Von Ralph Rückert, Tierarzt, und Johanne Bernick, Tierärztin
Aus den Sozialen Medien:
„Freitag musste ich direkt wegen Impfung zum Tierarzt. Gestern Abend hab ich mir erstmals die Rechnung angeschaut und bin irgendwie stutzig geworden: Zunächst ist dort „Allgemeine Untersuchung mit Beratung“ aufgeführt. Ist ja auch okay. Ich denke, dass es üblich und auch positiv ist, dass sich der Tierarzt vor der Impfung ein Bild vom Gesundheitszustand des Hundes macht (Kontrolle der Zähne, Augen, Ohren). Weiter unten steht allerdings noch mal „eingehende Untersuchung einzelner Organe“ – was soll das bitte sein? Das Abhören des Hundes oder wie? Hätte jetzt gedacht, dass das auch zur allgemeinen Untersuchung gehört, wenn er das Hundchen mal kurz an Herz und Lunge abhört. Und damit meine ich wirklich kurz (so 10 – 20 Sekunden) und das ist für mich auch nicht „eingehend“! Und dafür berechnet der xy Euro netto extra?“
Nichts, wirklich nichts, ist als erster Schritt auf dem Weg zur korrekten Diagnose so wichtig wie die Allgemeine (AU) und die Eingehende Untersuchung (EU). Und nichts, wirklich nichts, wird von vielen Kunden geringer geschätzt als diese beiden Leistungen. Und nichts, wirklich nichts, könnte falscher sein!
Aus der eigenen Praxis, mehr als einmal gehört:
„Waaas, die Spritze kostet xy Euro?“
Nein, die Spritze kostet keine xy Euro, sondern die Allgemeine Untersuchung inkl. Erhebung des Vorberichts und Beratung, plus die eventuellen Eingehenden Untersuchungen, plus die Injektion, plus dem, was in der Spritze drin war, das alles zusammen kostet xy Euro. Oder andersrum gesagt: Einfach eine Spritze verabreichen kann jeder. Rausfinden, was dem Patienten fehlt, was dagegen getan werden muss, was für ein Medikament in welcher Dosierung der Patient bekommen soll, was dabei an Wechsel- und Nebenwirkungen zu beachten ist, das kann nur eine Ärztin / ein Arzt. Kurz: Sie bezahlen in diesem Beispiel nicht in erster Linie für die eine Spritze, Sie bezahlen für unser in sechs Jahren Studium und in vielen Jahren praktischer Tätigkeit erworbenes Wissen, das es uns ermöglicht, bei einem nicht der Sprache mächtigen Patienten überhaupt herauszufinden, was für ein Problem vorliegt und wie dieses zu beheben ist.
Nur unsere Real-Life-Kund:innen haben uns schon bei der Untersuchung eines Tieres beobachten können, nicht aber unsere zahlreichen Leser:innen. Was uns immer wieder auffällt: Viele Neukund:innen schauen sich an, was wir da machen, und sagen uns anschließend, dass ihr Tier noch nie so sorgfältig untersucht worden wäre. Wir haben dabei gemischte Gefühle: Einerseits freut uns natürlich das Kompliment, andererseits macht es uns Kummer, dass diese für uns ganz normale und in unserem Denken tief verankerte Herangehensweise etwas Besonderes und Erwähnenswertes sein soll, weil das ja im Umkehrschluss bedeutet, dass weit verbreitet nicht so untersucht wird, wie man das mal gelernt hat.
