Von Ralph Rückert, Tierarzt
Das Universum der wissenschaftlichen (Tier-)Medizin ist beängstigend groß und dehnt sich mit rasanter Geschwindigkeit aus. Für uns Mediziner ist das ein echtes Problem. Wirklich und permanent am Ball zu bleiben, keine neuen, für unsere Patienten relevanten Entwicklungen zu versäumen, ist eine kraftraubende Anstrengung, an der man manchmal schier verzweifeln kann und am Ende der Karriere meist tatsächlich verzweifelt, weil einem mit zunehmender Erfahrung immer klarer wird, was man alles noch nicht weiß und auch nie wissen wird. Jede(r) reagiert auf ihre/seine Weise auf diese Herausforderung. Manche ruinieren sich, ihre Gesundheit, ihre Familien, ihre Beziehungen, und schaffen es trotzdem, als an beiden Enden brennende Kerzen zu unser aller Nutzen Licht ins Dunkle zu bringen und herausragende Arbeit zu leisten. Die meisten von uns versuchen mehr oder minder erfolgreich, unter Beibehaltung einer wenigstens halbwegs vernünftigen Work-Life-Balance ihren Patienten gute (Tier-)Ärzt:innen zu sein und zu bleiben. Einige (zu viele!) verzweifeln, scheitern, nehmen sich das Leben, landen in der Psychiatrie.
Und dann gibt es noch die, die – meist recht früh in ihrer Karriere – einfach desertieren, sich in Feigheit vor dem Feind aus dem gewaltigen Universum der Wissenschaft davonstehlen und sich in ein warmes, gemütliches, kleines Loch verkriechen, von dem aus sie die unzähligen, kalt leuchtenden Sterne wissenschaftlicher Erkenntnis endlich nicht mehr sehen müssen. Dieses Loch hat viele Namen: Alternativmedizin, Komplementärmedizin, Integrative Medizin, Homöopathie, Bioresonanz, Tierkommunikation, usw. und so fort! In Wirklichkeit geht es bei diesem Loch eigentlich eher um einen Abgrund, nämlich den der Quacksalberei und der Kurpfuscherei auf Kosten der Patienten.
Warum ist dieses Schlupfloch so gemütlich, so ungeheuer attraktiv für die, deren Resilienz, deren Fleiß und deren Hartnäckigkeit für ein Leben in und mit der evidenzbasierten (Tier-)Medizin einfach nicht ausreichen?
-Zum einen kommt der rein theoretische Unterbau pseudomedizinischer Verfahren, so verschwurbelt-kompliziert er den nichtsahnenden Laien auch dargestellt werden mag, gerade mal auf einen Lernumfang, den sich durchschnittliche Tiermedizinstudent:innen in ein paar Wochen Semesterferien reinzuziehen in der Lage wären. Das ist also im Vergleich zu dem, vor dem man davongelaufen ist, sehr, sehr überschaubar, zumal es bei definitiv wirkungslosen Methoden ja auch völlig egal ist, ob man gut oder schlecht, viel oder wenig lernt. Sitzt man in einem Auto ohne Motor, spielen fahrerische Fähigkeiten nun mal nicht die geringste Rolle.
-Zum zweiten ist die Welt der Pseudomedizin statisch, völlig in sich geschlossen. Es tut sich rein gar nichts, in der Homöopathie seit nun über 200 Jahren. Was sollte sich auch tun? In einer Pseudowissenschaft kann es – wenn überhaupt – nur Pseudoforschung und Pseudoentwicklung geben, die man getrost ignorieren kann. Um wieder das gleiche Bild zu bemühen: Ein Auto ohne Motor hat nichts von einem Software-Update oder neuen Reifen. Stetige anstrengende und teure Weiterbildung, wie sie die wissenschaftlichen Mediziner:innen ihr ganzes Leben begleitet, ist schlicht nicht erforderlich.
-Zum dritten herrscht in fast allen Alternativverfahren ein striktes Schuldprinzip, meist zu Lasten des Patienten und/oder seiner Vorbehandler, soll heißen: Eine schicksalshafte Erkrankung gibt es nicht, irgendwas oder irgendwer ist immer schuld, nie und auf gar keinen Fall aber der alternativmedizinische Therapeut oder das angewandte Verfahren. Gleich als erstes wird der Patient mal schnell als „austherapiert“ (eine typische pseudomedizinische Vokabel) tituliert. Dann ist man – wenn doch noch Selbstheilung unter Globuli-Gabe eintritt – auf jeden Fall der Held. Klappt das nicht, kann man die Schuld locker auf die verblendeten „Schulmediziner“ schieben, die den Karren angeblich in den Dreck gefahren haben. Und geht mal was so richtig in die Hose, hat man immer noch die Quacksalber-Vollkaskopolice „Erstverschlechterung“ in der Hinterhand.
