Von Ralph Rückert, Tierarzt
*Eierlikör-Eklat: Episode #75 des Podcasts „4 Pfoten, 2 Beine & 1000 Fragen“
Alle Jahre wieder veröffentliche ich einen Artikel, der Hunden helfen soll, die an Silvester nicht nur ein bisschen Angst, sondern wirklich ernsthafte und behandlungsbedürftige Panik haben. In diesem Artikel bemühe ich mich sehr, alle zur Verfügung stehenden Interventionsmöglichkeiten darzustellen, inklusive der jeweils aktuellen arzneimittelrechtlichen Situation und eventueller Lieferengpässe bei bestimmten Medikamenten. Meines Wissens war und ist mein Text die umfassendste und (bis auf die enorme Länge) für Laien am besten lesbare Erläuterung des Themas im deutschsprachigen Raum. Das ist eigentlich überraschend, da ich Haustierarzt bin und kein Verhaltensspezialist. Man würde ja eher erwarten, dass so eine gründliche Darstellung der Silvester-Problematik eher der Job der auf Verhaltenstherapie spezialisierten Kolleginnen und Kollegen wäre, aber aus der Ecke kam und kommt da eigentlich nichts wirklich Brauchbares.
Was da aber kommt, ist verbissene und erbitterte Kritik (**in Kollegenkreisen eben inzwischen als „Eierlikör-Krieg“ bezeichnet) an einem einzigen Abschnitt meines Artikels, der ziemlich weit unten und erst NACH der Darstellung aller kunstgerechten Interventionsmöglichkeiten für Besitzer:innen und Tierärzt:innen zu finden ist. Natürlich ist die Rede vom „Hausmittelchen“ Eierlikör. Speziell eine verhaltenstherapeutisch tätige Kollegin scheint es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, die Hunde Deutschlands vor meinem verderblichen und lasterhaften Einfluss zu retten. Zu diesem Zweck führt sie aktuell eine juristische Stellungnahme einer Rechtsanwältin ins Feld, die Mitglied des Vereins „Deutsche Juristische Gesellschaft für Tierschutzrecht e.V.“ ist. In dieser Stellungnahme wird erläutert, dass die Gabe von Alkohol an Hunde sowohl gegen das Tierschutzgesetz als auch gegen das Tierarzneimittelrecht verstoßen könnte. Lesen Sie diese Stellungnahme bitte, bevor Sie Ihrem Hund eventuell Likör verabreichen.
Meine persönliche Meinung:
-Die ganze Argumentation der Stellungnahme bricht – zumindest in Bezug auf meinen Artikel – gleich in der Einleitung wieder in sich zusammen. Da steht: „Das Risiko, eine zu hohe Dosierung zu geben, ist groß und die negativen Auswirkungen daher einigermaßen wahrscheinlich.“ Ich halte dagegen, dass genau das überhaupt nicht stimmt, so lange man die von mir genannten Dosierungen peinlich genau einhält. Ich habe in den letzten Jahren sehr, sehr viele Nachrichten bekommen, die die positiven Auswirkungen der Alkoholgabe zum Inhalt hatten, aber nicht eine (nicht eine!), die von irgendwelchen Schäden für das Tier berichtet hätte. Es ist also beileibe nicht „einigermaßen wahrscheinlich“, sondern höchst unwahrscheinlich, dass der Hund durch die einmalig an Silvester erfolgende Gabe von ein bisschen Likör irgendwie zu Schaden kommt.