Andersrum sind manche Tierbesitzer:innen erstaunt, gelegentlich gar unwillig, wenn wir bei einem Hund, den wir noch nicht kennen und der zum Beispiel wegen einer Hinterhandlahmheit vorgestellt wird, ebenfalls einen kompletten Untersuchungsgang von der Nasen- bis zur Schwanzspitze durchziehen, bevor wir uns überhaupt mit dem lahmen Bein beschäftigen. Sie sehen die Notwendigkeit für dieses Vorgehen nicht ein und gehen davon aus, dass wir sie irgendwie übervorteilen wollen. Das ist falsch! Ich kann nur immer wieder betonen: Unsere Patienten können nicht mit uns reden, uns mithin auch nicht erzählen, wo es zwickt. Als Beispiel mag uns der 12jährige Retriever dienen, der nicht mehr ins Auto springen wollte und bei dem der Besitzer fest davon ausging, dass er halt altersgemäß unter Hüft- oder Rückenproblemen leiden würde. In Wirklichkeit hatte der Hund aber einen gigantischen und extrem schmerzhaften Blasenstein, nach dessen Entfernung er wieder ganz prima in den Kofferraum hüpfen konnte. Genau so wäre es eine grobe Nachlässigkeit, sich bei einer chronisch kotzenden Katze nur auf den Verdauungstrakt zu konzentrieren und dabei das hochgradige FORL-Gebiss zu übersehen, das derartig weh tut, dass die Katze unter einer Stress-Gastritis leidet und sich deshalb dauernd übergeben muss.
Für routinierte Tiermediziner:innen ist so eine korrekte und vollumfängliche Untersuchung bei aller Ausführlichkeit ein recht flüssiger und zügiger Vorgang. Als medizinischer Laie können Sie sich aber sicher nicht mal ansatzweise vorstellen, welche Menge an Daten und Befunden wir dabei in kürzester Zeit erheben und verarbeiten. Deshalb gehen wir jetzt mal zum besseren Verständnis am Beispiel eines Hundes unseren Untersuchungsgang detailliert durch. Wir führen Sie durch die einzelnen Schritte, die Sie beobachten können, und erzählen Ihnen, was wir dabei wahrnehmen und in unsere diagnostischen Überlegungen einfließen lassen. Unser Ziel ist, Ihnen zu vermitteln, wie komplex dieser eigentlich ganz simpel wirkende Vorgang in Wirklichkeit ist.
Los geht es schon, wenn Sie und Ihr Hund ins Sprechzimmer reinkommen. Bei einem uns bekannten Tier nehmen wir spontan wahr, ob es sich wie immer verhält, bei einem Neupatienten erfolgt eine erste Beurteilung von „Haltung und Verhalten“, wie dieser Punkt der AU genannt wird. Weiterhin registrieren wir in diesen ersten Momenten den Pflege- und Ernährungszustand und das sogenannte Signalement (auf gut Deutsch: Ist das überhaupt das Tier, das ich erwarte und dessen Karteikarte aufgerufen ist?). Diese Beobachtung des Hundes setzt sich im Sprechzimmer weiter fort, was einer der Gründe dafür ist, dass wir in der Regel das Tier nicht sofort auf den Behandlungstisch gesetzt bekommen wollen. Viele Punkte sind in unserem Kopf schon abgehakt, bevor wir den Hund überhaupt berührt oder mit Ihnen viele Worte gewechselt haben. Bewegt sich das Tier gut koordiniert oder lahmt es etwa? Ist es knochendürr, nudeldick oder genau richtig? Glänzt das Fell oder ist es strohig? Hat der Hund erkennbar Angst oder erkundet er aktiv den Behandlungsraum? Nimmt er Kontakt zu den anwesenden Menschen auf oder meidet er sie? Wie ist die Bindung, das Vertrauensverhältnis zur Bezugsperson? Besteht Interesse an Leckerchen oder nicht? Und so weiter und so fort.
Als nächstes werden wir normalerweise Sie als Besitzer:in fragen, warum Sie heute zu uns kommen, was meistens in ein mehr oder weniger intensives Frage-Antwort-Spiel münden wird. Dabei handelt es sich um die Erhebung des Vorberichts, der Anamnese. Dieser eine Punkt des Untersuchungsganges ist in der Medizin so bedeutsam, dass darüber schon ganze Lehrbücher geschrieben worden sind, und auch wir ohne große Mühe einen mehrseitigen Artikel darüber verfassen könnten. Gerade bei einem Patienten, der nicht für sich selbst sprechen kann, hat die Vorgeschichte eine gar nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung. Es gibt durchaus Fälle, in denen allein die Erhebung der Anamnese eine halbe Stunde oder mehr dauern (und natürlich auch entsprechend kosten) kann.