-Viertens zieht man sich sehr schön aus der Affäre, was die nervenzerfetzenden High-Risk-Bereiche der Medizin angeht. In der kuschligen Welt der Pseudomedizin gibt es keine Operationen oder internistischen Intensivbehandlungen, bei denen das Leben der Patienten auf Messers Schneide steht, wo dir als Arzt ständig der Tod über die Schulter schaut und auf den einen Fehler wartet.
-Fünftens steht man nicht mehr – wie in der Wissenschaft nun mal üblich – unter permanenter Beobachtung und in der Kritik der Peer Group, der Kolleginnen und Kollegen. In der wissenschaftlichen Medizin muss man sich ständig rechtfertigen, ob als Praktiker oder als Forscher, denn Fehlleistungen sind meist beweisbar. In einem System jedoch, wo nichts, aber auch gar nichts beweisbar ist und sowieso jeder einfach sein Ding durchzieht, fällt dieser hässliche Druck komplett weg. Dass sich Homöopath:innen gern mal zum Zeitvertreib gegenseitig die Augen auskratzen, wenn ihre Ansichten ein, zwei Verdünnungsstufen auseinander liegen, ist im Vergleich zur ständigen Aufsicht durch die Peer Group ja eher Kindergarten.
-Sechstens kann man sich wunderbarerweise fest darauf verlassen, mit seiner Schwurbelei ausreichend Erfolge zu feiern, nämlich genau bei den ca. 80 Prozent der Patienten, die sowieso von selber wieder gesunden, selbst wenn man sie als alleinige Therapie mit frischen Pferdeäpfeln bewerfen würde. Das ist eine Tatsache, die offenbar sehr viele Menschen einfach nicht begreifen können. In jeder öffentlichen Diskussion über pseudomedizinische Verfahren wimmelt es von wissenschaftlich völlig irrelevanten Kommentaren im Sinne von „Mir bzw. meinem Tier hat das aber sehr geholfen, also wirkt es eben schon!“ und natürlich dem so berühmten wie denkfaulen „Wer heilt, hat recht!“. Alle Homöopathie-Fangirls und -boys schwadronieren zwar ständig vom Immunsystem, trauen ihm aber nicht das Geringste zu, solange es nicht mit Zuckerkügelchen bombardiert wird.
-Last but not least: In der Pseudomedizin kann man sich felsenfest auf eine blind gläubige Kundschaft verlassen. In den vielen Diskussionen zum Thema Homöopathie und anderer Schwurbelmethoden ist oft von „Glauben“ die Rede. Das ist durchaus nachvollziehbar. Hängt man einer Heilslehre an, die Prinzipien folgt, deren Gültigkeit weder jemals bewiesen wurde, noch nach den Gesetzen des bekannten Universums jemals bewiesen werden kann, muss Glaube dabei ja eine ganz entscheidende Rolle spielen. Deshalb handelt es sich bei der Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Pseudomedizin zumindest von Seiten der Schwurbel-Fans um einen Religionskrieg, was durch die geradezu tollwütig-dogmatische Art der Diskussionsführung trefflich belegt wird. Gerät man mit Homöopathen und ihren Anhängern aneinander, ist man öfter mal froh über bestimmte gesellschaftliche und rechtliche Mechanismen, die zuverlässig verhindern, dass man als Ketzer auf dem Scheiterhaufen landet. Am Ende bleibt halt eines Fakt: Eine evidenzbasierte Therapie funktioniert völlig unabhängig von irgendeinem Glauben. Fängt sich jemand die Pest ein, was ja in großen Teilen der Welt durchaus immer noch passieren kann, bekommt er 10 Tage lang ein Antibiotikum. Ist dieses Antibiotikum richtig gewählt, wird es frühzeitig eingesetzt und korrekt eingenommen, funktioniert das – bei einer Krankheit, die in früheren Zeiten die Population eines ganzen Kontinents mal schnell halbieren konnte – zu über 90 Prozent. Keiner der Beteiligten, weder der Arzt, noch der Patient oder der Erreger muss dabei an irgendwas glauben. Behandelt man dagegen den Pestpatienten mit Globuli, wird er in mindestens der Hälfte der Fälle einfach sterben, völlig egal, an was er glaubt.