-Viele Leute werden schlicht davon überrascht, wenn ein Hund, der in den ersten zwei, drei Jahren seines Lebens an Silvester keine Probleme hat erkennen lassen, beim dritten oder vierten Mal plötzlich völlig abdreht. Dieses Phänomen ist absolut keine Seltenheit, sondern sogar eher die Regel! Nun, was soll man als Tierbesitzer:in in so einer Situation machen? Man hat das nicht kommen sehen, es ist 17 Uhr an Silvester, und der Hund sitzt hechelnd und panisch in der Ecke, weigert sich, nochmal rauszugehen, und man kann sich ausrechnen, wie gruslig das Ganze um Mitternacht werden wird. An die im Artikel erläuterten und natürlich fachlich korrekten Arzneimittel wie Sileo, Pexion oder Alprazolam inklusive sachkundiger, tiermedizinischer Beratung kommt man zu diesem Zeitpunkt sicher nicht mehr ran. Der Likör im Schrank ist aber entsprechend dieser Stellungnahme höchst illegal. Meiner Meinung nach steht man in dieser Situation vor einer Art Güterabwägung, denn den Hund ohne Gegenmaßnahmen stundenlang weiter so leiden zu lassen, kann man ja durchaus auch als Verstoß gegen das Tierschutzgesetz (und – davon abgesehen – gegen die Menschlichkeit!) interpretieren. Muss also jede und jeder für sich selbst entscheiden, was da das kleinere Übel darstellt. Für mich persönlich wäre die Sache klar, schon allein deswegen, weil ich mir absolut nicht vorstellen kann, für eine einmalige, sehr vorsichtig dosierte und in bester Absicht erfolgende Likörgabe an meinen Hund von irgendeiner Richterin oder irgendeinem Richter verurteilt zu werden. So viel Vertrauen in das Augenmaß unseres Rechtssystems habe ich dann doch noch. Das im Text der Stellungnahme angeführte Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlands betraf übrigens die böswillige, aus Rohheit und im Sinne einer Misshandlung erfolgte, wiederholte und über längere Zeiträume andauernde Alkoholgabe an einen Hund. Sich in diesem Kontext (extrem zurückhaltend dosierte Alkoholgabe einmalig an Silvester als Hausmittel gegen akutes Leiden) auf dieses Urteil zu berufen, halte ich für verblüffend unseriös und tendenziös!
-Satirisch überspitzt: Ich warte auf den Tag, an dem wir eine juristische Stellungnahme mit der Aussage zu lesen bekommen, dass die Gabe von reifen Bananen an Kleinkinder strafrechtlich relevant ist, weil Bananen schließlich einen Alkoholgehalt von bis zu 1,6 Prozent aufweisen können.
Und nun, nach dieser extrem langen, aber hoffentlich nicht langweiligen Einleitung, der eigentliche Artikel:
Das Wichtigste wie immer und gebetsmühlenartig zuerst: Geben Sie Ihrem silvesterpanischen Hund auf gar keinen Fall Acepromazin! Dieses Phenothiazin-Derivat ist ein Neuroleptikum und Sedativum und wird unter den Handelsnamen Vetranquil, Sedalin, Calmivet und Prequillan vertrieben. Acepromazin wurde früher weit verbreitet an Silvester eingesetzt und hat dabei von außen betrachtet eine gute Wirksamkeit gezeigt, sprich die Hunde waren richtig platt. Seit geraumer Zeit wissen wir aber, dass das Geräuschempfinden und die damit verbundene Angst der Patienten durch den Wirkstoff nicht wirklich eingeschränkt werden. Der Hund hat also keinen Deut weniger Angst als sonst, er ist nur körperlich unfähig zu erkennbaren Reaktionen. Das ist natürlich eine ganz fiese Sache, also Finger weg! Darüber hinaus hat der Wirkstoff ein recht hohes Potential für gravierende und gefährliche Nebenwirkungen.
Lassen Sie mich erst mal definieren, um was es geht, wenn wir über die pharmakologische Dämpfung schwerer Geräusch- bzw. Silvesterangst reden: Es geht in erster Linie um Hunde, die an Silvester unter panischen, nicht kontrollierbaren Angstzuständen leiden, also um Tiere, die völlig erstarren, die mit geweiteten Pupillen nur noch hecheln und zittern, die Harn und Kot unter sich lassen oder erbrechen und die auch durch ein offenes Fenster im dritten Stock springen würden, um der Situation zu entgehen.
Die wissenschaftliche Verhaltensmedizin ist sich sicher, dass Angstzustände von solcher Intensität nicht zuletzt aus tierschutzrelevanten Gründen pharmakologisch gedämpft werden sollten, weil sonst ein Teufelskreis in Gang kommt, der sich jedes Jahr weiter verstärkt. Zur eigentlichen Angst vor der für den Hund nicht korrekt zuzuordnenden Knallerei, den optischen Effekten und dem Geruch tritt nämlich in zunehmendem Maß die Angst vor der Angst, und genau dieser Effekt wird erfahrungsgemäß immer schlimmer.