Wie Sie sehen, wissen wir im besten Fall schon ganz schön viel, bevor wir Ihren Hund überhaupt berührt haben. Erst wenn wir den Eindruck haben, dass wir ausreichend vorinformiert sind, beginnt die eigentliche körperliche Untersuchung.
-Sie sehen: Der Tierarzt starrt Ihrem Hund in die Augen, zieht die Lider rauf und runter und lässt durch Druck auf den Augapfel das dritte Augenlid (die Nickhaut) vorfallen.
Ich nehme dabei wahr: Farbe der Bindehäute und der Skleren (Augenweiß), Füllung der Skleralgefäße, Zustand der Cornea (Augenhornhaut), der Iris und eventuelle Trübungen der Augenlinse, Symmetrie der Pupillenöffnung, Zustand der Augenumgebung, Augenreflexe.
-Sie sehen: Der Tierarzt zieht die Lefzen hoch und nach hinten, beäugt die Zähne, sperrt eventuell auch das Maul kurz ganz auf, schaut in die Ohren und riecht an ihnen.
Ich nehme wahr: Farbe der Mundschleimhäute, Kapillare Füllungszeit (zur groben Einschätzung des Blutdruckes), Zustand der Zähne (Abnutzung, Zahnsteinansatz, Zahnschäden), Zustand des Zahnhalteapparates (Parodont), Aussehen der Zunge und des sichtbaren Rachens inklusive der Tonsillen (Mandeln). Weiterhin werfe ich in diesem Rahmen auch einen Blick auf die Nase und registriere den Zustand des Nasenspiegels und eventuellen Ausfluss. Gerade am Kopf kommt noch dazu, dass ich nicht nur sehen und fühlen, sondern auch riechen und hören kann. Ohren-, Nasen- und Mundhöhlenerkrankungen verraten sich oft schon allein durch den Geruch. Atmungsbehinderungen verraten sich meist durch Geräusche. Das ganze Gefummel am Kopf gibt mir ganz nebenbei noch Aufschluss über einige der wichtigen Hirnnervenreflexe. Außerdem prüfe ich (für Sie oft nicht erkennbar) das Seh-, Hör- und Riechvermögen.
-Sie sehen: Der Tierarzt streicht über bzw. betastet den Kopf, den Hals und verschiedene andere Körperregionen.
Ich nehme wahr: Die tastbaren Lymphknoten, Schwellungen, Asymmetrien, Zustand von Fell, Haut, Krallen. Gleichzeitig halte ich den für mich wichtigen Körperkontakt zum Patienten.
-Sie sehen: Der Tierarzt hört mit dem Stethoskop den Brustkorb des Hundes von beiden Seiten ab und fasst dabei eventuell mit einer Hand in die Leistenbeuge.
Ich nehme wahr: Frequenz, Rhythmus und Qualität des Herzschlages und des Pulses (in der Leistenbeuge), eventuelle krankhafte Herznebengeräusche. Ebenso Frequenz, Rhythmus und Qualität der Atmung und eventuelle krankhafte Atemgeräusche. Sind Herzklappen schadhaft, kann ab einer gewissen Körpergröße festgestellt werden, welche Klappen betroffen sind.
-Sie sehen: Der Tierarzt stellt sich hinter den Hund und betastet mit beiden Händen den Bauchbereich.
Ich nehme wahr (von vorne nach hinten): Abhängig vom Körperbau des Hundes Teile der Leber, den Magen, fast alle Darmabschnitte, meist beide Nieren, die Milz, die Harnblase und beim weiblichen Tier eventuell die Gebärmutter. Darüber hinaus natürlich krankhafte Veränderungen wie Umfangsvermehrungen, Fremdkörper oder Schmerzhaftigkeiten.
-Sie sehen: Der Tierarzt hebt den Schwanz des Hundes, inspiziert die Anogenitalregion und misst die rektale Körpertemperatur.
Ich nehme wahr: Zustand und eventuelle Veränderungen der anatomisch komplizierten Analregion inklusive der Analdrüsen, eventuell Größe, Form und Zustand der äußeren Geschlechtsorgane. Die Messung der Körpertemperatur ist bei Tieren mit ihrer fehlenden Kommunikationsmöglichkeit häufig besonders wichtig.