Man sieht: Der Gründe, aus der evidenzbasierten Medizin auf Nimmerwiedersehen zu desertieren, gibt es viele. Nun wird ja häufig so argumentiert, dass diese Deserteure für die wissenschaftliche Medizin kein echtes Problem darstellen würden. Das gern als „Blick über den Tellerrand“ bemäntelte und glorifizierte Verkriechen in ihr kleines Loch mag sie ja gut und gerne vor Burnout und anderen hässlichen Problemen bewahren, und sie würden sich schließlich um Kund:innen kümmern, die sonst keiner so richtig haben will. Diese Kund:innen wiederum seien bei einer Medizinerin/einem Mediziner, die/der sich auf Pseudomethoden verlegt hat, immer noch um Welten besser aufgehoben als bei irgendwelchen selbstermächtigten Laienbehandler:innen. Mit einem Tiermedizin-Studium in der Tasche hätte man (zumindest theoretisch!) immerhin das Rüstzeug, um zuverlässig einschätzen zu können, wann Schluss ist mit lustig und die echte Medizin wieder ran muss. Außerdem müsse man doch dieses fruchtbare Feld beackern, bevor es die (Tier-)Heilpraktiker:innen machen!
Diese angesichts der ad nauseam bewiesenen Wirkungslosigkeit und/oder sogar Schädlichkeit der Schwurbelverfahren medizinethisch höchst fragwürdige, wenn nicht gar abscheuliche Argumentation haben sich medizinische und tiermedizinische Institutionen und Organisationen leider über Jahrzehnte und bis heute zu eigen gemacht. Und DAS ist das eigentliche Problem! Stoße ich auf vereinzelte Kolleginnen und Kollegen, die Pseudomedizin anbieten, kann ich – wenn es nicht zu viele werden – noch die Schultern zucken, mir meine Gedanken machen und den Kontakt einfach vermeiden.
Wenn aber alle 17 Landestierärztekammern weiterhin Zusatzbezeichnungen für beweisbar wirkungslose Methoden wie die Homöopathie in ihren Weiterbildungsordnungen stehen haben und wenn Presseorgane der organisierten Tierärzteschaft mit dem ungenierten Abdrucken entsprechender Schwurbel-Artikel der Quacksalberei eine Bühne zur Selbstbeweihräucherung bieten, dann ist das durchaus öffentlich sichtbar und fällt am Ende auf uns alle zurück. Das ist nicht nur meiner Meinung nach wirklich unerträglich, denn genau darauf berufen sich (fast schon verständlicherweise) die Fans der Pseudomedizin in jeder Diskussion: „Da gibt es doch eine ganz offizielle Zusatzbezeichnung! Und neulich ist im Deutschen Tierärzteblatt ein großer Artikel abgedruckt worden, der ganz klar bewiesen hat, dass Homöopathie eben doch wirkt und ein ganz wichtiger Beitrag zur Tiergesundheit ist!“
Ja, so ein Artikel mit dem Titel „Regulationsmedizin – Mehr als nur eine Alternative“ ist zuletzt tatsächlich im Zentralorgan der deutschen Tierärzteschaft erschienen. Nur, dass er natürlich rein gar nichts bewiesen und ganz sicher keine wie auch immer gearteten Alternativen zu einem medizinisch begründeten Vorgehen aufgezeigt hat, sondern unter Anwendung rationaler, wissenschaftlicher Gesichtspunkte als dreiste Desinformation eingestuft werden musste. Über diese empörende Veröffentlichung in einem Printmedium, das bundesweit jeder Tierärztin und jedem Tierarzt als Zwangslektüre zugestellt wird, haben sich nicht wenige mir bekannte Kolleginnen und Kollegen beschwert. Sie bekamen daraufhin eine bemerkenswert absurde Antwort:
„Sehr geehrte(r) …, vielen Dank für Ihr Feedback zum genannten Artikel im Deutschen Tierärzteblatt. Mit den Zusatzbezeichnungen Akupunktur, Homöopathie und Biologische Tiermedizin ist die Regulationsmedizin in den Weiterbildungsordnungen aller 17 Landes-/Tierärztekammern enthalten. Laut Statistik der Deutschen Tierärzteschaft führten 2019 insgesamt 415 Tierärztinnen und Tierärzte in Deutschland diese Bezeichnungen. Solange die Möglichkeiten für diese fachlichen Spezialisierungen bestehen, hat diese Gruppe der Berufsausübenden auch das Recht, ihre Disziplin vorzustellen.“