Nun, damit sollte eigentlich klar sein, um was es eigentlich geht. Widmen wir uns doch zuerst mal den Hunden, um die es im Kern eigentlich NICHT geht, nämlich die, die zwar erkennbar Schiss vor der Knallerei haben, ihre Angst aber noch ganz gut kontrollieren bzw. bewältigen können.
In solchen Fällen können Präparate versucht werden, die nicht als Medikamente, sondern als Nahrungsergänzungsmittel deklariert sind, wie zum Beispiel Zylkene, Sedarom und Adaptil-Tabletten. Bezüglich Zylkene zeichnet sich ab, dass es – wenn überhaupt – nur in drei- bis vierfacher Dosis gegen Knallangst wirksam sein kann. Unter dem Namen Adaptil werden auch ein Pheromonverdampfer für die Steckdose und ein Pheromon-Halsband vertrieben, die sich (bei eher milden Angstzuständen) ebenfalls als hilfreich erweisen könnten.
Es spricht natürlich auch nichts gegen die Verabreichung von irgendwelchem Humbug wie Bachblüten-Tröpfchen oder Globuli Ihrer Wahl. Sie haben zwar unbestreitbar keinerlei pharmakologischen Effekt auf das Tier, aber wenn dadurch Sie als Besitzer:in über den sogenannten „Placebo-by-proxy-Effekt“ beruhigt werden, wird sich das auch Ihrem Hund positiv mitteilen, was durchaus hilfreich sein könnte.
Nachdem silvesterpanische Hunde, die altersbedingt langsam schwerhörig werden, erfahrungsgemäß immer weniger ängstlich reagieren, liegt der Gedanke nahe, auch beim noch jüngeren Hund eine mechanische Geräuschabschirmung zu versuchen. Man könnte also zum Beispiel im Sinne von Oropax Watte in die Ohren packen, unter die Watte vielleicht noch Vaseline, und dann über alles einen Kopfverband anlegen. Wer nicht auf Do-It-Yourself steht, kann natürlich auch die leider ziemlich teuren „Mutt Muffs“ oder „Rex Specs Ear Pro“ verwenden.
Zuletzt seien noch die sogenannten Thunder-Shirts erwähnt, eng anliegende und elastische Bodys, die durch die auf den Hundekörper ausgeübte sanfte Kompression ebenfalls einen beruhigenden Effekt erzielen sollen. Ich habe damit keine eigenen Erfahrungen, und irgendeine Evidenz für die Wirksamkeit scheint es auch nicht zu geben.
Oft wurde und wird dazu geraten, die Angst des Hundes einfach zu ignorieren, um das Problem nicht auch noch durch Bestätigung zu verstärken. Das sieht man inzwischen anders. Ich folge da einfach meinem Bauchgefühl. Unser vor vier Jahren verstorbener Nogger, sonst ganz der furchtlose Terrier, konnte mit Feuerwerk gar nicht umgehen. Er suchte in seiner Angst die körperliche Nähe zu seinen Menschen, und die bekam er auch. Wenn Ihr Hund in dieser Situation Körperkontakt, Berührung oder gar eine beruhigende Massage haben möchte, dann lassen Sie sich um Gottes Willen nicht durch zweifelhafte und durch nichts belegbare Ratschläge davon abhalten.
Auf allgemeine und vom gesunden Menschenverstand diktierte Maßnahmen wie das Aufsuchen ruhiger Räume, Ablenkung durch Musik und Fernseher und das Herunterlassen der Rollläden muss ich wohl nicht extra eingehen.
So, widmen wir uns nun aber den extremen Fällen, die wir weiter oben schon eingegrenzt und definiert haben. Alle Besitzer:innen von Tieren, die ihre Angst noch kontrollieren können bzw. durch die angeführten Maßnahmen der milderen Art halbwegs klar kommen, können an dieser Stelle eigentlich aussteigen.
