Von Ralph Rückert, Tierarzt
Der Tod ist groß, am Ende sind wir alle die Seinen, Mensch und Tier gleichermaßen, nur dass unsere vierbeinigen Gefährten natürlich eine deutlich kürzere Lebensspanne haben als wir. Diesbezüglich liegen für Gewohnheits-Tierhalter wie uns Freud und Leid eng beisammen. Einerseits müssen wir es in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen mühsam verkraften, dass unsere geliebten Freunde von uns gehen, andererseits können wir so im Laufe unseres Lebens so einige Hunde und Katzen als Begleiter haben und dadurch unsere Chancen erhöhen, ein- oder gar mehrmals auf die ganz besonderen Tiere, die sogenannten Seelenhunde und -katzen zu stoßen.
Es kommt aber im Lauf der Zeit unweigerlich ein Moment, der – ganz individuell – irgendwas zwischen fatalistisch akzeptiert bis hin zu eisig bestürzend empfunden wird, ein Moment, in dem man seinem Hund, seiner Katze in die Augen schaut und sich nicht nur rein theoretisch, sondern ganz praktisch darüber klar werden muss, dass eigentlich nur noch das Schicksal darüber entscheidet, wer hier wen überleben wird, mit anderen Worten, dass man da gerade mit sehr hoher Sicherheit seinen letzten Hund, seine letzte Katze streichelt.
Natürlich besteht diese Möglichkeit irgendwie das ganze Leben lang, denn wie hat Maximus in „Gladiator“ ganz richtig gesagt: „Der Tod lächelt uns alle an.“ Und das jederzeit. Trotzdem: Je jünger man ist, für desto unsterblicher hält man sich nun mal. Aber irgendwann holt einen die Statistik unweigerlich ein, und man kann sich ausrechnen, dass auch im besten Fall drei Viertel oder gar vier Fünftel der eigenen Lebenszeit verstrichen sind. Hat man zu diesem Zeitpunkt gerade ein noch relativ junges Haustier, ist halt irgendwie klar, dass danach nichts mehr kommen wird, und das kann einem schon in die Glieder fahren.
Vor einiger Zeit musste ich einen Hund einschläfern. Er war sehr alt geworden und unheilbar leidend. Seine Besitzerin war eine ebenfalls schon alte Dame. Ich verwende den Begriff „Dame“ hier ganz bewusst, weil sie für mich eine beeindruckende Persönlichkeit war, mit perfekten Umgangsformen, immer faktenorientiert und rational, immer ihre Emotionen streng im Griff behaltend. Auch hat sie sich stets vorbildlich um ihren kleinen Hund gekümmert. Die Beiden waren von außen gesehen nicht unbedingt das ideale Mensch-Hund-Team, denn der Terrier war sein Leben lang ein eher schwieriger Charakter. Aber wie das halt oft ist: Irgendwie haben sie sich doch zusammengerauft und waren viele Jahre füreinander da.
Wenn ich fühle oder meine, dass jemand diese Zeit braucht, verlasse ich nach dem Setzen der allerletzten Spritze den Raum, um ein Abschiednehmen ohne meine Anwesenheit zu ermöglichen, und komme erst nach fünf bis zehn Minuten zurück. So auch in diesem Fall. Und als ich das Zimmer wieder betrat, bot sich mir ein Anblick, den ich sicher nicht mehr vergessen werde. Ich wollte, ich wäre ein Maler, denn dann würde ich sicher versuchen, diesen Moment, diesen Eindruck in einem Gemälde festzuhalten. Bei Euthanasien schalten wir die Beleuchtung im jeweiligen Sprechzimmer auf Schummerlicht, bei dem nur einzelne Spots in der Decke brennen. Die alte Dame saß im sanften Licht eines dieser Spots zusammengesunken auf einem Stuhl in der Ecke und hatte ihren kleinen, toten Hund auf den Knien liegen. Religiöse Hardliner mögen mir verzeihen, wenn ich den Vergleich zu einer Pietà heranziehe.
Die Szene war so unendlich traurig, trauriger als bei den vielen anderen Euthanasien, die ich im Lauf der vielen Jahre durchführen musste. Das war nicht nur die Trauer um den toten Hund, sondern auch die Trauer um den letzten Hund vor dem Ende des eigenen Lebens, im sicheren Wissen, dass es diesmal keinen Neustart mit einem Nachfolger geben würde.
Ja, sicherlich gibt es deutlich schlimmere Schicksalsschläge als den Tod des letzten Haustiers im Leben. Trotzdem: Vor dem Tag, an dem unser letzter Hund, unsere letzte Katze gehen muss, graut mir, und zwar so richtig!
Ach ja, dass ich das jetzt nicht unterschlage: Die Überschrift dieses Artikels ist natürlich nicht von mir, sondern die Anfangszeile eines Gedichts von Rainer Maria Rilke (1875-1926):
„Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.“
Tut mir leid für diese düsteren Gedanken, aber auch die gehören halt dazu, wenn man Haustiere hält!
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
Sie können jederzeit und ohne unsere Erlaubnis auf diesen Artikel verlinken oder ihn auf Facebook teilen. Jegliche (auch teilweise) Vervielfältigung oder Nachveröffentlichung, ob in elektronischer Form oder im Druck, ist untersagt und kann allenfalls ausnahmsweise mit unserem schriftlich eingeholten und erteilten Einverständnis erfolgen. Zuwiderhandlungen werden juristisch verfolgt. Von uns genehmigte Nachveröffentlichungen müssen den jeweiligen Artikel völlig unverändert lassen, also ohne Weglassungen, Hinzufügungen oder Hervorhebungen. Eine Umwandlung in andere Dateiformate wie PDF ist nicht gestattet. In Printmedien sind dem Artikel die vollständigen Quellenangaben inkl. meiner Praxis-Homepage beizufügen, bei Online-Nachveröffentlichung ist zusätzlich ein anklickbarer Link auf meine Praxis-Homepage oder den Original-Artikel im Blog nötig.