tierärztlichen Unternehmen legen und mit welcher Überheblichkeit tierärztliche Arbeit unqualifiziert bewertet und damit spielerisch die Existenz ganzer Familien – der Inhaber der Praxen, als auch der dort angestellten Mitarbeiter – leichtfertig durch provozierte Shitstorms und gezielten Aufruf zum Diskreditieren gefährdet wird. Sogar die Berufsunfähigkeit, bis hin zum Selbstmord der Tierärzte, wird offenbar ohne Gespür für die Auswirkung solcher Aktionen in Kauf genommen. Das, was ich als Kind noch unter „Anstand“ kennen und schätzen gelernt habe, ist bei manchen Menschen völlig verloren gegangen. Und diese Situation – die Gefahr, dass irgend jemand wegen Belanglosigkeiten oder verletzten Eitelkeiten, aus purem Egoismus, den physischen oder psychischen Untergang einer Person oder eines Unternehmens in Kauf nimmt – ja, das macht mir Sorge und Angst. Über die tatsächliche Qualität meiner Arbeit mache ich mir ehrlich gesagt keine Sorgen. Aber dieses tagtägliche, unkalkulierbare Risiko macht mir mal mehr und mal weniger zu schaffen.“
Wie sich in einigen der Zitate schon andeutet, hat das „schleichende Gift“ nicht nur sehr bedenkliche Auswirkungen auf uns praktizierende TiermedizinerInnen, sondern als Feedback-Effekt auch auf Sie, die Tierbesitzer, die Kunden, die Sie zum allergrößten Teil noch nicht mal schuld sind an dieser Entwicklung. Damit und mit der Frage, ob Sie als gute und wohlwollende Kunden etwas gegen diese Misere tun können, werde ich mich im dritten Teil der Serie mit dem Titel „Am Wendepunkt“ auseinandersetzen.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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