Jetzt geht es um Hunde, bei denen es so schlimm ist, dass man mit ihnen an Silvester stundenlang über die Autobahn gondelt oder gleich einen Kurzurlaub in einem völlig einsam oder am Flughafen gelegenen Hotel oder auf einer Insel mit Feuerwerksverbot bucht.
Früher habe ich für diese Extremfälle die zeitlich eng begrenzte Anwendung von Benzodiazepinen wie Diazepam oder Alprazolam (mein Favorit) empfohlen. Benzodiazepine sind im Gegensatz zum oben erwähnten Acepromazin tatsächlich anxiolytisch, also angstlösend, und werden vom Patienten als entsprechend wohltuend und stressmindernd wahrgenommen. Diese Medikamentengruppe gilt auch als sehr anwendungssicher. Wieder im Gegensatz zu Acepromazin kann es bei Benzodiazepinen eigentlich nicht zu bedrohlichen Kreislaufdepressionen kommen. Das zweifellos vorhandene Suchtpotential der Benzodiazepine spielt bei einer so kurzen Anwendungsdauer und bei Patienten, die im Gegensatz zum Menschen nicht selbst über die fortgesetzte Einnahme entscheiden können, nicht die geringste Rolle.
Seit 2016 haben wir nun ein arzneimittelrechtliches Problem bei der Anwendung bzw. Verschreibung von Benzodiazepinen: Die sogenannte und im EU-Arzneimittelrecht verankerte Kaskadenregel verpflichtet uns Tierärzte, bei der Behandlung bestimmter Krankheitsbilder immer zuerst auf Medikamente zuzugreifen, die genau für diesen Zweck zugelassen sind. Bis 2016 gab es keine ausdrücklich für (extreme) Silvesterangst zugelassenen Präparate auf dem Markt. Das hat sich seit der Einführung des Präparats „Sileo“ mit dem Wirkstoff Dexmedetomidin geändert. Bei enger Sicht der arzneimittelrechtlichen Vorschriften (und eine andere als die enge Sicht gibt es nach Meinung der Überwachungsbehörden nicht!) kann eine medikamentöse Linderung schwerer und akuter Geräuschangst eigentlich nicht mehr mit Benzodiazepinen durchgeführt werden. Die Abgabe bzw. Verschreibung von Wirkstoffen wie Alprazolam aus dem humanmedizinischen Bereich als First-Line-Medikament ist mit der Zulassung von Sileo für den Tierarzt zu einem Rechtsverstoß geworden, den er im Zweifelsfall vor den Kontrollorganen rechtfertigen muss.
Die Wirksamkeit des First-Line-Medikaments Sileo wird von den Kunden ausgesprochen uneinheitlich bewertet. Gefühlt 75 Prozent der Anwender sind mit dem Effekt zufrieden, ein Viertel aber nicht so recht. Die korrekte Anwendung des Präparates ist zudem erklärungsbedürftig und auch potenziell recht fehlerbehaftet. Es liegt in Form eines Gels vor, das über die Backenschleimhaut aufgenommen und nicht etwa abgeschluckt werden soll. Käufer des Medikaments sollten in den abgebenden Tierarztpraxen entsprechend unterrichtet werden. Der Hersteller hat auch ein ausführliches Tutorial-Video online zur Verfügung gestellt. Ob das noch zu finden ist, habe ich dieses Jahr nicht nachgeprüft.
Jetzt wird es ein bisschen peinlich, denn hier muss ich nachträglich editieren. Ich habe – wohl unbewusst – die Neuzulassung Tessie (Wirkstoff Tasipimidin) unterschlagen. Tessie gehört zur gleichen Wirkstoffgruppe wie Sileo, hat aber ein noch eindrucksvolleres Nebenwirkungsprofil. Als Mediziner lasse ich mich natürlich von Beipackzetteln eher selten beeindrucken, aber in diesem Fall muss ich zugeben, dass ich dieses Präparat meinem eigenen Hund nicht eingeben würde. Ich zitiere: „Lethargie und Erbrechen waren sehr häufige Nebenwirkungen in klinischen Studien. Sedierung, Verhaltensstörungen (Bellen, Meidereaktionen, Desorientierung, erhöhte Reaktivität), blasse Schleimhäute, Ataxie, Durchfall, Harninkontinenz, Übelkeit, Gastroenteritis, Polydipsie,
Leukopenie, Überempfindlichkeitsreaktionen, Somnolenz und Anorexie waren häufige Nebenwirkungen in klinischen Studien.