Gerade mal 415 von über 40000 Tierärztinnen und Tierärzten in Deutschland! Rein zahlenmäßig eigentlich tatsächlich kein Problem, würden diese 415 nicht von der Bundestierärztekammer als Begründung dafür hergezogen, die anderen 99 Prozent zwangsweise und schambefreit mit so einem wissenschaftsfeindlichen und vorsätzlich desinformierenden Blödsinn zu traktieren! In der Humanmedizin haben inzwischen 11 Landesärztekammern die Zusatzbezeichnung „Homöopathie“ aus ihren Weiterbildungsordnungen entfernt, sprich: Die Humanmedizin macht sich endlich ehrlich! Daumen hoch! Unsere Landestierärztekammern dagegen bestehen alle miteinander mit fest zusammengekniffenen Augen, den Zeigefingern in den Ohren und laut Lalala schreiend darauf, sich weiterhin zu Spießgesellen eines fortgesetzten Betrugs an vertrauensvoll unsere Praxen aufsuchenden Tierbesitzer:innen zu machen. Dass es durchaus einige oder gar viele Kund:innen gibt, die fest darauf bestehen, verschaukelt oder betrogen zu werden, ändert an der moralischen Verwerflichkeit dieses Verrats an der wissenschaftlichen Tiermedizin rein gar nichts!
Auf besonders hässliche Weise tut sich in diesem Zusammenhang auch die Österreichische Tierärztekammer hervor, indem sie Kolleginnen und Kollegen, die sich öffentlich gegen Quacksalberei und Pseudomedizin in der Tiermedizin äußern, gar mit standesrechtlichen Konsequenzen bedroht und sie damit zum Schweigen zu bringen versucht. Die nassforsch-ignorante Haltung der Österreichischen Tierärztekammer zur Pseudomedizin ist inzwischen sogar der „Initiative für Wissenschaftliche Medizin“ unangenehm aufgefallen, eine Tatsache, für die man sich als wissenschaftlich arbeitender Tierarzt durchaus fremdschämen sollte und darf!
Neben den Deserteuren in ihren Praxen und den Verrätern in unseren Standesorganisationen gibt es leider noch eine dritte Art von Pseudomedizin-Anwender:innen unter uns, die Profiteure. Bei ihnen zeigt sich die Fratze der Quacksalberei in ihrer ganzen Hässlichkeit, denn sie verwenden Pseudomedizin als Umsatz- und Gewinngenerator, obwohl sie aufgrund ihrer Ausbildung ganz genau wissen, dass die jeweiligen Verfahren rein gar nichts bewirken. Sie faseln gern von „integrativer“, „ganzheitlicher“, „regulativer“ und „komplementärer“ Tiermedizin, in der offensichtlichen Absicht, dem schamlosen Abkassieren für völlig inhaltslose Heilsversprechen ein hübsches Mäntelchen umzuhängen. Sie können sich bei dieser amoralischen Masche der Zustimmung des schwurbelverliebten Teils der Kundschaft sicher sein, der immer gern „Zusammenarbeit“ und „Koexistenz“ zwischen Tiermedizin und Quacksalberei sehen würde, so nach dem Prinzip „best of both worlds“. Eine Zusammenarbeit oder Kooperation kann es aber – wollen wir ehrlich bleiben – nicht geben. Bei Quacksalberei geht es immer auch um Leib und Leben der Patienten. Für die wissenschaftliche Medizin muss es also um strikte Distanzierung gehen, auf gar keinen Fall um einen wie auch immer gearteten Schulterschluss.
Eigentlich ist es ganz einfach: Wer auch immer ein auf zwangsläufig wissenschaftsfreien Spinnereien eines seit 178 Jahren toten Quacksalbers beruhendes, definitiv nicht wirksames „Heilverfahren“ und andere Schwurbeleien an vertrauensvollen Patienten anwendet oder diese Anwendung propagiert, unterstützt oder protegiert, hat entweder seinen wissenschaftlichen oder seinen moralischen Kompass verlegt!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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