So, damit wären wir mit unserer Allgemeinen Untersuchung durch. Allerdings herrscht in der tiermedizinischen Literatur keine echte Einigkeit darüber, was genau Bestandteil der AU im Sinne der Gebührenordnung für Tierärzte (GOT) sein sollte oder doch schon zu den Eingehenden Untersuchungen gehört. In einem Punkt gehen wir aber sicher über den normalen Umfang einer AU hinaus, und zwar beim Abhören des Brustraumes mit dem Stethoskop. Diese Untersuchungstechnik gehört definitiv zu den Eingehenden Untersuchungen. Im Prinzip kann man sagen, dass jedes medizinische Gerät, das über eine Lichtquelle und ein Fieberthermometer hinaus zur Anwendung kommt, eine Eingehende Untersuchung darstellt. Der Kollege aus dem Netzzitat in der Einleitung war also völlig im Recht, als er die Auskultation (das Abhören) von Herz und Lunge in dieser Form abgerechnet hat.
Zielsetzung der AU ist zum einen die Eingrenzung des eigentlichen Problembereiches, zum anderen die Absicherung, dass sich hinter eigentlich offensichtlich scheinenden Beschwerden keine systemische Erkrankung verbirgt. Ein Beispiel: Lungentumore (oder, wie oben erwähnt, Blasensteine) können schwere Lahmheiten auslösen. Wenn man da nur auf die Beine schaut, macht man eben einen bösen Fehler.
Ist durch die AU erstmal das erkrankte Organsystem ermittelt, schlägt die Stunde der Eingehenden Untersuchung, bei der sehr häufig diagnostische Geräte wie das Ophthalmoskop (zur Untersuchung der Augen), das Otoskop (Ohren) und das Stethoskop (zum Abhören) eingesetzt werden. Aber auch das detaillierte Durchtasten der Gesäugeleiste bei der Hündin, die genaue Inaugenscheinnahme eines auffälligen Zahnes oder eine rektale Untersuchung sind EUs. Manchmal bleibt die EU auch allein, wird also nicht von der AU begleitet. Wenn Ihr Tier sich zum Beispiel eine Kralle abgerissen hat, wird man deswegen sicher nicht alle anderen Organsysteme auf Probleme abklopfen.
Wie schon aus dem Titel des Artikels ersichtlich, halte ich die Allgemeine und die Eingehende Untersuchung für den Haken, an dem alles aufgehängt ist. So banal das für Sie als Tierbesitzer rüberkommen mag: In der körperlichen Untersuchung des Patienten unter Zuhilfenahme aller Sinnesleistungen kristallisieren sich mühsam erworbenes Wissen und Jahre oder Jahrzehnte an Erfahrung zu der Fähigkeit, anhand der ermittelten Befunde aus gut 15000 bekannten Krankheiten sofort eine Diagnose herauszufischen oder zumindest einen Verdacht zu schöpfen, der dann durch weitergehende Diagnostik (Labor, Röntgen, Ultraschall, etc.) erhärtet werden muss. Eine gute Tierärztin, ein guter Tierarzt (Arzt, Zahnarzt) wird immer daran zu erkennen sein, dass sie / er sehr sorgfältig untersucht und die ermittelten Befunde ebenso sorgfältig dokumentiert. Das kostet Zeit, weshalb diese Tätigkeiten in der Regel nicht im Sonderangebot oder gar kostenfrei zu haben sind.
Abschließend und als Überleitung: Wie dargestellt, ist es schon schwierig genug, bei einem nicht mit uns sprechenden Patienten herauszufinden, wo der Schuh drückt. Hochgradig problematisch wird es aber, wenn wir uns dabei an Tieren abarbeiten, die sich der Untersuchung aktiv widersetzen, weil sie nie gelernt haben, solche Manipulationen durch fremde Personen mindestens zu dulden. Deshalb werden wir im zweiten Teil dieser Mini-Serie erläutern, was sie als Besitzer:innen tun können, damit sich im Fall der Fälle die Untersuchung und Diagnosefindung bei Ihrem Tier geschmeidig (und natürlich mit höheren Erfolgsaussichten) gestaltet.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald,
Ihr Ralph Rückert, Ihre Johanne Bernick
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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