Zusätzlich wurde in präklinischen Studien an nicht ängstlichen Tieren eine Abnahme der Herzfrequenz, des Blutdrucks und der Körpertemperatur beobachtet.“ Dazu kommt – wie auch bei Sileo – noch ein gefühlter halber Meter Warnhinweise für den Anwender, also den Menschen, der das Medikament dem Hund eingibt. Sorry, aber das ist selbst mir als Profi angesichts der Indikation einfach zu heftig.
Eine interessante Alternative stellt das ebenfalls für Geräuschangst zugelassene Antiepileptikum Imepitoin (Handelsname „Pexion“) dar. Die Eingabe muss allerdings bereits zwei Tage vor Silvester begonnen und bis zum Ende des Geräuschereignisses weitergeführt werden. Durch diese sowieso notwendige längerfristige Anwendung ist Pexion wohl die beste Möglichkeit für Hunde, die nicht nur am Silvesterabend selbst, sondern schon ab dem Feuerwerks-Verkaufsstart panisch reagieren. Auch bei Pexion wird die Wirksamkeit von den Besitzer:innen hochgradig geräuschempfindlicher Hunde recht unterschiedlich beurteilt. Wissenschaftlich gesehen ist sie auf jeden Fall nachweisbar besser als die eines Placebos. Zu beachten ist beim Anwendungszweck „Geräuschangst“ die Dosis, die dreimal höher ist als die Einstiegsdosis für die Indikation „Epilepsie“. Über eventuell notwendige und individuelle Dosierungsschemata (zum Beispiel sogenanntes „Ein- und Ausschleichen“) müssen Sie sich mit der Ihnen das Präparat verschreibenden Praxis unterhalten.
Also, um es nochmal zu betonen: Arzneimittelrechtlich sind Sileo, Tessie und Pexion die für Silvesterpaniker zugelassenen First-Line-Medikamente, die erst mal zur Anwendung kommen müssen, bevor man (zum Beispiel bei mangelndem Erfolg) an die Verschreibung von Benzodiazepinen wie Alprazolam denken darf. Machen Sie bitte nicht Ihre Tierärztin / Ihren Tierarzt für die Gesetzeslage verantwortlich!
Zu guter Letzt komme ich noch auf die in der Einleitung angesprochene Alternative zur Beruhigung sehr ängstlicher Hunde zu sprechen, die regelmäßig für Wallung sorgt, nämlich Alkohol. Alkohol, von Hunden speziell in Form von Eierlikör (oder von mir aus auch Bier, für die eher herben Typen) sehr gern aufgenommen, ist natürlich – wie wir fast alle aus eigener Erfahrung wissen – in der korrekten Dosierung ein recht potentes Sedativum mit durchaus angstlösender Wirkung. Wie schon ausgeführt, verlassen Sie mit der Gabe von Alkohol aber den festen Boden der zugelassenen und verschreibungspflichtigen Präparate und begeben sich auf eigene Verantwortung in den üblichen Graubereich eines Hausmittelchen.
Ich kann es inzwischen gar nicht mehr ab, wenn dieser Artikel nur auf die Erwähnung von Eierlikör reduziert wird, stelle ich doch weiter oben umfassend alle mit dem Stand der Wissenschaft und dem Arzneimittelrecht konformen Möglichkeiten dar, mit denen silvesterpanischen Hunden über die schlimmen Tage geholfen werden kann. Andererseits habe ich dafür auch ein gewisses Verständnis, denn aus den unzähligen Rückmeldungen, die ich über die Jahre bekommen habe, lässt sich tatsächlich der Schluss ziehen, dass eine penibel und zurückhaltend dosierte Menge Alkohol tatsächlich eine Möglichkeit darstellt, die Panik der betroffenen Hunde auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.
Unser Terrier Nogger (knapp 10 kg schwer) bekam an Silvester um 20 und um 23 Uhr jeweils einen knappen Esslöffel Eierlikör, und es hat ihm immer sowohl sehr gut geschmeckt als auch nach unserem Dafürhalten beträchtlich geholfen.
Natürlich werden jetzt wieder diejenigen, die alles glauben, was im Internet steht (Alkohol wird ja da immer gern unter den zehn für den Hund giftigsten Substanzen aufgeführt), mit den üblichen Anwürfen kommen: Wie kann man nur, als Tierarzt!!! Völlig verantwortungslos!!! Inkompetenter Idiot!!! Suchen Sie sich einfach was aus, geht mir glatt irgendwo weit südlich vorbei.
Fakt ist: Hunde fallen von einer sehr kleinen Menge Alkohol keineswegs tot um, sondern werden – wie wir Menschen – einfach etwas angesäuselt, was in diesem Fall genau der gewünschte Effekt ist. Wir zielen mit der weiter unten erläuterten Dosierung so ungefähr auf einen Blutalkoholspiegel von maximal 0,5 Promille!
Hunde werden, wenn sie einmal im Jahr eine minimale Menge Alkohol bekommen, sicher auch nicht zu Alkoholikern. Ich bin Pragmatiker. Ich weiß demzufolge, dass das auch ohne meine Erwähnung immer schon und häufiger gemacht wurde und wird als man denken würde. Also lenke ich es mit der untenstehenden Dosierungsempfehlung lieber in geregelte Bahnen. Damit wir uns aber richtig verstehen: Es soll absolut niemand dazu überredet werden, seinem Hund Likör zu reichen. Wer das aus welchen Gründen auch immer ablehnt, der soll es einfach lassen. Als Tierarzt ist es mir natürlich sowieso lieber, wenn Sie sich (rechtzeitig!) in Ihrer Tierarztpraxis beraten und eines der oben erwähnten, für dieses Problem zugelassenen Medikamente verschreiben lassen, denn das ist ganz klar der eigentlich korrekte Weg.
Wie soll nun der Eierlikör bzw. der Alkohol dosiert werden? Ich gebe hier (ohne Gewähr, Anwendung auf eigene Verantwortung!) mal eine leicht verständliche Anleitung, nicht zuletzt, um einer dann vielleicht doch gefährlichen Pi-mal-Daumen-Dosierung im Sinne von „Pinneken“ entgegen zu wirken:
Gewicht des Hundes bis 25 kg:
Körpergewicht in kg x 0,4 x 100 / Prozent des Alkohols = Gesamtmenge des zu verabreichenden alkoholischen Getränks in ml.
Gewicht des Hundes von 26 kg bis 50 kg:
Körpergewicht in kg x 0,3 x 100 / Prozent des Alkohols = Gesamtmenge des zu verabreichenden alkoholischen Getränks in ml.
Gewicht des Hundes ab 50 kg:
Körpergewicht in kg x 0,2 x 100 / Prozent des Alkohols = Gesamtmenge des zu verabreichenden alkoholischen Getränks in ml.
Die errechnete Gesamtmenge des zu verabreichenden alkoholischen Getränks bitte immer auf 2-3 Portionen im Abstand von ca. 2 Stunden aufteilen, so dass die letzte Gabe vor dem Höhepunkt der Knallerei um ca. 23.30 Uhr erfolgt.
Beispiel: Ein 15 kg schwerer Hund bekommt einen 20%igen Eierlikör nach folgender Empfehlung: 15 (Körpergewicht) x 0,4 x 100 / 20 (Alkoholanteil des Eierlikörs) = 30 ml Eierlikör. Davon 15 ml um 21.30 Uhr und nochmal 15 ml um 23.30 Uhr.
Diese Anleitung bzw. Empfehlung beruht auf Erfahrungswerten und stellt keine tiermedizinische Dosierungsanleitung dar. Mit maximal 0,4 g Alkohol pro kg Körpergewicht bleiben wir aber meilenweit von dem Bereich entfernt, in dem Gesundheitsgefahren vorstellbar wären. Auf mich mit meinen knapp 80 kg umgerechnet würde das etwa einem Viertele Roten, verteilt auf drei Stunden, entsprechen.
Daraus, dass für die Berechnung der individuellen Dosis der genaue Alkoholgehalt des Getränks bekannt sein muss, ergibt sich zwangsläufig die Notwendigkeit, ausschließlich handelsübliche Produkte mit ausgewiesenem Alkoholanteil zu verwenden. Hausgemachter Likör mit allenfalls zu schätzendem Alkoholgehalt ist nicht geeignet! Der Hund sollte natürlich körperlich gesund sein, was aber für die Anwendung aller anderen psychoaktiven Medikamente genau so gilt. Es empfiehlt sich dringend ein in den Wochen vor Silvester durchgeführter Alkohol-Probelauf, um die Reaktion des Hundes besser einschätzen zu können.
An dieser Stelle ein völlig ernst gemeinter Hinweis: Sollten Sie die Berechnung der empfohlenen Alkoholmenge anhand der oben genannten Formeln als unüberwindbare Hürde empfinden, können Sie offenbar nicht mit dem Dreisatz umgehen. Dann lassen Sie besser die Finger weg von Alkohol für den Hund! Und sehen Sie bitte von Mails und Nachrichten ab, in denen Sie mich dazu auffordern, die Dosis für Ihren Hund auszurechnen!
Abschließend noch ein Wort zu den so sicher wie das Amen in der Kirche wieder auftauchenden Kommentaren, in denen auf die Wichtigkeit einer langfristigen Verhaltenstherapie der Geräuschpanik hingewiesen wird: Es wird immer so dargestellt, als ob eine langfristige verhaltenstherapeutische Intervention in irgendeinem Widerspruch zu den von mir für den akuten Fall genannten Optionen stehen würde. Das ist natürlich absolut nicht der Fall. Meinen Patienten mit gravierenden verhaltensmedizinischen Problemen wird selbstredend dazu geraten, sich entsprechenden Spezialist:innen anzuvertrauen. Aber bitte schauen Sie alle mal aufs Datum! In den verbleibenden zwei, drei Wochen wird das ganz sicher nix mehr. Für mich als Tierarzt ist es eine nachgeordnete Frage, ob sich die jeweiligen Besitzer:innen früher um das Problem hätten kümmern sollen. Ich bin dazu verpflichtet, das Leiden von Tieren im Rahmen meiner Möglichkeiten so effektiv wie möglich zu lindern. Der silvesterpanische Hund hat rein gar nichts davon, wenn ich rechthaberisch darauf bestehe, dass er im vergangenen Jahr hätte einer langfristigen Therapie unterzogen werden sollen. Dem muss ich schon aktuell, also im Hier und Jetzt helfen, und da können bei extremen Fällen psychoaktive Substanzen die beste Möglichkeit darstellen.
Darüber hinaus bin ich bezüglich der Möglichkeiten, die echte panische Angst vor einer Situation wie Silvester, die in ihrer Kombination von Stimmung, Geräuschen und Geruch nun mal nur einmal pro Jahr auftritt, verhaltenstherapeutisch effektiv behandeln zu können, aus langjähriger Erfahrung heraus mehr als skeptisch. Durchgreifende Erfolge werden von den an diesem Geschäft interessierten Parteien – also von Trainer:innen und Verhaltenstherapeut:innen – zwar gerne berichtet bzw. behauptet. Mir ist aber noch nie ein echter Silvester-Paniker begegnet, der durch Verhaltenstherapie bzw. Training so weit gebessert wurde, dass er nicht mehr behandlungsbedürftig war.
Und als letzter Punkt: Was ist mit Katzen? Bei Katzen würde ich zum Verzicht auf echte psychoaktive Medikamente (und damit natürlich auch auf Alkohol!) raten. Katzen neigen viel mehr als Hunde zu paradoxen Reaktionen auf Psychopharmaka. Sie sollten Gelegenheit zum Rückzug an einen ihnen sicher vorkommenden Ort haben und dort unter möglichst effektiver Abschirmung in Ruhe gelassen werden. Pheromon-Verdampfer für die Steckdose wie Feliway könnten sich eventuell als hilfreich erweisen.
So, damit bleibt mir nur, uns allen die Daumen zu drücken, dass wir diesen für unsere Tiere so stressigen Tag wieder mal halbwegs gut hinter uns bringen und geschmeidig in das neue Jahr reinrutschen.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Ralph Rückert
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